Nach Hoffnung fragt, wer sie im Leben nötig hat. Dies bedeutet für die Pastoral der Kirche, dass sie die Macht Gottes inmitten der Ohnmachtserfahrungen heutiger Menschen repräsentieren kann und soll (vgl. Sander 2001). Dabei sind die spirituelle und rituelle Dimension des Glaubens einzubeziehen und zum Ausdruck zu bringen. Sie sollte sich auf das besinnen und ausbauen, wo ihre Kompetenzen liegen und sie auf eine lange Tradition von Erfahrungen aufbauen kann, im Bereich ihrer spirituellen und rituellen Kompetenz sowie in den Feldern ihrer tätigen Hilfe (vgl. Zulehner 2004, 39–43). Dieser Prozess wird nur dann fruchtbar werden, wenn es ihr gelingt, tatsächlich bei der Lage der Menschen anzusetzen und ihnen zu ihrer Sprachfähigkeit zu verhelfen. „Die Gemeinschaft im Wort des Evangeliums ist eine mächtige Größe. Sie ermächtigt die einzelnen Mitglieder, sich in dem auszusprechen, was sie wirklich sind. Sie erniedrigt diejenigen nicht, die Ohnmacht erfahren, sondern gibt ihnen die Macht, die Erfahrung zu benennen. Das macht diese Gemeinschaft gegen Bedrohungen von außen widerständig. Menschen, die wissen, wer sie auch in der Ohnmacht sind, und die im Durchgang durch ihre dunklen Seiten authentisch werden, lassen sich nicht einfach brechen“ (Sander 1999, 50 f.).
Dies bedeutet, dass kirchliche Pastoral viel stärker gegenwartsbezogen und prozessorientiert arbeiten sollte. Dies erfordert Professionalität und Entschlossenheit. Mut wird ihr vor allem dort abverlangt, wo sich die Pastoral der Ohnmacht von Menschen stellt – an den Orten also, wo sie sich den Ohnmächtigen zuwendet und solidarisch in den konkreten Bezügen von Menschen handelt. Kirche wird in ihrem Sprechen und Handeln glaubwürdig, wenn sie tatsächlich die Frohe Botschaft verkündet, die allen Menschen ein Leben in Fülle verheißt (Joh 10,10), und danach handelt. „An ihren Taten wird gemessen, was sie sagt“ (Klinger, 2003, 139).
Eine Kirche, die die Tabus in der Gesellschaft benennt und immer mehr lernt, die Schatten in ihrer eigenen Organisation zur Sprache zu bringen, erfährt, dass dies zu Auseinandersetzungen führt. Die Auseinandersetzungen und die eigene Botschaft sind in eine Balance zu bringen. „Denn die Kirche ist Kirche in der Welt von heute, ist ein Teil dieser Welt und immer auch von ihren Stärken und Schwächen, Pathologien und ihrer Größe gekennzeichnet. Sie hat genau dieser Welt einen Horizont zu geben, den sie ohne die Botschaft der Kirche nicht hätte, oder besser: von dem sie ohne die Botschaft der Kirche von Gott nichts wüsste“ (Bucher 2004b, 23)
Die Kirche sollte Konflikte nicht scheuen, sondern zum notwendigen Störpotenzial in der Gesellschaft werden und so zugleich an der fortwährenden Erneuerung ihres Selbst arbeiten. Die Kontroversen im Außen wie im Innern gilt es zu benennen, auszuhalten und zu gestalten. Und damit gilt es einen Weg zu beschreiten, der die Macht in der eigenen Ohnmacht entdeckt. Steht sie dazu, dann gelingt es ihr, ungesicherte Orte und Erfahrungen im Leben der Menschen von heute mit Hoffnung zu beleben.
1.2.1.2 Das Denken des Außen – unerhörte Spuren von Macht und Ohnmacht
Die Koordinaten, in welche sich die Kirche hier und heute gestellt sieht, sind zum einen von der vergangenen Macht, zum anderen von der zunehmend erfahrenen Ohnmacht in der Gegenwart geprägt. Das, was die Kirche sagt, hat nach wie vor Sinn, aber immer weniger Bedeutung im Leben von Menschen. Sie kann diesen Fakten nicht ausweichen. Am Umgang mit ihnen wird sichtbar, wer sie in der Welt von heute für die Menschen sein kann und sein will. Es wird sich zeigen, ob sie in der Lage ist, Zeichen auszubilden und eine Sprache zu finden, die den Menschen einen Zugang zu ihrer Frohen Botschaft ermöglicht, die nicht nur sinnvoll, sondern auch bedeutungsvoll ist.16 Denn das, was im Innern der Kirche fraglos Sinn ergibt und Bedeutung hat, kann in ihrem Außen unverstanden und bedeutungslos sein. Es gibt diese Diskrepanz von „sinnvoll“ und „bedeutungslos“ und diese ist es, die eine bedrängende Ohnmachtserfahrung für die Kirche ist. Sie konfrontiert die Kirche mit ihrer eigenen Sprachlosigkeit.
In Konstellationen, in denen Sprachlosigkeit herrscht, kann es hilfreich und erhellend sein, sich mit den Machtanalysen von Michel Foucault auseinanderzusetzen. Er bietet eine Sprache und Analyse, die auf Ausschließungen bezogen ist und deshalb an Sprachlosigkeiten ansetzt. Basis und Ausgangspunkt seines Denkens über Macht ist der folgende Gedanke: Nicht wer Macht hat, ist entscheidend, sondern wie Macht funktioniert. Und wer ihr auf die Spur kommen will, muss sich an dem orientieren, was in Diskursen gerade nicht gesagt wird, was in Gesellschaften mit Tabus belegt wird, verdrängt und eingesperrt wird. „Die Macht ist kein Eigentum, sie ist keine Potenz; die Macht ist eine Relation, die ausschließlich als Funktion der Begriffe studiert werden kann und muß, welche diese Relation ausmachen. Man kann also weder die Geschichte der Könige noch die Geschichte der Völker erzählen, sondern nur die Geschichte der Konstitution dieser beiden Begriffe, deren einer niemals unendlich und deren anderer niemals null sein kann“ (Foucault 1999, 194). Es geht also zugleich darum, „mit Hilfe einer anderen Theorie der Macht ein anderes Raster der historischen Entzifferung zu entwickeln und sich mit einem näheren Blick auf das historische Material Schritt für Schritt mit einer anderen Konzeption der Macht vorzuarbeiten. Den Sex ohne das Gesetz und die Macht ohne den König zu denken“ (Foucault 1977, 112).
Für Foucault ist Macht etwas Dynamisches, etwas, das sich in Techniken zeigt. „Das Prinzip der Macht liegt weniger in einer Person als vielmehr in einer konzentrierten Anordnung von Körpern, Oberflächen, Lichtern und Blicken; in einer Apparatur, deren innere Mechanismen das Verhältnis herstellen, in welchem die Individuen gefangen sind“ (Foucault 1976, 259). Das bedeutet aber auch, dass Macht bei Foucault real, konkret zu bestimmen und zu lokalisieren ist. Sie ist etwas Historisches und Empirisches (vgl. Schneider 2004, 168). „Die Analyse der Machtmechanismen ist keine allgemeine Theorie dessen, was Macht ist. Vielmehr geht es darum, wo, zwischen wem, auf welche Weise und zu welchem Zweck sie ablaufen“ (Foucault, zit. n. ebd., 177). In seinen Forschungen hat er sich dafür interessiert, wen eine Gesellschaft aussperrt, wegsperrt und wie sie überwacht und straft (vgl. Foucault 1976).
Neben der Frage, wer in die Gefängnisse und Irrenanstalten gesperrt wird, interessierte Foucault auch der Diskurs über Sexualität und Sexualpraktiken. Immer hat er sich dabei für sozial randständige Figuren interessiert, „weil er der Normalität auf der Spur war, die sich abseits soziologischer Untersuchungen besonders deutlich an jenen Schnittstellen zeigt, an denen individuelle Schicksale zur Reflexion gesellschaftlichen Drucks bewegt werden, wo administratives Material plötzlich mit Bekenntnisschriften und Beichtversuchen gemischt ist“ (Schneider 2004, 140). Er hat das dokumentarische Material von Einzelfällen untersucht, um gewissermaßen vom Rand her auf einen Diskurs zu blicken und „die Errichtung einer diskursiven Normalität innerhalb der Gesellschaft zu studieren“ (ebd., 145).
Von den Rändern aus kann man nach Foucault an jene Diskurse herankommen, die für das Innere einer Gesellschaft, einer Institution von Bedeutung sind. In dem, was ausgeschlossen wird, zeigt sich, was wichtig ist und bedrohlich zugleich. Vom Rand her lässt sich erfahren, was die beherrschende Ordnung der Dinge ist, nach welcher Logik das Innen funktioniert. Will man z. B. etwas über die moderne Arbeitsgesellschaft erfahren, dann kann ein Blick auf jene Menschen erhellend sein, die keine Arbeit haben. Sie sind es anscheinend, die die Arbeitsgesellschaft nicht braucht. Und auch in der Art und Weise, wie Frauen sich an den Rändern der Kirche oder in ihrem Außen mit Fragen nach Spiritualität, Sinn und Heilung auseinandersetzen und welche Formen sie dafür finden, zeigt sich, woran es der Kirche in ihrem Innern mangelt. Der Kirche droht, z. B. den Zugang zu den Frauen zu verlieren, weil ihre Sprache bei den Frauen nur noch bedingt verstanden wird und weil ihre rituellen Formen nicht die Lebenserfahrungen von Frauen treffen.
Mit dem Blick auf Frauen an unterschiedlichen Orten will diese Arbeit die unerhörten Spuren von Macht und Ohnmacht freilegen, mit dem Ziel, eine Praxis zu entwerfen, in der sich Mitte und Rand, Innen und Außen, Kirche und Frauen produktiv aufeinander beziehen können. Dies ist bislang unzureichend der Fall, auch vonseiten der Frauen. Die Liturgien, die Frauen feiern, haben einen Schwachpunkt: Sie trennen sich vielerorts von der Kirche und damit steht ihnen keine Tradition zur Verfügung, um in Situationen der Sprachlosigkeit sprachfähig zu werden. In ihnen kommt die kirchliche Wirklichkeit in produktiver Form kaum vor. Der „verworfene Teil“ (Georges Bataille), das Unerhörte der Frauenliturgien ist die Kirche selber. Sie ist jener Teil, aus dem man kommt, aber man kann oder will sich nicht mehr produktiv darauf beziehen.