2.4 Die unbekannte Mehrheit – „Kasualienfromme“ als Anfrage an Seelsorgekonzepte
Ein immer größer werdender Teil der getauften Katholiken erfüllt offenkundig die für Katholiken bestehende, in can. 1247 CIG 1983 normierte Sonntagspflicht nicht mehr. Die Mehrheit der Katholiken – so die Untersuchung der sog. „kasualienfrommen“ Christen – betrachtet weder die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.59
In der Erzdiözese Bamberg wurde zusammen mit dem „Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur“ der kulturwissenschaftlichen Fakultät in Bayreuth eine Untersuchung durchgeführt, die einen tiefen Einblick in die Lebens- und Glaubenswelt von Katholiken bietet. „Die wichtigste Erkenntnis dieser Studie liegt wohl darin, deutlich gemacht zu haben, dass Menschen, die sich äußerlich vom kirchlichen Milieu deutlich distanzieren, dennoch latent ein Leben führen, das vom Glauben und Wirken der Kirche (Gottesvorstellung, Gebet, Moral, Einstellung zum Leben und Sterben etc.) geprägt ist. Diese Katholiken aktualisieren punktuell an den Lebenswenden oder bei besonderen Ereignissen in und mit der Kirche ihr Katholischsein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Elemente kirchlich-christlicher Erziehung als ‚schöne Erinnerung‘ präsent sind.“60 Ein Großteil der Katholiken nimmt nicht mehr am intensiven Angebot gemeindlichen Lebens teil, hat aber großes Interesse, an Lebenswenden und zu bestimmten Anlässen kirchliche Begleitung zu erhalten. Diese „unbekannte Mehrheit“ der Katholiken, die „Kasualienfrommen“, sind für die Kirche eine pastoraltheologische Herausforderungen. Die Kirche funktioniert offenbar anders, als sie sich selbst definiert. Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, „dass sich die kasualienfrommen Christ/inn/en klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen die Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.“61 Für das Seelsorgepersonal in den Pfarreien bedeutet Kasualienfrömmigkeit eine Infragestellung des eigenen Auftrags. Die katholische Kirche – so wünschen es vor allem die in ihr tätigen Gemeindeseelsorger – möchte als Gemeindekirche funktionieren, wird aber von der Mehrheit der getauften Gemeindemitglieder als rituelle Lebensbegleitungskirche genutzt.
Schmerzhaft ist dabei der Abschied von der stillschweigenden Vorstellung, „innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen.“62 Zwei Reaktionsmechanismen sind in diesem Fall typisch für viele Abwehrhaltungen gegenüber Veränderungen in der Glaubenspraxis der Mitglieder: Zum einen besteht die Gefahr, die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien einzuordnen. Ebensolches geschieht im Umgang mit außerchristlichen Spiritualitäten, welchen dann im weitetesten Sinne christliche Handlungsintentionen zugedeutet werden, um z.B. esoterische Heilungs- oder Selbsterlösungspraktiken als Angebot der Erwachsenenbildung in einem katholischen Bildungshaus zu legitimieren. Eine Vereinfachung im Umgang mit Kasualienfrommen wäre aber auch die heimliche Disqualifizierung derer, die an Weihnachten mit festen liturgischen Vorstellungen die Christmette besuchen oder eine traditionelle Hochzeit sehr feierlich wünschen.
Ein anderer Reaktionsmechanismus im Umgang mit Veränderungen ist die „Exkommunikation“ der „Abweichler“ um sich mit den „Abtrünnigen“ nicht auseinander setzen und sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Beide Abwehrstrategien bestimmen das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts neuer Phänomene der Spiritualität und Lebensform. Das Verständnis des „Katholischseins von der Wiege bis zur Bahre“ ist für viele Katholiken nicht mehr gültig. Kirchenmitgliedschaft und Teilnahme am kirchlichen Leben gehören für viele getaufte Gemeindemitglieder nicht selbstverständlich zusammen.
Die Entscheidung kirchendistanzierter Menschen anlässlich wichtiger Lebenspassagen den Kontakt mit ihrer Kirche und den Sakramenten zu suchen, ist Ausdruck der Hoffnung, Lebensdeutung an den Übergängen, Schutz, Segen und Halt zu finden. Dieses „Sympathisanten-Umfeld“ sieht im Priester vorrangig die sakramental-mystagogische Kompetenz. Die Dimension des Heiligen und des Geheimnisses wird gerade in Grenzerfahrungen in bestimmten kultisch-liturgischen Zeichen, Gesten, Handlungen vergegenwärtigt. Es handelt sich um ernsthafte und eigenständige Konzepte der Sinngebung und Lebensbewältigung, die sich im Unterschied zu früheren katholischen Frömmigkeitsentwürfen von der Kirche (als Institution) weitgehend gelöst haben und im privaten Bereich verortet werden. Auch wenn die kasuale (Wieder-)Begegnung mit der Kirche als positiv geschildert wird, kommt es nicht mehr zu einem dauerhaften Kontakt. Die „kirchlich-kasuale“ Beteiligung ist für viele ein integraler Bestandteil eines umfassenden Frömmigkeitsentwurfes.
Die beschriebene „Kasualien-Frömmigkeit“ hinterfragt die meisten Konzepte von Gemeindeaufbau und damit das Selbstkonzept vieler „Gemeindebauer“. Anerkennung erfährt pastorales Personal durch gut gestaltete Kasualienfeiern oder sozialpädagogische Leistungen in der Katechese und Schule. Die Legitimität dieses Anspruchsverhaltens wird in der Kirchensteuer gesehen. Der Berufsstolz eines Pfarrers oder Diakons macht sich jedoch gerade nicht an diesen Dienstleistungen fest.63 Pastoralreferenten gestalten theologische Vortragsabende, der Pfarrer bemüht sich um eine ansprechende Erklärung des Firmsakraments an verschiedenen Elternabenden oder gestaltet eine Reihe von Weggottesdiensten im Rahmen der Eucharistiekatechese. Der Großteil der Katholiken lebt jedoch eine „natürliche Religiosität“. „Ohne viel mit dem trinitarischen, christologischen und ekklesiologischen Credo anfangen zu können, ohne es aber auch direkt und dezidiert abzulehnen, möchten sie einfach nur bei bestimmten Anlässen für sich und ihre Kinder den Segen Gottes erbitten.“64 Das Interesse an Kirche bezieht sich auf die Kasualie selbst und bleibt auf Vorgänge rund um das kirchliche Ritual begrenzt. Trotz positiver Erfahrungen mit Kirche, im Erleben z.B. einer Trauung, kommt es zu keiner dauerhaften Besuchspraxis der sonntäglichen Eucharistiefeier. Ausschlaggebendes Kriterium ist immer die persönlich gefühlte biographische Betroffenheit, welcher besonders in Kasualfeiern Rechnung getragen werden soll.
Wie bewahrt eine Ortsgemeinde ihre Identität, wenn die Mehrheit nur ab und zu „tanken“ will? Wie bewahrt ein Pfarrer seine Kraft, wenn immer mehr Menschen ihn nur an den „Übergängen“ liturgisch in Anspruch nehmen oder diakonische Begleitung „abrufen“, wenn Lebensentwürfe zu zerbrechen drohen? Wenn die meisten Menschen nur an den Lebensübergängen um seelsorglich-rituell-liturgische Begleitung nachfragen, sind Seelsorger nicht mehr als Hirte gefragt. Die Rolle des Seelsorgers als liturgischem „Anbieter“ verändert sich hin zum Gastgeber, der ohne eigene Kränkung offen dafür ist, Menschen an gewissen Wendepunkten zu begleiten, ohne dauerhaft erwiesene „Treue“ zum Gemeindeleben erwarten zu können.
Kränkungspotenzial für Seelsorger liegt darin, dass der Kirche kaum mehr eine notwendige Funktion für die persönliche Alltagsfrömmigkeit beigemessen wird. „Insofern die Kirche immer weniger als spirituell relevantes Moment für den Alltag aufgefasst wird, ist dann doch von einem Wandel im Kirchenbild zu sprechen. Vor dem Hintergrund der neueren Sozialgeschichte des Katholizismus dürfte dieser Befund als signifikantes Novum zu bezeichnen sein.“65 Die teilweise geäußerte positive Identifikation mit der Kirche trug bei den Befragten meist keine allgemeinen, sondern „okkasionelle“ Züge. Den Kasualien, so Först, messen die Befragten Bedeutsames zur Lebensorientierung bei, „besonders hinsichtlich einer von Unwägbarkeiten gezeichneten Zukunft. Verglichen dazu, spielt die Institution Kirche, welche die Kasualien ausrichtet, eine weit untergeordnete Rolle.“66
Der Verlust der kirchlichen „Deutungshoheit“ schmerzt Katecheten, die in der Vorbereitung und Gestaltung