Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hildegard Wustmans
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060312
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sind in jedem Fall auch ein Zeichen der Verhältnisbestimmung von Kirche und Frauen.

      Vor diesem Hintergrund werden in den weiteren drei Unterpunkten spezifische Aspekte in den Blick genommen, die eine Bedeutung für die Schaffung von Balancen gewinnen können. Im ersten Punkt geht es darum, die Perspektive nicht nur auf das Gegenwärtige und Vergangene zu richten, sondern im Jetzt schon Spuren für eine mögliche Zukunft zu benennen. Dies geschieht mit dem Ziel, neue Perspektiven in die Pastoraltheologie einzubringen, die sich auf ein unerhörtes Problem beziehen. Diese Pastoraltheologie orientiert sich an der Gegenwart pastoraler Vollzüge, sofern sich in ihnen Veränderungen andeuten oder Probleme sichtbar werden. Deshalb folgt an dieser Stelle der Bezug auf die Größen von Heute und Morgen, von Gegenwart und Zukunft.

      Im zweiten Unterpunkt wird ein erstes Mal auf das Denken von Michel Foucault Bezug genommen und die Relevanz des Denkens des Außen in den Mittelpunkt gerückt. Wer etwas über die Strukturen und Muster von Gesellschaften und Institutionen erfahren will, muss nach Foucault an den Rand gehen, an jene Orte, wo die ausgeschlossenen Personen und Diskurse auszumachen sind. Dieser Logik folgt die Arbeit, wenn sie ihren Fokus auf Frauenliturgie- und -ritualgruppen legt, die sich allesamt am Rand der Kirche bzw. schon darüber hinaus verortet haben. Aus diesem Grund wird das Außen als Kategorie der pastoraltheologischen Wissensform eingeführt.

      Im dritten Unterpunkt wird dann der Blick auf Rituale allgemein gelegt. Diese Daten sind erforderlich, um Rituale auch tatsächlich in ihrem Sinn und ihrer Bedeutung einschätzen zu können.

      1.2.1.1 Die Zukunft der Kirche zeigt sich im Heute. Eine ekklesiologische Balance

      Seit Anfang der Moderne hat die katholische Kirche sich als Religionsgemeinschaft organisiert. Mit dem Augsburger Frieden (cuius regio eius religio) stellt sich Kirche als politikfähige societas perfecta vor, die bis heute mit Konkordaten und kodifiziertem Kirchenrecht arbeitet. Sie schafft sich mit einem eigens an Seminaren ausgebildeten Priesterstand ihr Führungspersonal (vgl. Sander 2002, 83, 90). Sie gibt sich eine durchsetzungsfähige Organisationsstruktur mit Territorialpfarreien und Diözesanbehörden, die in der römischen Kurie kulminiert. Sie normiert den Glauben in eine diskursfähige Sprache, die in Lehrentscheidungen formuliert und mit den Traktaten der Dogmatik eingeübt wird. „Die societas perfecta ist der politische Selbstanspruch der Religionsgemeinschaft Kirche gegenüber den anderen Mächten und Gewalten. […] Kirche als societas perfecta läuft sowohl auf ihre staatliche Privilegierung als Rechtsgröße hinaus wie auf einen gesellschaftlichen Vorrang im Hinblick auf die Werteorientierung“ (ebd., 89).

      Wie jede Religionsgemeinschaft lebt auch die Kirche dabei auf Machterfahrungen hin. Es sind Ereignisse wie Papstwahlen, Kardinalsernennungen, Pontifikalämter, Primizfeiern, Heilige Jahre, internationale Wallfahrten, Weltjugendtage, an denen Bedeutung, Pracht und gesellschaftliches Gewicht der kirchlichen Religionsgemeinschaft demonstriert werden (vgl. Sander 2002, 93 f.). Mit diesen Instrumenten kommuniziert sie nach innen, in ein System, in dem auf konfessionelle Hegemonie geachtet wird und dem für alle Lebenslagen und Bereiche etwa Verbände zur Verfügung stehen: Katholische Arbeitnehmer/-innenbewegung (KAB), Kolping, Bund Katholischer Unternehmer (BKU), Katholische Junge Gemeinde (KJG) und Katholische Frauen Deutschlands (kfd) usw. Darüber hinaus erhebt die Kirche Rechtsansprüche gegenüber dem Staat, die in Konkordaten festgehalten und gesichert sind. Mit diesen Instrumenten strukturiert sie Religion und das Leben ausschließlich ihrer Gläubigen (vgl. Sander 2006, 458). „Diese Kirche erhebt einen breiten politischen Rechtsanspruch gegenüber dem Staat, einen umfassenden moralischen Führungsanspruch gegenüber der Gesellschaft und einen lebenslänglichen Seelsorgeanspruch gegenüber der Person“ (ebd., 458). Diese Religionsgemeinschaft übersteht die Wirren der Zeiten – den Absolutismus, die Aufklärung und den Kommunismus. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass beginnend mit der Entfremdung der Arbeiter, mit dem Werteumbruch Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts und in einer globalisierten Welt die Macht dieser Religionsgemeinschaft verdunstet (ebd., 458). Aktuell wird dies durch einen fortgesetzten Trend des Mitgliederrückgangs deutlich, aber auch in dem massiven Rückgang finanzieller Ressourcen. Daran wird deutlich, dass sich die Zeiten geändert haben. Die Instrumente, mit denen Kirche ihre Religion strukturiert hat, greifen heute vielfach nicht mehr. Diese Religionsgemeinschaft verliert an Macht und Einfluss. Sie kann auf keinen Absolutheitsanspruch mehr bestehen und sieht sich in die Konkurrenz mit anderen Religionsgemeinschaften gestellt. Gleichzeitig fordern innerkirchlich unerhörte Minderheiten (Frauen, Homosexuelle) Rechte ein. „Für die Kirche bedeutet das eine doppelte Ohnmachtserfahrung: Säkularisierung und religiöse Pluralität“ (Sander 2002, 92). Und es zeigt sich, wie schwer sie sich tut, angesichts dieser Gegebenheiten Strategien für die Zukunft zu entwickeln.

      Pluralität und Heterogenität im Innen wie im Außen sind daher der Rahmen der Kirche und sie wirken in ihre institutionellen Bereiche. Sie steht im Dienst der Traditionen und der Ordnung. Aber Kirche ist auch und in besonderer Weise dazu da, den Menschen in ihrer Zeit und vor Ort zu dienen. So muss es fortdauerndes Anliegen und Ziel sein, in Raum und Zeit taugliche Orte zu schaffen und zu prägen, an denen Menschen der Hoffnung und der befreienden Macht Gottes begegnen können (vgl. Sander 2002, 121). In den Ohnmachtserfahrungen von Menschen kann die Kirche zu Orten finden, an denen sich im Heute ihre Zukunft zeigt. An diesen Orten zeigt sich nicht die Religionsgemeinschaft Kirche, sondern Kirche als Pastoralgemeinschaft. „Der Weg der Macht, den die Pastoralgemeinschaft geht, entsteht nicht aus ihr heraus, sondern aus der Macht in den Gesellschaften von heute, allerdings aus dem verworfenen und verschämten Teil dieser Macht, der Ohnmacht. Die Pastoralgemeinschaft Kirche sucht nicht die Ohnmacht, sondern gerade jene Macht, die Menschen aus der Gewalt von Ohnmacht herausführen kann. […] Es ist eine Erfahrung Gottes, der sich als erlösende und befreiende Tätigkeit einer Macht aus der Ohnmacht offenbart. Diese bedrängende Erfahrung gehört zur Kirche. Sie kann ohne sie nicht existieren. Diese Erfahrung erreicht die Kirche, indem sie durch ihre religionsgemeinschaftliche Form hindurchgeht“ (ebd., 27). Und ein solcher exemplarischer religionsgemeinschaftlicher Ort sind Frauenliturgiegruppen.

      In unserer Gesellschaft haben Menschen eine Sehnsucht nach Religion, sie suchen Religion, aber nicht mehr zwingend bei den Kirchen. „Was überwunden schien, kehrt zurück. Was als veraltet galt, macht dem Neuen den Rang streitig. Nahezu alle Bereiche von Kultur und Gesellschaft sind von dieser Dialektik geprägt. Auch die Religion macht hier keine Ausnahme. Hinsichtlich ihrer sozio-kulturellen Signatur lassen sich sowohl Prozesse der Säkularisierung und zugleich der Respiritualisierung ausmachen. In den weitgehend säkularisierten Gesellschaften (West- und Mittel-)Europas tritt sie vor allem in ihren lebenspraktischen Äußerungen, im Bereich lebensweltlicher Sinnfmdung und Daseinsgestaltung wieder in Erscheinung. Je unübersichtlicher und vertrauter eine von ständigen Innovationen geprägte Gesellschaft wird, umso notwendiger werden offenkundig kulturelle Widerlager, die Wirklichkeitsvertrautheit, Biographiekohärenz und Identitätsvergewisserung ermöglichen. Unbestreitbar sind dagegen Funktions- und Bedeutungsverluste auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für die institutionellen Ausprägungen religiöser Weltdeutungen. Mit weltanschaulich pluralen Gesellschaften sind offenkundig nur pluralitätsfähige religiöse Großinstitutionen kompatibel. Den bestehenden religiösen Körperschaften fällt es gleichwohl konstitutionell schwer, in ihrem Binnen- und Außenverhältnis produktive Umgangsformen mit religiöser und weltanschaulicher Pluralität auszubilden“ (Höhn 2004, 15). Menschen wünschen sich Rituale an Schwellen und in prekären Situationen ihres Lebens, aber sie nehmen mehr und mehr freie Ritualanbieter/-innen in Anspruch (vgl. Fincke 2004).

      Schon an diesen beiden Punkten wird deutlich, dass die Kirchen ihr Monopol auf dem Gebiet von Religion und Ritual verloren haben. Diese Faktenlage ist ernüchternd und enttäuschend. Sie legt die kirchlichen Defizite in der Darstellung des Glaubens frei. Was Kirche sagt und was sie tut, ist für sie selbst sinnvoll, aber im Außen ihrer selbst vielfach bedeutungslos. Sie benutzt binnenkirchliche Sprachspiele und sollte sich doch auf die Suche nach einer neuen Sprache und nach Zeichen begeben, die die Menschen hier und heute brauchen und verstehen. Die Kirche steht vor der Aufgabe, eine neue Grammatik zu lernen und das Verstummen der Unerhörten wahrzunehmen und ins Wort zu bringen. Dadurch, dass die Kirche den/dem Unerhörten Repräsentanz gibt, kann sie zu ihrer eigenen Berufung finden: allen Menschen die Frohe Botschaft zu verkünden.