Einsichts-Dialog. Gregory Kramer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregory Kramer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812474
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systemische Manifestation persönlichen Leidens ist.

      Einsamkeit ist eine fundamentale Form zwischenmenschlichen Leidens. Sie ist die zwischenmenschliche Manifestation unserer Grundangst vor der Leere und dem Tod. Sie tritt in persönlicher wie auch sozialer Form auf und ist erschreckend weit verbreitet. In unserer persönlichen Einsamkeit fehlt uns ein vertrautes Gegenüber; in sozialer Einsamkeit fehlt uns die Integration in einer Gemeinschaft. Wir versuchen, das Loch der Einsamkeit mit Essen, Autos, Unterhaltung und Drogen zu stopfen. Wir verbrauchen, neben riesigen Mengen an Benzin und anderen Ressourcen, enorme Telefon- und Internet-Kapazitäten einfach dafür, sinnerfüllten Kontakt zu anderen herzustellen. In dieser Mischung lösen sich biologisches, seelisches und zwischenmenschliches Leiden gegenseitig aus, und jedes kann zu Verhalten führen, das unseren Kummer verschärft und verlängert.

      Menschen in reichen Ländern – getrieben von Einsamkeit und dem Hunger nach Genuss – setzen eine Kaskade von anderen Formen des Leidens in Gang. In ihrer Suche nach Tröstungen saugen sie die Ressourcen der Welt auf, indem sie verreisen und exotische Nahrungsmittel, arbeitsintensive Produkte und unersetzliche Rohstoffe importieren. In den Ländern, die durch den Konsum dieser mächtigen, hungrigen Menschen geplündert werden, verschärft sich durch die massiven sozio-ökonomischen Umwälzungen, die mit ökonomischer Abhängigkeit einhergehen, das biologische Leiden von Unterernährung oder Seuchen. Wenn hungernde Völker kommunizieren, beruht ihre Gemeinsamkeit auf dem Mitgefühl füreinander, aber – oft – auch darauf, gemeinsam die dominanten Nationen zum Feind zu haben. Der Schmerz, den dieser Hass erzeugt, ist sowohl auf den Gesichtern der Kämpfer als auch ihrer Opfer zu sehen.

      Währenddessen treten in den Ländern, wo die Macht angesiedelt ist, zum Schmerz von Einsamkeit und täglichem Stress die Belastungen hinzu, seinen Lebensstil verteidigen und die hassen zu müssen, die ihn eventuell attackieren wollen. Vielleicht geht irgendwo in einer Kleinstadt wegen der zusätzlichen Belastungen eine Ehe in die Brüche, und das Paar erlebt das tiefe zwischenmenschliche Leiden einer Scheidung. Unterdessen wird auf der nationalen Ebene zugunsten militärischer Maßnahmen der Etat umgeschichtet, und Millionen von Menschen verlieren ihre medizinische Absicherung, was das biologische Leiden erhöht. Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wird ebenfalls das Geld gekürzt, was das seelische Leiden erhöht. Der Hass zwischen willkürlichen politischen Lagergrenzen vertieft sich, und Anspannung wird für jeden zum persönlichen Begleiter. Persönliches, zwischenmenschliches und soziales Leiden existieren in unserem persönlichen Leben nebeneinander und durchdringen das Herz der Gesellschaft, nicht weil wir böse wären, sondern weil wir Menschen sind.

      Wenn Sie sich von Stress überwältigt fühlen, nehmen Sie sich einmal einen Moment Zeit und reflektieren Sie, welche Stressfaktoren sich mehr um Sachen drehen – Besitztümer, Arbeitsstelle, praktische Bedingungen – und welche mehr um Beziehungen. Können Sie zwischen beiden irgendeinen Unterschied feststellen?

      Das Leben so direkt zu betrachten ist nicht pessimistisch; es ist realistisch. Es hilft nichts, das Problem zu ignorieren. Im Gegenteil, Ignorieren macht das Leiden unsichtbar, sichert sein Fortbestehen und lässt zu, dass es die Grundstimmung unseres Lebens bestimmt. Dies wissend, sind wir zu einer Entdeckungsreise eingeladen. Wie der Buddha es ausdrückte: „Darum sage ich, ihr Mönche, ergibt sich aus dem Leiden entweder Verzweiflung oder Hoffnung“.12 Um zu sehen, wie die Dinge wirklich sind, müssen wir Achtsamkeit kultivieren, das heißt die Fähigkeit, in jedem Moment unsere Reaktionen zu beobachten. Wir müssen auch so weit zur Ruhe kommen, dass wir bei dem bleiben können, was die Achtsamkeit beobachtet, und die emotionalen Reaktionen anschauen können, die uns in diesen vielen Stress-Kreisläufen herumjagen. Was stellen wir fest, wenn wir die Mechanik des zwischenmenschlichen Leidens klarer sehen? Können wir die Ursachen für dieses Leiden ausmachen? Wenn wir die Dinge klar sehen, können wir anfangen, unser Leben in Richtung Zufriedenheit und Freiheit neu zu orientieren. Die Ursachen des Leidens zu verstehen ist der erste Schritt in Richtung Freiheit.

      8 Im Original „the human condition“, englische Entsprechung für André Malraux’ Begriff „la condition humaine“ (Anm. d. Übers.)

      9 Samyutta Nikâya (=SN) 56.11, zitiert nach Schumann, a. a. O., S. 25

      10 Majjhima Nikâya (=MN) 141.17, zitiert nach der deutschen Übersetzung von Karl Eugen Neumann; Verlag Beyerlein/ Steinschulte, Herrnschrot (Die Reden des Buddha. Mittlere Sammlung)

      11 Dîgha Nikâya (=DN) 22.18

      12 AN 6.63; Nyânatiloka: Die Lehrreden des Buddha aus der Angereihten Sammlung (Anguttara-Nikâya), Bd. III, S. 242 (Aurum Verlag, Braunschweig 1993)

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      Die Zweite Edle Wahrheit

      Zwischenmenschlicher Hunger

      Wenn die Welt die Sinne berührt, entsteht schlagartig ein Selbst, und Verlangen kommt auf: Hunger nach Angenehmem, Sicherheit und nach dem Leben selbst. Das Selbst greift nach diesen Dingen und hält sie krampfhaft fest, wenn es sie bekommt. Wir halten an unseren Versuchen fest, zu bekommen, was wir wollen, und wir halten auch fest an der Angst vor dem Verlust dessen, was wir haben. Die Anspannung, die in diesem Greifenwollen steckt, ist die Wurzel des Leidens. Als Kinder lernen wir, welche zwischenmenschlichen Kontakte angenehm und unangenehm sind, und auch welche Sinneseindrücke angenehm und unangenehm sind. Wir entwickeln Vorlieben und Abneigungen. Wir entdecken, dass Wollen und Nichtwollen reziprok sind: Das Ende des Angenehmen ist unangenehm; das Ende des Unangenehmen ist angenehm. Die Brust der Mutter ist ein offensichtliches Beispiel – sie ist warm und süß, erfreulich; wird sie weggenommen, ist das eine unangenehme Erfahrung. Aber das ist noch nicht das Ende. Danach kommt der Hunger nach ihrer Rückkehr, nicht bloß der Nahrung wegen, sondern auch als Objekt des Trostes, des Glücks; grundlegender biologischer Hunger wandelt sich zu seelischem Hunger. Beide stellen „Ich“ in den Mittelpunkt des Universums. Es geht uns gut, wenn jemand lächelt oder uns lobt; unser Hunger nach derlei Aufmerksamkeit, die uns während unseres ganzen Lebens gewidmet und entzogen wird, bildet viele Nuancen. Worte der Kritik oder Ablehnung erleben wir als schmerzhaft; es wird wichtig, solche Kontakte zu meiden. Aus solchen konditionierten Hungergefühlen erwachsen unsere subtilsten Sehnsüchte nach Vertrautheit, Angenommen-Werden und Gemeinschaft. Klar benennbare, aber auch namenlose Sehnsüchte wirken in unserem Leben; wir können nur einen Bruchteil von ihnen kennen.

      Zwischenmenschlicher Schmerz und zwischenmenschliche Freude sind eindringliche Konditionierungen. Als Kind wurde ich gelobt, wenn ich meine Suppe aufaß; ich lernte, für ein Lob zu funktionieren, auch wenn ich satt war, weil ich nach dem Lächeln und den Worten hungrig war, die ich die Male vorher genossen hatte. Die Kinder um mich herum wollten gelobt werden dafür, dass sie den Ball weit geschlagen hatten, am schönsten angezogen oder gut in der Schule waren. Aber wir sind alle verschieden. Die Sehnsucht meines Vaters richtete sich nicht auf öffentliche Anerkennung, sondern auf private Liebe. Lange nachdem meine Mutter gestorben war, hungerte er immer noch nach Zweisamkeit, die ihm eine uralte Einsamkeit, die in seinem Leben immer wieder auftrat, zumindest zeitweilig etwas erleichtern sollte. Die Ursprünge seines Hungers waren jedoch unter den Schichten von nahezu einem Jahrhundert gelebten Lebens begraben. Die Hungergefühle meiner Familie, wie alle unsere Hungergefühle, bildeten ein Selbst, das sich im Zusammenfluss von Sinneseindrücken, angenehmen und unangenehmen Gefühlen und konditionierten emotionalen Gewohnheiten bildete.

      Das Bindeglied zwischen Hunger und Leiden heißt Greifenwollen. Wenn wir nicht bekommen können, was wir wollen, bleibt die Anspannung des unbefriedigten Hungers bestehen. Wir klammern uns an die Bilder und Gefühle, die mit dem, was wir suchen, zusammenhängen. Wir lechzen nach Kaffee und haben ein Bild im Kopf: Wir sehen, halten sogar die Kaffeetasse, riechen das Aroma und sehnen uns nach den Gefühlen, die mit dieser idealisierten Befriedigung zusammenhängen. Solange wir an diesem Bild und dem Habenwollen, das darin steckt, festhalten, bleiben wir unbefriedigt. Im zwischenmenschlichen Bereich ist es ähnlich: Wir spüren vielleicht ein intensives Verlangen, mit einem geliebten Menschen zusammen