Rituale lassen Einzelne mit den anderen der Gesellschaft in Verbindung treten und soziale und natürliche Wirklichkeit überschreiten. Im Fußballspiel sind die Fans einer Mannschaft alle gleich. Im Gottesdienst sind die Gläubigen unabhängig von ihrem sozialen Status in der Gesellschaft eine feiernde Gemeinschaft, sie sind versammeltes Volk Gottes. Im Ritual ist temporär diese Überschreitung gegeben, welche die normale Ordnung der Dinge um der eigenen Lebendigkeit willen auch braucht. Neben den vielen Orten, an denen Rituale präsent sind, kommt ihnen doch vor allem (in den individuellen Biografien wie auch im Zusammenleben von Gesellschaften) eine besondere Bedeutung in Situationen des Umbruchs zu (vgl. Haunerland 1999, 284). Dies sind vor allem Situationen und Begebenheiten, wo ein Status quo als Gesamt von Regeln, Erwartungen, Verhaltenszuschreibungen an seine Grenzen stößt, Akzeptanz verliert und die Zeichen der Zeit nicht begreift. Es beginnt dann unweigerlich eine neue Phase mit neuen Erwartungen und Verhaltenszuschreibungen (z. B. lebensgeschichtliche Brüche, Übergang von Jugend- zum Erwachsenenalter, Geburt, Tod, Scheitern von Beziehungen, Übernahme einer [neuen] Berufsrolle) (vgl. van Gennep 1999, 15).
Im Ritual wird der Zwischenraum zwischen zwei Phasen begehbar. In dieser Schwellenphase zwischen Verlassen des alten und Angliederung an den neuen Zustand wird das Andere der alltäglichen Ordnung als „Anti-Struktur“ begehbar (vgl. Turner und die Ausführungen in Kapitel 4.3). In dieser Phase tritt man in eine neue Gemeinschaft ein. Diese neue Gemeinschaft bietet eine hohe Intensität an Begegnung mit sich selbst wie auch mit den anderen Mitgliedern der Gruppe. Wie die Begehung des Rituals vorbereitende Schritte der Grenzüberschreitung voraussetzt, so wird nach dem Ritual eine erneute Grenzüberschreitung notwendig, deren Inszenierung eine Veränderung der alltäglichen Wirklichkeit (durch die Erfahrung des Rituals) bewirkt und darstellt (z. B. der Segen am Ende einer Liturgie) (vgl. van Gennep 1999, 21).
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das, was an Ritualen produziert wird, sich von dem absetzt, was vorher repräsentiert war, und sie verweisen auf etwas, was zukünftig bedeutsam wird. Was jetzt ist, wird in den Begriffen, die man von ihm bildet, auf mögliche Veränderungen hin überschritten. Nicht zuletzt deswegen geht es auch darum, Rituale als Zeichen zu verstehen. Denn Erfahrungen und Handlungen werden von Zeichen repräsentiert, die Menschen aufgrund der Beziehungen zur Welt, in der sie leben, ausbilden. Insofern ist jedes Ritual ein Zeichen. Zeichen sind von Erfahrungen angereichert oder sie sind keine Zeichen. In Bezug auf Rituale bedeutet dies, dass sie an dem Erfahrungsgehalt, den sie repräsentieren, gemessen werden können. Zeichen zu errichten und Rituale zu entwickeln, bedeutet Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen (vgl. Mersch 1998; Peirce 1986; Sander 1996). Insofern verkörpern Rituale auch eine Macht. Sie bringen Handlungen, Situationen auf einen Punkt. Ihre Basis sind Zeichen und auf diesem Fundament können wahre, heilende Aussagen und Erfahrungen gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit Ritualen, verstanden als Zeichen, besitzt einen großen Wert, denn sie ermöglicht es, Situationen zu überschreiten und Realität neu zu gestalten.
Rituale führen Zeichen in die Situation von Menschen ein, die sie verändern. In den Überzeugungen und Ritualen des Glaubens werden die Erfahrungen von Menschen repräsentiert. Deswegen sind sie Vergegenwärtigungen des Glaubens angesichts der Zeichen der Zeit, zumindest dann, wenn sie nicht hohles Ritual ohne spirituellen Rang sein wollen. Glauben im Ritual zu vergegenwärtigen bedeutet, der Zerstörung von Leben zu widerstehen. Die Liturgien, die Frauen feiern, und die Rituale, die sie begehen, sind ihre Antwort und Ausdruck ihres Umgangs mit der veränderten Situation. Für sie ist es nicht mehr so, wie es einmal war. Im Kontext ihrer Neuorientierung und Standortvergewisserung entwickeln sie das Bedürfnis nach neuen Liturgien und Ritualen und setzen es in die Tat um.
In den vorausgegangenen Abschnitten wurde beschrieben, was Rituale kennzeichnet und auszeichnet. Vor diesem Hintergrund muss die Forschungsmethode dem Untersuchungsgegenstand angemessen sein. Weil Frauen auf die Veränderungen in ihren Biografien und im gesellschaftlichen Bereich mit Ritualen antworten, wurde eine empirische Methode gewählt, um diesen Prozess genauer verstehen und analysieren zu können. Es sollten Frauen zu Wort kommen, die eine Praxis entwickeln, die eine besondere Herausforderung für die Kirche ist.
1.2.2 Methodische Konsequenzen
1.2.2.1 Zur Relevanz qualitativ-empirischer Forschung im Bereich aktueller ekklesiologischer Entwicklungen
Empirisches Arbeiten in der Theologie ist darauf gerichtet, die tatsächlichen Begebenheiten zu beschreiben und zu erklären (vgl. van der Ven 1990, 90). Die Beschreibung wird dabei von dem her bestimmt, wie sich die Realität zeigt bzw. wie sie von Menschen wahrgenommen wird. Die Erklärung basiert dann auf genau dieser Beschreibung. So kann die Gefahr gebannt werden, an Orten präsent zu sein, die keine(r) mehr aufsucht, und Antworten auf Fragen zu geben, die keine(r) mehr stellt. Empirisches Arbeiten in der Theologie steht zugleich dafür, die Wahrnehmungen des Volkes Gottes ernst zu nehmen und nach dem consensus fidelium zu suchen (vgl. Finucane 1996; Yong-Min 2003). Sie achtet auf die individuelle gelebte religiöse Praxis der Menschen, hört auf ihre Fragen und Zweifel, nimmt ihre Formen des gelebten Glaubens wahr und reflektiert sie (vgl. Klein 2005, 36–38). Nur wenn die Theologie auf die Stimmen und Fragen des Volkes Gottes hört, wird sie in der Lage sein, angemessene Wörter und signifikante Symbole für eine Verkündigung der Frohen Botschaft zu finden, die in die konkreten Erwartungen und Bedürfnisse der Menschen auch tatsächlich hineinwirkt (vgl. van der Ven 1990, 28; ders. 2002).
Bei empirischen Arbeiten ist zwingend zu bedenken, dass die Entscheidung für eine bestimmte Methode, quantitativ oder qualitativ, den möglichen Erkenntnisgewinn wesentlich bestimmt. Mehr noch, die Erkenntnisse sind zudem von der Subjektivität der Forschenden geprägt, von ihren eigenen Erfahrungen, Standpunkten und kulturellen Hintergründen. „Auch die empirischen Wissenschaften beschreiben die Wirklichkeit nicht einfach ‚so, wie sie ist‘. Jede Beschreibung und Theorie beinhaltet subjekt- und kulturabhängige Deutungen“ (Klein 2005, 25). Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch die Notwendigkeit der empirischen Wissenschaften, nicht nur Daten und Tatsachen darzustellen, sondern auch den Prozess der Datenerfassung darzulegen und zu reflektieren.
Im Nachfolgenden sollen Möglichkeiten und Grenzen quantitativer und qualitativer Methoden vorgestellt werden, um die Basis für die Methodenwahl der vorliegenden Arbeit vorzubereiten.
In den Sozialwissenschaften wurden quantitative Studien vorwiegend bis in die Mitte der 60er Jahre durchgeführt und die Qualität der Forschungen wurde vor allem daran gemessen, wie gut eine Übertragung in naturwissenschaftliche Modelle gelang (vgl. Hopf 1993). „Quantitative Studien unterscheiden sich von qualitativen in erster Linie durch ihre wissenschaftstheoretischen Grundpositionen, den Status von Hypothesen und Theorien sowie das Methodenverständnis“ (Atteslander 102003, 83). Quantitative Methoden sehen soziale Realität als objektiv gegeben an und mithilfe kontrollierter Methoden ist diese auch erfassbar. „Empirische Forschung soll theoriegeleitet Daten über soziale Realität sammeln, wobei diese Daten den Kriterien der Reliabilität, der Validität sowie der Repräsentativität und der intersubjektiven Überprüfbarkeit zu genügen haben und in erster Linie der Prüfung der vorangestellten Theorien und Hypothesen dienen. Forscher haben den Status unabhängiger wissenschaftlicher Beobachter, die die soziale Realität von außen und möglichst objektiv erfassen sollen“ (ebd.).
Seit den 70er Jahren wuchs in den Sozialwissenschaften die Kritik an quantitativen Methoden, und zwar wegen der starken Bindung an Standards und des distanzierten, analytischen Blicks. In diesem Kontext entwickelte sich das Interesse, Lebenswelten von innen, aus der Sicht der handelnden Menschen zu beschreiben, um so zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit zu gelangen (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 22003, 14). Dabei wurden von Lammek (vgl. Lammek 1988, 21–30) sechs Prinzipien entwickelt, die wie folgt zusammengefasst werden können:
„1) Offenheit gegenüber der Untersuchungsperson, Untersuchungssituation und den Methoden. Der Verzicht auf die Hypothesenformulierung ex ante ist ein konkretes Beispiel.
2) Kommunikation als konstituierender Bestandteil des Forschungsprozesses. Die Forscher und Daten werden nicht als unabhängig voneinander gesehen,