Blasberg-Kuhnke verweist auf das bleibende Dilemma, als Repräsentant einer Institution und als kirchlicher Rollenträger in dieser kirchlichen „Großwetterlage“ den eigenen theologischen und pastoralen Überzeugungen (oder Zweifeln) treu bleiben zu können. Misstrauen und Ablehnung oder Desinteresse bekommen die pastoral Handelnden in ihrer Person und Rolle zu spüren. „Die Spannung von (notwendiger) Identifikation mit der Kirche und (ebenso notwendiger) Distanz wird gegenwärtig wohl nicht leichter, sondern vielmehr schwieriger und belastender ...“48 Aggression und Ärger oder Trauer und Depressivität können Reaktionen auf das wahrzunehmende Desinteresse vieler Kirchenmitglieder an kirchlichen Themen und Angeboten sein. Auch kann nicht verschwiegen werden, dass das spirituelle Spektrum der Hauptamtlichen in der Kirche selbst eine große Bandbreite umfasst. Unter katholischen Religionslehrern und Pastoralreferenten finden sich praktizierende Zenbuddhisten, Berührungspunkte mit schamanischen Heilungsriten erlebt man auch im Kreis kirchlicher Kur- und Klinikseelsorger und Seelsorger geben in Berufsgruppentreffen und internen Kreisen zu, dass sie sich selbst von vielen liturgischen Feiern des Kirchenjahres als Privatperson kaum ansprechen lassen. „Je intensiver unsere Interviewpartner ihr eigenes Glaubensleben erleben, desto mehr geraten sie in innere Distanz zur kirchlichen Praxis, ohne diese freilich generell abzulehnen.“49 Das Resümee des Soziologen Armin Nassehi nach Auswertung des qualitativen Materials des Religionsbarometers betrifft hauptberufliche Seelsorger in zweifacher Hinsicht. In ihrer Berufsrolle als Gemeindepfarrer oder Pastoralreferent leiden sie unter der spirituellen Abwanderung der Gläubigen; sie selbst wagen ihre eigenen außergemeindlichen Suchbewegungen kaum offen zu kommunizieren, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Der Synkretismus, der insbesondere in Gemeinden erlebt wird, korrespondiert mit den „verschiedenen Seelen“ in der Brust manches Gemeindeleiters, der sich jedoch – zumindest in den konservativen Milieus – dem Anspruch ausgesetzt sieht, offizielle Kirchenlehre vertreten und verkünden zu müssen. Seelsorger als Vertreter einer Institution, welche als sinnstiftende Instanz kein Sinnmonopol mehr besitzt, weil auch die Erwartungen bezüglich Konsistenz und konfessioneller Eindeutigkeit gesunken sind, müssen sich selbst neu definieren. Hauptamtliche in der Pastoral als offiziell Beauftragte stehen vor neuen Herausforderungen, wenn „Inhalte in den Hintergrund geraten, weil sie letztlich nicht für sich zählen, sondern nur in der Form, wie sie authentisch eingesetzt werden können.“50 Neben fachlich theologischer Auskunftsfähigkeit gewinnt die personale und soziale Kompetenz im Glaubensvermittlungsgeschehen an Bedeutung. Es geht um Diskursund Konfliktfähigkeit.
2.3 „Cocooning“ und „Clanning“ oder: Warum niemand zum Pfarrfamilienabend kommt
„Wer die Woche über unterwegs ist, braucht eine Zufluchtsstätte, wo es ihm gut geht, der richtet sich sein Zimmer, seine Wohnung, sein Haus so ein, dass er dort alles hat, was er braucht, um sich von der Welt zu erholen, ein Kokon. Der Markt hat sich darauf eingestellt: Die Gartencenter blühen und bieten alles, um aus den paar Beeten rund ums Haus oder dem Balkon ein Paradies zu machen mit Brunnen und allem drum und dran. Mit Beamer richtet man sich ein Heimkino ein. Im Chatroom nimmt man Kontakt zu Freunden auf und der Italiener um die Ecke bringt die Pizza ins Haus.“51 Mit dem Wort „Cocooning“ wird ein soziokultureller Trend beschrieben, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Die Wohnung wird zum schützenden „Kokon“ angesichts der Rollenpluralität, des modernen Nomadentums durch berufliche Mobilitätszwänge.52 Das Phänomen des „Cocooning“ bedeutet eine Herausforderung für die Gemeindepastoral, die darauf angewiesen ist, dass sich Menschen am Feierabend und Wochenende aus dem Haus begeben, um (nicht immer ästhetisch gestaltete und oft nicht einmal adäquat beheizbare) Pfarrsäle aufzusuchen.
Die Gemeindebilder – manchmal auch Gemeindeideologien – der 50er Jahre (Pfarrfamilie) und der aktiven Gemeinde der 70er Jahre (Wer mitmacht erlebt Gemeinde) erweisen sich nicht als tragende pastorale Antworten für die gegenwärtige Pastoral; auch das idealtypische Gemeindemodell der Personal- oder Basisgemeinde in der deutschen Kirche ist im Territorium nicht zu verwirklichen. Ein Grund für Enttäuschung und Verunsicherung von haupt- und ehrenamtlich Aktiven in den Gemeinden liegt in der „nach-konziliar gemeindlich-familiaristischen Kirchenbildung“53, welche vom Leitbild eines „hierarchiefreien Raumes voller (Pfarr-)Aktivitäten, (Familien-)Kreise und voller Kommunikation in, zumeist, freundschaftlicher Halbdistanz“54 ausgeht. Auffällig ist, dass sich in den konkreten Planungen im Kirchenjahr die Kernaktivitäten nach wie vor auf das „Familienmodell“ beziehen. Der „Pfarrfamilienabend“ steht als verpflichtende Veranstaltung in der Pfarrgemeinderatssatzung vieler Diözesen, die Pfarreiwallfahrt setzt auf das Ideal der Pfarrfamilie, die unterwegs ist. Der Familientag im Sommer wird mit einfachen, fröhlich illustrierten Plakaten und Handzetteln beworben, auf denen „Alt und Jung“ geladen werden. Das Modell der Pfarrfamilie geht vom priesterlichen Vater aus, den es de facto nicht mehr vor Ort geben wird. Auch die Pfarrkinder – überwiegend die Frauen – entziehen sich der Pfarrfamilie. Religiöser Erfahrungsort wird nicht mehr nur in einem zugewiesenen sozialen Raum gesucht. Die alte Einheit von sozialem Beziehungsraum, lokalem Nahraum und gesellschaftlichem Organisationsraum löst sich auf. Der Alltag spielt sich in verschiedenen Szenerien ab, als häufiger Wechsel von Settings, „Bühnen“ und „Kostümen“. Intervalle und Brüche geben den Takt an, verschiedene Welten werden miteinander konfrontiert und relativieren sich gegenseitig. Die Pfarrei ist ein Ort unter vielen, der auf seine Relevanz hin je neu befragt wird.55 Es geht in Zukunft um mehr als um marginale Korrekturen pastoraler Abläufe.
Menschen suchen je nach individuellen Bedürfnissen wechselnde und unterschiedliche Formen des Christseins, zunehmend auch an Orten jenseits von Pfarrgemeinden. „Letztere können den differenzierten Bedarf aufgrund ihrer eingefahrenen Strukturen bzw. Praxisformen und vor allem aufgrund ihrer territorialen Bindung an einen Ort nicht befriedigen; sie haben ihre Funktion als zentraler Ort religiöser Praxis verloren. Die Pfarrei-Seelsorger versuchen zwar angesichts dessen, ihr Angebot zu vermehren oder die Attraktivität desselben zu erhöhen, erleben aber umso mehr Frustration.“56
Der soziokulturelle Trend des Clanning zeigt gerade, dass „nicht Gemeinschaft schlechthin dem Individualisierungstrend anheimgefallen ist, sondern neue Formen der Gemeinschaftung gesucht und realisiert werden.“57 Kirchliche Rollenträger legen auch selbst Wert auf die eigene individualisierte Lebensform, wollen sich selbst immer weniger in „familiare“ Kirchenstrukturen auf Pfarrei-, Verbands- oder Diözesanebene einbinden lassen, leiden unter mangelnden Freiräumen für die eigene Person und Familie und schätzen nationale und internationale Vernetzungen, um den Blick zu weiten.
„In Zukunft werden Sozialformen christlichen Lebens bzw. kirchlicher Praxis, die eine spezifische Lebensform im Blick haben, auf steigende Nachfrage treffen, weil sie den ausdifferenzierten Lebensorten der Menschen heutiger Gesellschaft entsprechen. Daher wird neben der klassischen Kirchengemeinde eine Vielfalt kirchlicher Sozial- und Organisationsformen notwendig werden. Die praktisch-theologische Konzeption von Gemeinde wird sich wohl noch mehr als bisher darauf einstellen müssen, dass diese Pluralität der Sozialformen eine Normalität der gesellschaftlichen Präsenz von Kirche und christlichem Glauben darstellt.“58
Es ist selbstzerstörerisch und demotivierend, nach jeder mager besuchten Veranstaltung aufs Neue den „fetten Jahren“ und den „Schlaraffenländern“ der Pastoral nachzutrauern. Manche Kerngemeinde versteht sich selbst als kleine aufrechte Widerstandstruppe und fühlt sich vom hauptberuflichen Personal verraten, wenn dieses eine weitere Perspektive einbringt. Gemeindeleitung meint nicht nur die Erledigung formaler Leitungsaufgaben, sondern das Aufzeigen pastoraltheologischer Perspektiven. Die Fixierung auf die Gemeindepastoral muss aufgelockert werden; man muss sich ohne Abwertung der „punktuell Aktiven“ auch den pastoralen Zwischenräumen und Gelegenheitsstrukturen in der Pastoral widmen. Die Leitungspersonen müssen Gemeinden darauf vorbereiten