Zielgruppenorientierung und Ständepastoral, mit der der gesellschaftlichen Pluralisierung begegnet wurde, werden nun zur „Altlast“ für die vor Ort Tätigen. Unter den Jungsenioren (im Unterschied zu den klassischen „Alten“, die am Seniorennachmittag zum Pfarrsaal gefahren werden, bis hin zu den Pflegebedürftigen) befinden sich zufriedene Vorruheständler, enttäuschte Langzeitarbeitslose, hochaktive Freiberufler, glückliche Großeltern, Singles, die nie verheiratet waren, tief religiöse, aber zunehmend auch kirchlich desinteressierte, vielleicht aber kulturell aufgeschlossene Menschen. Die Pluralisierung in diesem Fall bedeutet für die Pastoral, dass Schwerpunkte gesetzt werden müssen, dass Prioritäten und Posterioritäten zu bestimmen sind, dass im Sinne einer lebensraumorientierten Pastoral delegiert und kooperiert werden muss. Die Praxis zeigt aber, dass in Veränderungsprozessen derjenige, der notwenige Schritte (z.B. die Reduktion der Anzahl von Eucharistiefeiern oder die Zusammenführung von Katechesen im pastoralen Raum) proaktiv und zukunftsträchtig umzusetzen beginnt, dafür angefeindet und bestraft wird, im schlimmsten Falle als faul oder „untreuer Hirte“ gilt, der ohne Not die „Weide eng macht“ und die „Herde“ im Stich lässt.
Viel mehr als Theologen in Referaten und Abteilungen eines Ordinariates klagen Territorialseelsorger über mangelnde Freiräume zum Experimentieren. Eine Gemeinde, die sich treu Jahr für Jahr an den vorgegebenen Diözesan- und Weltkirchenmottos „abarbeitet“36, ist irritiert und überfordert, wenn nun von der Diözesanleitung eine „Gemeindeanalyse“, „lebensraumorientierte Schwerpunktsetzungen“ und „Kooperationsvereinbarungen“ erwartet werden. Neben diesen Interventionen von außen ersinnen die praktischen Theologen als die von der Gemeinde freigestellten Denker ständig Modelle und neue Anregungen für die Gemeinden. „Dieses Hase-Igel-Spiel ermüdet auf Dauer jeden Praktiker.“37
Die diözesanen Themenvorgaben des „zweiten Kirchenjahres“ halten in Bewegung, ohne zu bewegen. Das „zweite Kirchenjahr“ symbolisiert die Gemeinschaft mit der Diözese und der Weltkirche, birgt aber die Gefahr für dauerhaften „thematischen Stress“. Die bunt zusammengewürfelte, oft ohne innere Logik zusammengestellte Mischung der Plakate im Schaukasten, die gehäuften Aufrufe zu Spenden und Sonderaktionen im Pfarrbrief und schließlich die mühsam „gedehnten und gebogenen“ Predigten, die versuchen das vorgeschriebene Sonntagsevangelium mit dem jeweiligen Diözesanmotto zusammenzubinden, sind mehr Zeugnis von Überforderung und Hilflosigkeit, denn von lebendiger Vielfalt.
Nicht nur die Praktiker in den Gemeinden verzweifeln an dem Vielerlei und manchmal auch an der Banalität der Alltagsanforderung. Auch Leitungsverantwortliche der Diözesen leiden unter dem Sog des Alltagsgeschäftes, dem operationalen Druck, unter welchem theologische Reflexion, das Entwerfen eines langfristigen Veränderungsmanagements und Lenkungsstrategien zu kurz kommen.
2.2 Spiritueller Konsumismus und Synkretismus – Das Panorama neuer Spiritualitäten als Herausforderung an den Seelsorger
„Innerhalb der offenen und keineswegs eindeutigen Begrifflichkeit ‚neue Religiosität‘ ist im Einzelnen zu differenzieren, z.B. in historischer Perspektive zwischen Religionen und Naturreligionen, in phänomenologischer Hinsicht zwischen religiösen Gemeinschaften und religionsartigen Erscheinungen, in theologischer Hinsicht zwischen Strömungen und Gruppen, die für sich selbst Christlichkeit beanspruchen und solchen, die sich dezidiert ohne Bezugnahme auf die christliche Tradition verstehen.“38
Charakteristisch für postmodernes religiöses Konsumverhalten ist, dass einzelne religiöse Elemente und Rituale eklektisch aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgenommen und in lebenspraktischer Hinsicht zeitweilig aufgegriffen und ausprobiert werden. „Die Postmoderne ist synkretistisch, man baut sich aus verschiedenen Elementen eine Patchwork-Religion zusammen. Wahrheit hat in der Postmoderne keinen hohen Wert. Das führt dazu, dass es beliebig ist, wie man sich religiös orientiert, es muss nur etwas bringen. Das führt dazu, dass man seine Lebensentscheidungen einer Wahrsagerin überantwortet, die aus Tarotkarten oder astrologischen Büchern herausliest, ob man mit einem Partner zusammenbleiben, Kinder bekommen oder nicht bekommen soll.“39
„Was wir nicht alles sein sollen: ‚Sinnagentur für höhere Werte‘, ‚soziale Feuerwehr‘, die stets mit ihren Löschzügen zur Stelle ist, wenn es irgendwo brennt, ‚Feier-Institution‘, die den tristen Alltag verschönert und Glanz von oben auf die harten Realitäten des Lebens hier unten fließen lässt ...“40 Der Klinikseelsorger muss davon ausgehen, dass seine Begleitungsangebote wie Gebet und Krankensalbung von den Patienten oft gleichwertig neben anderen Angeboten aus dem psychosozialen Bereich ergriffen und „genutzt“ werden. Die Kurseelsorgerin weiß, dass ihr Angebot von religiösen Gesprächskreisen und Bibelabenden mit esoterischen und Heilungsund Wellnessprogrammen, pseudoreligiösen Beratungs- und Meditationsangeboten konkurriert. Von Gongmeditation bei Räucherstäbchen bis zu Heilungsritualen in der Gruppe, von Qi Gong über T’ai chi bis Feng Shui finden immer mehr Angebote in Kursprogrammen und zunehmend auch im Bildungsbereich christlicher Bildungshäuser gleichrangig ihren Platz.
Der „Zwang zur Häresie“ (Peter Berger), der Druck ständig auswählen zu müssen, bestimmt die Denk- und Lebensform. Neue Religiosität bedeutet zudem, dass vieles miteinander verbunden und vermischt wird.41 Theistische und pantheistische Spiritualität weisen in Deutschland eine deutliche Nähe zu den Kirchen auf. Für Westdeutschland ist „ein stark durch die großen Kirchen geprägter, asymetrischer religiöser Pluralismus“ charakteristisch. Ein großer Teil des religiösen Pluralismus spielt sich unter dem Dach der großen Kirchen ab. So reicht das dem Christentum eher ferne pantheistische Religionsmuster offensichtlich bis weit in die Reihen der Kirchenmitglieder hinein. Die typischen ‚Komponisten‘ beider Spiritualitätsmuster lassen sich in der Regel unter den Kirchenmitgliedern und nicht unter den Konfessionslosen finden.“42 Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass die Kirchenmitgliedschaft selbst das individuelle religiöse Erleben letztlich nicht eindeutig bestimmt.“43
Der Einzelne wird nach den quantitativen Untersuchungen des Religionsmonitors zum religiösen „Komponisten“; man ist, so belegen es die qualitativen Interviews dieser Untersuchung, „offensichtlich daran gewöhnt, in einer Welt zu leben, die mit Inkonsistenzen zurechtkommt. Man darf dieses Ergebnis nicht unterschätzen: Inkonsistenz ist hier kein Mangel, sondern ein Zeichen dafür, wie sehr Bewohner einer modernen Gesellschaft an Inkonsistenz gewöhnt sind und letztlich vieles für kommensurabel halten: Es lassen sich dann christliche und esoterische, buddhistische und animalistische Formen miteinander kombinieren, ohne dass damit die einzelnen Formen diskreditiert werden.“44
In der Gemeindepastoral sind diese Szenen in „Randgesprächen“ erspürbar, wenn z.B. von treuen Kirchgängern zugegeben wird, dass die eigentliche Kraft aus dem täglichen Joga kommt, wenn ein Teil der Pfarrgemeinderäte lieber zu Jazzgottesdiensten am Sonntagabend geht oder das Herz der Lektorin für die Zenmeditation schlägt. Dieses Phänomen belegen auch die Ergebnisse des Religionsmonitors. „Unser empirisches Material zeigt aber, dass innerhalb des Religionssystems gewissermaßen unorganisierte und unorganisierbare Formen religiösen Erlebens sich etablieren - auch bei denjenigen, denen intensives religiöses Erleben alles andere als fremd ist.“45 Und für pastorales Personal noch schmerzlicher: „Je intensiver sich die je eigene Religiosität darstellt, desto innerlich unabhängiger scheinen Personen von ihrer Kirchlichkeit zu sein.“46
Das Phänomen der „Adaptiven Navigation“ wird von den Verfassern der Sinusstudie verwendet, um die Grundstimmung junger Milieus zu beschreiben. Es geht nicht mehr um eine auf dauerhaften Sinn ausgerichtete Suche. Es geht nicht darum, mithilfe geistlicher Übungen und Begleitung den einen lebensübergreifenden Sinn zu entdecken. Ziel ist nicht, den eigenen lebenslangen Weg zu entdecken. Jede Lebensphase, beruflich und privat, hat ihren eigenen Sinn, den es zu entdecken gilt, ohne Anspruch auf dauerhafte Sinnstruktur. Dies bedeutet eine Rollenneuformatierung für den Seelsorger, weil es nicht mehr um lebenslange