Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hildegard Wustmans
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060312
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Kernbereich unterrepräsentiert sind. Sie kommen am wenigsten vor: Die Sprache, die Bilder und der Erfahrungsrahmen der meisten kirchlichen Vollzüge sind männlich geprägt. Frauen sind vielfach Unerhörte in der Kirche (vgl. Wustmans 2001). Dies zu erleben schmerzt Frauen. Sie erfahren dies in besonderer Weise auch in der rituellen Praxis der Kirche. Denn diese scheint weitgehend den Status quo zu stabilisieren und ihr Potenzial der Veränderung, der Überschreitung, der Heilung mehr und mehr einzubüßen. Dabei sollten religiöse Rituale immer eine doppelte Funktion haben: einerseits den Menschen helfen, in die Ordnung der Gemeinschaft hineinzuwachsen und sich in ihr sicher zu fühlen. Sie bieten einen Ort und eine Möglichkeit, Erfahrungen im Leben von Menschen zu deuten und Sinn zu vermitteln. Diese Seite von Ritualen bildet die Ordnung der Dinge in der Kirche ab und sie stabilisiert die Machtverhältnisse in der Kirche. Andererseits helfen Rituale, Ordnungen zu überschreiten, heilvollere Zustände vorwegzunehmen, gegen Missstände zu protestieren, Hoffnungen lebendig zu halten, zu trösten und aufzurichten. Rituale dienen demnach auch dazu, soziale Übergänge und die Not mit diesen Übergängen zur Sprache zu bringen. Für ihre stabilisierende Form brauchen Rituale Wiederholungen, eine feste Ordnung, feststehende Rollen und vertraute Worte.

      Im Rahmen der kirchlichen Ordnung der Dinge gibt es davon viel. Aus der Sicht von Frauen betrachtet fällt dabei jedoch auf, dass diese selten den Schatz ihrer Erfahrungen und die Nöte ihres Lebens zum Gegenstand haben. Ihre spezifischen Nöte und Sorgen, Freuden und Hoffnungen finden kaum einen adäquaten Ausdruck. Die allgemeinen rituellen Formen der Kirche und ihre Sprache verlangen von den Frauen vielmehr eine dauernde Übersetzungsarbeit in ihren Kontext. Dieses Erleben ist vielfach der erste Schritt, nach Wegen und Formen zu suchen, wie Frauen ihren Glauben ausdrücken und feiern können. Die Erfahrung, die Frauen in der Kirche als Unerhörte machen, führt nicht zwangsläufig in die Depression oder in den Auszug aus der Institution, sondern sie kann auch Kreativität und Energien freisetzen (vgl. Federmann 2000, 149–155). So haben Frauen an unterschiedlichen Orten angefangen, nach Worten, Liedern und Tänzen zu suchen, die ihren Glauben zum Ausdruck bringen. Frauen begeben sich auf den Weg, in selbst gestalteten Liturgien/Ritualen die „Wunden ihres Lebens zu heilen und Feste der Befreiung zu feiern“ (vgl. Ruether 1988). Sie erobern Räume, suchen Orte auf, an denen sie ihre Spiritualität leben, neu entdecken und feiern.

      Liturgie ist ein wesentlicher locus theologicus des Glaubens (vgl. Klinger 1978; Sander 1998; Körner 1994). An diesem Ort zeigt sich, woran die Gemeinschaft glaubt und worauf sie hofft. Es wird erfahrbar, wie sie ihren Glauben deutet und ihm Ausdruck verleiht. Lex orandi und lex credendi sind ummittelbar aufeinander bezogen. „Wie geglaubt wird, so wird gebetet, und die Forme(l)n des Gebets prägen den Glauben“ (Prüller-Jagenteufel 1999, 78). An den unterschiedlichen Orten in der Welt werden glaubende, suchende Menschen herausgefordert, die Sprache ihres Glaubens zu finden. Diese Herausforderung ist nicht neu, auffallend ist aber seit den 80er Jahren, dass immer mehr Frauen sich aufgemacht haben, nach einer Sprache für ihren Glauben zu suchen und diesen auch in von ihnen entwickelten Liturgien zu feiern. Insofern kann man „die Frauenliturgiebewegung als eine liturgische Erneuerungsbewegung“ verstehen (vgl. Enzner-Probst 2008, 41; Müller 2000, 343 f.). Diese Bewegung ist weltweit aktiv und weist „einerseits charakteristische Merkmale ihrer liturgischen Praxis auf, andererseits aufgrund ihrer kontextuellen Bezogenheit so viele Unterschiede, dass es nicht leicht fällt, sich einen Überblick zu verschaffen“ (Enzner-Probst 2008, 71). Es ist problematisch, diese Bewegung und die Inhalte genau festzulegen, weil Frauen sich in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und Settings zusammenfinden. In der Definition des Begriffs „Frauenliturgie“ folge ich Enzner-Probst, die mit Frauenliturgie ebenfalls rituelle Formen von Frauen innerhalb der christlichen Tradition bezeichnet: „Als Bezeichnung für die innerhalb christlicher Tradition angesiedelten liturgischen Gestaltungen wähle ich im Folgenden den Terminus ‚Frauenliturgie‘“ (Enzner-Probst 2008, 64). Mit ritueller Praxis werden jene Ausdrucksformen bezeichnet, die in postchristlichen Kontexten entwickelt und gefeiert werden (vgl. ebd.). Diese Unterscheidung ist angebracht, auch wenn die Übergänge vielfach fließend sind (vgl. Enzner-Probst 2001, 79–135). Neben notwendigen Unterscheidungen und fließenden Übergängen ist aber noch auf etwas zu verweisen, was die verschiedenen Stränge eint: Sie alle suchen nach Ausdrucksformen von Spiritualität. Und was die christlichen Gruppierungen betrifft, lässt sich sagen, dass sie „auf der Suche nach Wegen [sind], wie die christliche Botschaft gelebt werden kann. Die dabei beschrittenen Wege sind nicht immer die gewohnten, aber deswegen noch lange nicht per se schrecklich, abschreckend oder glaubensfeindlich“ (Jeggle-Merz 2000, 356).

      Der Ursprung für die Frauenliturgiebewegung liegt bei jenen Frauen, die innerhalb der Frauenbewegung ihr politisches Engagement und die religiöse Begründung miteinander verbinden wollten (vgl. Enzner-Probst 2003, 203 f.). Sie haben nach Formen und spirituellem Ausdruck für ihr (frauen)politisches Engagement gesucht. In der Realisierung dieses Wunsches sind sich viele Frauen in einem ersten Schritt der Bemächtigung durch die androzentrisch-christliche Tradition bewusst geworden. Im Kreis christlicher Frauen führte dies zu einer verstärkten Suche und Auseinandersetzung mit Frauen in der eigenen Tradition. Frauen in der Bibel und in der Kirchengeschichte sind und waren ein wichtiges Thema. Ein Teil dieser Frauen ist (nach wie vor) in bestehende Gemeinde- und Liturgiepraxen eingebunden und ist bestrebt, diese zu reformieren. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Bemühen, auch im Rahmen von Gottesdienst und Verkündigung eine inklusive Sprache zu sprechen. Seit den 80er Jahren ist eine vermehrte Kritik von Frauen an der Sprach- und Bilderwelt in der Liturgie zu verzeichnen. Frauen fühlen sich oftmals ausgeschlossen. Sie sind nicht sichtbar und nicht hörbar. In den Liedern und Texten ist von den „Brüdern“ und den „Söhnen“ die Rede. Und auch die Gottesanrede ist an den „Herrn“ adressiert. Diese Sprach- und Bilderwelt verstärkt das Gefühl des Ausgeschlossenseins bei Frauen. „Das ist besonders schmerzlich, da Liturgie ein heiliges Spiel ist, das an die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen erinnert und die Heilsaussage Gottes feiert“ (Rieger-Goertz 2003, 315). Inzwischen wird in vielen Predigten darauf geachtet, dass Frauen nicht nur mitgemeint, sondern auch angesprochen und erwähnt werden. Für die evangelische Kirche ist zu sagen, dass in besonderer Weise die Homeletik die Frauenfrage in den Blick genommen hat. Predigthilfen und Perikopenbücher für frauengerechte Predigten sind entstanden (vgl. Korenhof 1996; Korenhof/Stuhlmann 1998, 1999). In diesen Vorschlägen für Predigten werden die unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Männern und Frauen thematisiert und die Glaubenserfahrungen von Frauen zur Sprache gebracht. Ein besonderes Projekt in diesem Kontext ist auch der jährlich stattfindende ökumenische Weltgebetstag der Frauen. Er wird jeweils von Frauen in einem Land der Welt vorbereitet und in den Materialien zu diesem Tag werden die Situation der Frauen, ihre Perspektiven und Hoffnungen thematisiert und in der Liturgie mit der Rede von Gott verknüpft (vgl. Bechmann 2002).

      Mit zunehmender Annäherung von Frauen aus den christlichen Kirchen an die Frauenbewegung wurden auch die Impulse feministischer Spiritualität aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Berger 1999a, 109–149). In den USA waren in diesem Zusammenhang die Aktivitäten der Gruppe WATER (Women’s Alliance for Theology Ethics and Ritual) wegweisend, die sich insbesondere um einen liturgischen Ausdruck befreiungstheologischer Aspekte bemüh(t)en. „Eine frauenspezifische Form des ‚lex orandi – lex credendi‘ wurde gesucht und in unterschiedlichen Gruppen umgesetzt. Ein Beispiel dafür ist die Liturgiegruppe WATER, die, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründet, bis heute kontinuierlich Liturgien gestaltet, feiert und dokumentiert“ (Enzner-Probst 2008, 80).

      In dem Konzept von Women-Church sollen Glaube, Ethik und Liturgie aus der Sicht von Frauen gestaltet werden9 (vgl. Neu 1982; Hunt 1990).

      „‚Frauenkirche‘ bedeutet kirchenpolitisch und liturgiepraktisch die Erkenntnis, dass Frauen nicht zusätzlich etwas zu einer an sich bestehenden Kirche beitragen, sondern selbst ‚Kirche sind‘. Dies kann als ‚feministischer Wendepunkt‘ im Bewusstsein vieler Frauen bezeichnet werden, die sich innerhalb der Kirchen engagierten. Diese Frauen verstanden sich als kritisch-innovative Erneuerungsbewegung innerhalb der traditionellen Kirche (‚Ekklesia der Frauen‘, Schüssler Fiorenza) oder als Exodusgemeinschaft innerhalb und an den Rändern der Kirchen (Ruether). ‚Frauenkirche‘ wandte sich kritisch gegen eine ‚herr‘schende ‚Männerkirche‘, die Frauen aus liturgischer Leitung und theologischer Diskussion ausschloss. Die in Women-Church engagierten Frauen wollten