Heinrich der Löwe. Joachim Ehlers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ehlers
Издательство: Автор
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243796
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vielfach eigene Herrschaftsbezirke aufbauen können, vor allem im mittleren und oberen Wesergebiet, denn diese Räume lagen peripher zum billungischen Zentrum um Lüneburg. Zu diesen Vasallen gehörten die Grafen von Schwalenberg, die in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Vizegrafen der Billunger geworden waren und später von den Northeimer Grafen die Vizevogtei über das Kloster Corvey erhielten; ferner die Grafen von Everstein nordöstlich von Holzminden und die ursprünglich aus dem Weserbergland stammenden Grafen von Roden im Raum Hannover. Lothar von Süpplingenburg hatte seinerseits die Grafen von Schauenburg aus ihrer Eigenherrschaft zwischen Weser, Steinhuder Meer und Deister als Grafen in Holstein-Stormarn eingesetzt, die Herren von Wölpe aus der Gegend von Nienburg als Grafen östlich der Weser im nördlichen Teil der Diözese Minden und die Herren von Blankenburg als Vizegrafen am Nordostharz. Das nordwestliche Harzvorland beiderseits der Oker war Reichslehen Lothars, und er setzte dort die Herren von Wöltingerode als Grafen ein; Reichslehen waren auch die Grafschaften Wernigerode, Scharzfeld, Ilfeld-Honstein und Rothenburg.

      Wer die selbständige Ausweitung von Adelsherrschaft und die damit verbundene Gefahr der Entfremdung anvertrauten Gutes oder übertragener Rechte vermeiden wollte, durfte Besitz und Ämter möglichst keinem Adligen anvertrauen, sondern mußte auf Dienstleute zurückgreifen. Er rekrutierte sie aus der familia seiner Grundherrschaften, aus dem Kreis der unfreien Leute, die eben wegen ihrer Unfreiheit gehorsamspflichtig waren; im persönlichen Dienst in der Nähe des Herrn konnten sie sich durch Zuverlässigkeit und Kompetenz qualifizieren, so daß solcher Dienst gegenüber der Zwangsarbeit in den namenlosen Scharen feldbestellender Knechte eine wesentliche Statusverbesserung brachte. Erprobte Loyalität und Tüchtigkeit führten häufig dazu, daß die Herren das Recht zum Waffentragen aus eigener Machtvollkommenheit über die Schicht der Freien hinaus erweiterten und ihren unfreien ministeriales Pferde, Rüstung, Schwert und Schild übergaben, so daß sie als Reiterkrieger (milites) einen Dienst leisteten, für den bis dahin nur Adlige und freie Vasallen in Frage gekommen waren. Diese neue gesellschaftliche Gruppe der Ministerialen war seit dem 11. Jahrhundert schnell gewachsen. Gemäß ihrer Bestimmung für den Reiterdienst mit der Waffe waren sie tendenziell aggressiv und suchten ihren Vorteil als Angehörige einer leistungsbezogenen, den gesellschaftlichen Aufstieg anstrebenden Elite. Im Laufe weniger Generationen, die loyal dienten, konnten Ministerialenfamilien adelsgleiches Ansehen erwerben, und sie wußten sehr wohl, daß ihre Herren auf sie angewiesen waren. Deshalb mußten sie durch starke Autoritäten gezügelt werden, denn sie übernahmen möglichst viel an adliger Lebensform, um ihren Anspruch auf einen gehobenen Status öffentlich zu demonstrieren.16

      Von solchen Ministerialen hatte Lothar die süpplingenburgischen Hausgüter und das Erbe der Brunonen verwalten lassen. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehörten die Burghut und die Wahrnehmung damit verbundener Herrschaftsrechte im Burgbezirk, aber auch die Verwaltung der Vogtei süpplingenburgischer Eigenklöster wie St. Maria und Aegidius in Braunschweig oder Lothars Stiftung Königslutter. Diesem Kloster hatte die Kaiserin Richenza nach dem Tod ihres Gemahls, aber noch zu Lebzeiten Heinrichs des Stolzen (also nach dem 4. Dezember 1137 und vor dem 20. Oktober 1139) eine Schenkung gemacht, die von einer Reihe geistlicher und weltlicher Zeugen bestätigt wurde.17 Unter ihnen waren sechs Männer, die wir später immer wieder in der nächsten Umgebung Heinrichs des Löwen treffen werden: Anno von Heimburg, Liudolf und Balduin von Dahlum, Gerhard, Heinrich von Weida, Poppo von Blankenburg. Anno hatte seinen Herkunftsnamen von der Heimburg nordwestlich Blankenburgs am Harz; sie gehörte zu den modernen Höhenburgen, die Heinrich IV. angelegt hatte, war aber im Sachsenkrieg 1073 zerstört worden. Lothar von Süpplingenburg hatte sie später wieder aufgebaut und Anno übergeben, der zum Jahre 1134 als Kämmerer (cubicularius) des Kaisers bezeugt ist, als Inhaber eines Hofamtes.18 Liudolf gehörte einer Familie an, die möglicherweise aus der brunonischen Ministerialität an Lothar von Süpplingenburg gekommen ist; seit 1129 tritt er in Königsurkunden Lothars mit dem Herkunftsnamen de Dalem auf, das heutige Groß-Dahlum im Kreis Wolfenbüttel. Diese Nennung ist zugleich der früheste Beleg für einen Herkunftsnamen bei sächsischen Ministerialen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, so daß Liudolf eine herausgehobene Stellung gehabt haben dürfte. In der Tat ist er 1134 und danach mehrfach als advocatus bezeugt,19 als Vogt von Braunschweig. Dieses Amt übernahm zur Zeit Heinrichs des Löwen Liudolfs Sohn Balduin, der ebenfalls schon als Zeuge bei der Schenkung Richenzas mitgewirkt hat, ebenso wie Gerhard, der als Vogt von Königslutter bis 1153 in der Umgebung Heinrichs des Löwen nachweisbar ist.20 Heinrich von Weida sollte einer der bedeutendsten Ministerialen Heinrichs des Löwen werden; er ist wahrscheinlich schon durch Lothar oder Richenza mit Dienstgütern ausgestattet worden. Unter den Zeugen der Schenkung Richenzas steht Heinricus gleich hinter Anno (von Heimburg) an zweiter Stelle unter den Ministerialen; das ist gewiß Heinrich von Weida, der so angesehen war, daß er 1143 als einziger seiner Standesgenossen in der Umgebung der Herzogin Gertrud und ihres jungen Sohnes namentlich erwähnt ist, noch dazu vor den Grafen Ludwig von Lohra und Poppo von Blankenburg.21 Bis 1180 gehörte er zu den Großen am Hof Heinrichs des Löwen, und er wird uns noch oft begegnen. Der edelfreie Poppo von Blankenburg gehörte sehr wahrscheinlich zur Verwandtschaft Lothars von Süpplingenburg und ist als Graf erstmals 1128 bezeugt; er amtierte im Harzgau in einer wahrscheinlich von Lothar selbst eingerichteten Grafschaft22 und hält sich später bis 1163 in der Umgebung Heinrichs des Löwen. Noch ein weiterer Ministeriale ist hier zu nennen, Berthold, den wahrscheinlich schon Lothar von Süpplingenburg als Graf in Peine östlich von Hannover eingesetzt hat und der bis 1156 am Hof Heinrichs des Löwen begegnet.23

      Alle diese Herren hatten Verdienste, Stellung und Ansehen schon vor der Geburt Heinrichs des Löwen erworben;24 wir können natürlich nicht behaupten, daß allein sie während der Minderjährigkeit und vor allem in den Jahren nach dem Tod Richenzas († 10. Juni 1141) und Gertruds († 18. April 1143) seine Interessen vertreten haben, aber die oft erwähnten tutores können nur aus dem Kreis dieser altgedienten und erprobten Leute Lothars gekommen sein, zumal es auch anderswo vorkam, daß ein Hof nach dem Tod seines Herrn dessen Rechte gleichsam treuhänderisch wahrnahm und politische Kontinuität sicherte.25 Für die Bildung der Persönlichkeit Heinrichs des Löwen dürfte der frühe Umgang mit diesen erfahrenen und selbstbewußten Ministerialen nicht ohne Folgen geblieben sein, mochten sie durch ihr Auftreten nun eigene Erinnerungen an den Vater wecken, zeitweise an seine Stelle treten oder als Vorbilder praktische Handlungsanweisungen für die Zukunft vermitteln. Der frühe Tod des Vaters förderte jedenfalls Einsicht in die Bedeutung des Hofes für Erhalt und Ausüben der Herrschaft, weckte den Willen zur Selbstbehauptung, sozialisierte das Kind in einer Zeit erst rudimentär entwickelter öffentlicher Sicherheit und Ordnung im Kreis erfolgsorientierter, Rechte und Rechtsansprüche notfalls gewaltsam durchsetzender Reiterkrieger, lehrte Härte und Drohgebärde als politische Mittel schätzen. Sehr wahrscheinlich war Heinrich der Löwe später nicht brutaler als andere, aber wohl nicht zufällig meinte Burchard von Ursberg im frühen 13. Jahrhundert besonders dessen Anhänger, wenn er den deutschen Fürsten generell vorwarf, ihren Willen ohne Gesetz und ohne Vernunft mit dem Recht schlechthin gleichzusetzen (more Teutonicorum sine lege et ratione voluntatem suam pro iure statuentes).26

      Wir wissen nicht, wie Heinrich der Löwe als Kind und junger Mann unterrichtet wurde, welche Sprachen er lernte, ob er Lateinisch lesen oder gar schreiben konnte, wer ihn Reiten lehrte, mit zur Jagd nahm oder in den Gebrauch der Waffen und in die adligen Umgangsformen einwies. Zur Verständigung mit seiner unmittelbaren Umgebung brauchte er das Niederdeutsche, besonders in seiner ost- und westfälischen Form, und für die süddeutschen Regionen das Bairische und Alemannische, dazu für den Umgang mit der traditionell mehrsprachigen westeuropäischen Elite das Französische, doch es gibt keinerlei Hinweise, wann, durch wen und wo er die notwendigen Sprachkenntnisse erworben hat und wie weit sie gingen. Vermutlich lagen sie auf dem allgemeinen Niveau der Führungskräfte seiner Zeit, wobei wir auch das nicht so sicher bestimmen können, wie es wünschenswert wäre. Friedrich Barbarossa war »in seiner Muttersprache . . . sehr redegewandt, Lateinisch aber konnte er besser verstehen als sprechen«, während vom englischen König Heinrich II. gesagt wurde, daß er zwar »eine gewisse Kenntnis aller Sprachen zwischen dem französischen Meer und dem Jordan« gehabt, aber »nur Latein und Französisch« gesprochen hätte (linguarum omnium que sunt a mari Gallico usque ad Iordanem habens scienciam, Latina tantum utens et Gallica).27 Außergewöhnliche Sprachkenntnisse weltlicher Fürsten sind meist auf eine abgebrochene Klerikerkarriere zurückzuführen, so bei Graf Adolf II. von