1.2.1.3 Rituale – wirkmächtige Zeichen von Gemeinschaften
Rituale gliedern, ordnen und bestimmen den Alltag von Menschen. Sie begleiten Menschen vom ersten Tag des Lebens bis zu ihrem letzten. Sie sind überall präsent. Wir finden sie in allgemeinen Höflichkeitsformen, bei Geburtstagen, politischen Inszenierungen wie Parteitagen und Gewerkschaftskongressen, im Sport und in liturgischen Zeremonien. Rituale strukturieren die feierlichen und festlichen Anlässe im Leben von Menschen, sie begleiten durch Krisen und Katastrophen. Es gibt jahreszeitlich bedingte Rituale, Widerstandsrituale, Liebesrituale und religiöse Rituale. Rituale sind allgegenwärtig. Inzwischen ist es auch so, dass Rituale wieder ein Thema sind. Ein Blick auf Buchtitel mag dies belegen. Es gibt Rituale für die Seele (Stutz 42001), Rituale für das Leben im Verband (Bundesvorstand der KLJB 2003), Rituale im Management (Echter 2003), Rituale für den Alltag und die Therapie (Welter-Enderlin/Hildenbrand 2002), die spirituellen Rituale der Frauen (Walker 1998), Rituale fürs Alleinsein (Iding 2003) und kraftvolle Rituale (Stutz 2001). Vom Zauber der Rituale (Zirfas 2004) ist ebenso zu lesen wie von ihrer Hilfe auf einem Weg zu mehr Lebensfreude (Grün 1997).
Von der Ritualkritik jüngster Epochen ist gegenwärtig kaum mehr etwas zu spüren. Damals wurde im Namen der Authentizität nicht das Gewohnte und Bewährte gesucht, sondern für jede Situation wurden neue, entsprechende, aktuelle Entwürfe und Ausdrucksformen erfunden und postuliert. Gewohntes und Wiederkehrendes standen grundsätzlich unter Ritualismusverdacht und wurden als hohle Zeremonie empfunden (vgl. Haunerland 1999, 282). Heute wird hingegen nahezu überall das Bewährte, Wiederholte von Menschen gesucht und mit gutem Recht ist von der Wiederkehr der Rituale zu sprechen (vgl. Kranemann/Fuchs/Hake 2004). Inzwischen werden Rituale als performative kulturelle Welten begriffen (vgl. Wulf/Zirfas 2004, 29–32). Rituale sind unverzichtbar für die Entstehung, Ausübung und Umgestaltung von Religion und Politik, Gesellschaft und Institutionen, Erziehung und Bildung. Mithilfe von Ritualen werden die Welt, in der Menschen leben, und die Erfahrungen, die Menschen machen, geordnet und interpretiert. Dabei erzeugen Rituale eine Verbindung und einen Zusammenhang zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem. Rituale stehen für Kontinuität und Verlässlichkeit und auch für Veränderung und Wandel. Durch ihre lebensweltlichen Bezüge sind Rituale gerade in Zeiten der Unsicherheit und der zunehmenden Komplexität ein Ort, der Sicherheit und Orientierung bietet.
Aber ein Blick auf die „Ritualorte“ zeigt deutlich, dass eine Instanz mit einer eigenen Ritualtradition und- praxis von diesem Boom nicht profitiert – es ist die Kirche. Sie hat in den letzten Jahrzehnten ihr Monopol auf Rituale eingebüßt. Ihre Rituale werden oftmals nicht als bewahrend, sondern als starr erlebt. Dies zeigt nicht zuletzt auch der wachsende Markt an kirchenfernen Riten, ob es nun Bestattungen mit einem freien Trauerredner/einer freien Trauerrednerin sind oder alternative Hochzeiten. Eines scheinen die Kunden in besonderer Weise bei den freien Ritualanbietern zu schätzen: dass man sich auf ihre Bedürfnisse ganz und gar einstellt (vgl. Fincke 2004).
Mit dieser Kundenorientierung wird z. B. im Internet oder auch auf Hochzeitsmessen geworben. Freie Redner/-innen bieten rituelle Begleitung bei Lebensabschnitten, wie Geburt, Hochzeit, Tod und Trauer, an, aber ebenso zu Anlässen wie Trennung und Scheidung. Indem sie auf die Wünsche der Kunden/Kundinnen (gegen Bezahlung natürlich) eingehen, kann man ihre Haltung als „religiös-kundenorientiert“ bezeichnen (vgl. Fincke 2004, 260; Karmer Abebe 2000, 35–64). Verständlich, denn sie sind institutionell nicht eingebunden. So dürfen die Kirchen in Deutschland z. B. Trauungen nur dann vornehmen, wenn die Paare vorher beim Standesamt eine zivilrechtliche Ehe geschlossen haben, doch solche Vorgaben gibt es auf dem „freien Markt“ nicht. Im Internet schreibt eine Anbieterin: „Ich bin keine Standesbeamtin und kann Ihnen damit den Gang auf das Rathaus nicht ersparen. Es ist allerdings für mich nicht relevant, ob Sie vor oder nach der Trauzeremonie zum Standesamt gehen. Vielleicht wollen Sie auch ohne rechtliche Absegnung Ihre Lebenspartnerschaft bestätigen. Auch das ist bei mir möglich“ (zit. n. Fincke 2004, 260).
Diese Entwicklungen und Gelegenheiten zeigen, dass es auf der einen Seite ein Bedürfnis nach Ritualen gibt und dass auf der anderen Seite sich die Wahrnehmung und Wirklichkeit der christlichen Religion in der Gesellschaft massiv verändert (haben). So haben z. B. die Umbrüche in der Bestattungskultur auch mit einem Rückgang an christlichem Auferstehungsglauben zu tun. Hier gehen also Entwicklungen Hand in Hand, die die Kirchen in ihrer Verkündigungspraxis massiv herausfordern.
Aus dem Vorausgegangenen wurde deutlich, wie vielfältig, bunt und herausfordernd die Entwicklungen im Zusammenhang mit Ritualen sind. Aber in der Vielfalt zeigt sich auch, wie wenig einheitlich die Rede vom Ritual ist. Da sind zum einen solche Rituale, die den gleichbleibenden Ablauf bestimmter Situationen festlegen, wie das persönliche Morgenritual oder bestimmte Abläufe im Zusammenleben einer Familie oder von Paaren. In diesen Fällen geht es um individuelle und kollektive Gewohnheiten. Es gibt daneben Formen der Zusammenkunft, die vorstrukturiert und immer gleich sind, wie z. B. die Jahreshauptversammlung eines Vereins oder die Eröffnung der Kirmes in einem Dorf. Diese Abläufe haben ihre Wurzeln zum Teil im Brauchtum oder wurden bewusst entwickelt. Davon unterscheiden sich dann wiederum Rituale in großen Gruppen von Menschen, wie z. B. bei Sportwettkämpfen (vgl. Bromberger 1998).
Den Alltag übersteigende Inszenierungen leiten über in den Bereich des religiösen Rituals. „Geprägte, standardisierte und wiederholbare Handlungssequenzen bilden die religiöse Zeremonie; in ihr bringt einerseits die religiöse Gemeinschaft ihre Identität zum Ausdruck und stärkt diese zugleich; andererseits wird hier die Bezogenheit auf das Göttliche bzw. der Kontakt zu einem personalen Gott vollzogen. Solche religiösen Riten haben vielfach soziale und biografische Bedeutung. Auf jeden Fall transzendieren sie den Alltag, haben häufig einen kultischen Akzent und werden gelegentlich magisch verstanden“ (Haunerland 1999, 283).
In welchem Kontext man auch immer ein Ritual vollzieht, es ist ihm eigen, dass es eine gewisse Wiederholbarkeit hat (vgl. Haunerland 1999, 283). Rituale haben standardisierte Elemente und Verläufe. Diese Elemente und Verläufe stehen aber nicht nur für Zeichen der Wiederholbarkeit, sie haben auch einen Wiedererkennungswert. Hat eine Person schon einmal an einem solchen Ritual teilgenommen, dann kann sie dieses in einen größeren Rahmen einordnen und sich zugleich in diesem Ritual verorten. Etwas Weiteres kommt an dieser Stelle noch hinzu: Sofern es sich nicht um individuelle Rituale handelt, benötigen sie die soziale Akzeptanz. „Auch die jeweils anderen müssen die verwendete Riten- bzw. Symbolsprache als solche erkennen können und in ihrer Sinnhaftigkeit akzeptieren“ (ebd., 283). Ist dies der Fall, dann wirkt das Ritual außerdem noch identitätsstiftend und gemeinschaftsstärkend.
Rituelles Handeln hat einen formalen Charakter. „Es folgt höchst strukturierten, standardisierten Sequenzen und wird oft an gewissen Plätzen und zu bestimmten Zeiten, die ihrerseits mit einer speziellen symbolischen Bedeutung gefüllt sind, durchgeführt. Rituelles Handeln ist repetitiv und aus diesem Grund oft redundant; diese Faktoren sind aber wichtige Mittel zur Kanalisierung von Emotion, zur Leitung von Erkenntnis und zur Organisation sozialer Gruppen“ (Kertzer 1998, 373). Rituale helfen, der Welt einen Sinn zu geben, indem sie Vergangenes mit der Gegenwart und die Gegenwart mit der Zukunft verbinden. Dies hilft, Probleme in den Griff zu bekommen. Vor diesem Hintergrund können folgende Dimensionen in Bezug auf Rituale festgehalten werden – „Rituale sind:
1. kommunitär, indem sie Gemeinschaften hervorbringen, restituieren und gestalten und dadurch ihren emotionalen und symbolischen Zusammenhalt gewährleisten; 2. stabilisatorisch, indem sie Ordnung, Aufgabenverteilung und Planung gewährleisten, insofern aber auch Einordnung, Anpassung und Unterdrückung möglich machen; 3. identifikatorisch-transformatisch, indem sie die Identität der bisherigen Mitglieder re- oder neu definieren oder ein neues Mitglied aufnehmen; 4. gedächtnisstiftend, indem sie den Teilnehmern eine zeitliche Kohärenz sicherstellen und so kontinuitätsstiftend und zukunftsorientierend wirken; 5. kurativ-philosophisch, indem sie infolge schmerzhafter Erfahrungen Heilungsprozesse und Krisenbewältigungsmechanismen in Gang setzen bzw. Fragen im Zusammenhang von Leben und Tod zu beantworten suchen; 6. transzendentmagisch, indem sie eine Kommunikation mit dem Anderen, dem „Heiligen“ gewährleisten,