Um Leiden zu verstehen, müssen wir uns dieses krampfhafte Festhalten ganz genau anschauen. Wenn wir etwas Weiches berühren, ist der Geist erfreut, hält sich an dem Genuss fest und möchte, dass er bestehen bleibt. Aufgrund der Gewissheit, dass das angenehme Erlebnis zu Ende gehen wird, sind wir angespannt; wenn es endet, wollen wir es wiederhaben. Wenn wir uns an etwas Scharfem schneiden, spüren wir sofort körperlichen Schmerz, und das Denken fixiert sich auf den Wunsch, dass dieser Schmerz aufhören soll. An diesem Festhalten ist auch das Gefühl eines Selbst beteiligt, wie wir noch sehen werden. Hunger und krampfhaftes Festhalten halten sich gegenseitig aufrecht, während die Freuden und Schmerzen kommen und gehen.
Zwischenmenschlich ist die Dynamik dieselbe. Wir sehen die Gestalt eines anderen Menschen; wenn wir mit diesem Menschen Angenehmes verbinden, entsteht eine konditionierte Befriedigung. An dieser Befriedigung halten wir fest. Aber im zwischenmenschlichen Erleben hat das Festhalten mehrere Ebenen und ist deshalb eine besondere Herausforderung. Nicht nur genießen wir die angenehmen Empfindungen durch diesen Menschen, wir finden in ihm oder ihr in vielerlei Hinsicht auch momentane Linderung für hartnäckige Hungergefühle: Du bringst mir Anregung und Glücksgefühle, du machst, dass ich gesehen werde, du bist der Mensch, der mein Gefühl, wertlos zu sein, aufhebt. Während wir uns entwickeln, ist es unvermeidlich, dass wir solche Befriedigungen suchen und festhalten; sie sagen uns, dass wir leben und in Sicherheit sind. Die Hungergefühle nisten sich ein, indem wir uns innerlich festklammern an der tiefverwurzelten Idee eines Selbst – desjenigen, was befriedigt, anerkannt und beschützt werden muss – und an den Gefühlen dieses Ichs. Gleichzeitig klammern wir uns äußerlich an die andere Person. Dieses Festklammern ist nicht nur das Ergebnis des aktuellen Moments von Freude und Schmerz; sein Entstehen ist auch konditioniert durch alle Momente von Freude und Schmerz in der Vergangenheit.
Dass wir uns an dem festklammern, was angenehm ist, ist leicht zu sehen; aber es ist unbedingt notwendig, zu verstehen, dass wir uns auch an schmerzhaften Gedanken und Emotionen festklammern. Auf der ganzen Welt – Balkan, Naher Osten, Afrika – gibt es Völker, die immensen gegenseitigen Hass hegen. Wenn ein Einzelner in sich das Bild eines gehassten anderen hegt – Araber, Amerikaner, Ausländer –, hält das Denken an diesem Bild fest, obwohl dieser Hass intensiven Schmerz verursacht. Direkt vor der eigenen Haustür ist es der Ärger über einen Nachbarn, Kollegen oder Verwandten, der das festklammernde Denken etabliert, und wir halten an unseren großen und kleinen Verletzungen fest. Dieses Festklammern – ob im Hass oder im Begehren – erzeugt Anspannung, die zur Basis für Unzufriedenheit und Schmerz wird. Aus solchem Festklammern entspringen Handlungen, die den Schmerz beenden und Befriedigung bringen sollen. Wir verurteilen, verletzen den verhassten „anderen“, töten ihn sogar.
Ob nun das Ergebnis von Karma, DNS oder starken neuronalen Verschaltungen, dieses Greifen und Klammern wurzelt in einer Geschichte, die unvorstellbar subtil ist. Weil Geist und Körper ein untrennbar Ganzes sind, manifestiert sich dieser schmerzhafte und aufgewühlte Zustand des Greifenwollens in Körper und Geist. Die Begegnung mit einem anderen Menschen ist eine besonders eindringliche Form des Kontakts und kann zu mächtigen, subtilen und komplexen Gefühlen führen. Aus diesen Eindrücken entsteht der Drang zu greifen, etwas Zähes im Herzen und Denken, das in jedes Zusammensein eine gewisse Beunruhigung bringt und Trennung schmerzhaft macht.
Wenn Sie das nächste Mal in einer ihrer Beziehungen Leiden bemerken, prüfen Sie, ob Sie das Greifenwollen darin erkennen. Halten Sie an einem Bild, dem Wunsch nach Kontrolle, einer Hoffnung oder einer Angst fest? Wenn Sie es bemerken, verändert sich dadurch der Schmerz oder das Greifenwollen?
Drei Arten elementaren Hungers
Als der Buddha den Mechanismus dieser Zyklen von Schmerz und Zwang auslotete, erkannte er als ihre Quelle drei miteinander verbundene Arten des Hungers. Er sagte:
Dies, Mönche, ist die Edle Wahrheit vom Ursprung des Leidens: Es ist der Wiedergeburt bewirkende, mit Freude und Vergnügen verbundene Hunger (tanhâ), der mal hier, mal dort Gefallen findet, nämlich: der Hunger nach Lust, der Hunger nach Werden, der Hunger nach Vernichtung.13
Als ich zum ersten Mal auf diese Aussage stieß, verstand ich sofort, wie der Hunger nach sinnlicher Lust und die implizite Aversion gegen Schmerz zu allen möglichen Frustrationen und Sorgen führen kann. Den Hunger nach Werden, nach Sein verstand ich als körperlichen Überlebenstrieb, aber da normalerweise mein körperliches Überleben nicht direkt gefährdet war, fragte ich mich, ob diese Lehraussage auch für jeden konkreten Moment des Lebens etwas zu bedeuten hatte. Der Drang nach Vernichtung, nach Nicht-Sein war mir ein völliges Rätsel, abstrakt und schleierhaft. Ich glaubte schon, dass er für mein Leben irgendwie relevant war, aber ich fragte mich, ob ich ihn jemals verstehen würde. Nachdem ich ein bisschen mehr studiert hatte, sah ich im Hunger nach Nicht-Sein den Drang, diesem schmerzhaften Leben zu entfliehen – den Selbstmord-Gedanken; obwohl ich wiederum nicht wusste, was das mit meinem Leben zu tun hatte.
Als ich zu verstehen begann, dass Leiden das zwischenmenschliche Leiden beinhaltet, und den Ursprung dieses Leidens im zwischenmenschlichen Hunger erblickte, wurden die Lehraussagen des Buddha für mich plötzlich lebendig. Und als ich sah, wie diese drei Arten des Hungers im zwischenmenschlichen Bereich wirksam waren, vertiefte sich auch mein Verständnis ihrer persönlichen Dimension. Ich begann das Lechzen nach zwischenmenschlicher Befriedigung als Drang nach angenehmer Anregung durch andere Menschen zu verstehen, aber auch als Angst vor Einsamkeit, die durch diesen Lustgewinn oft übertüncht wird. Ich sah, dass der Hunger nach Werden auch der Hunger war, in einer Beziehung „da zu sein“ – das heißt, der Hunger danach, gesehen zu werden, und seine Kehrseite: die Angst, unsichtbar zu sein. Der Hunger nach Nicht-Sein, begann ich zu verstehen, war nicht nur der Drang, diesem verrückten und schmerzhaften Leben zu entfliehen, sondern auch der Drang, dem Dasein in einer Beziehung zu entfliehen. In diesem Drang, so sah ich, steckt die Angst vor dem Gesehen-Werden, die Angst vor Nähe14.
Allmählich verstand ich diese Arten des Hungers fast als Naturgewalten, die mich in Verwirrung und Stress gefangen hielten, weil ich von ihrem Wirken gar keine Ahnung hatte. Ich ahnte, dass unter dieser Düsternis schon immer Klarheit und Ruhe existiert hatten, auch wenn ich nicht wusste, wie ich dazu Zugang finden konnte. Es schien, als hätte jedes dieser drei Hungergefühle in meinem Herzen irgendwie ein Plätzchen reserviert, noch bevor elterliche Konditionierung oder Kognition an meiner ursprünglich strahlenden Bewusstheit herumdokterten.
Wie das Beziehungs-Selbst sich bildet
Ein Schlüsselelement in unseren konditionierten Reaktionsmustern – vielleicht das stärkste – ist das Gefühl eines Selbst oder Ich. Nach der Geburt hängt unser Überleben von anderen Menschen ab. Wir treten in eine Welt voller Empfindungen ein: Berührung mit harten und weichen, warmen und kalten Gegenständen. Reflexartig zieht es uns zu den Empfindungen, die wir angenehm finden, und wir wenden uns ab von denen, die wir unangenehm finden. Wie alle Tiere lernen wir. Wir lernen, wo es weich ist, und lernen, uns dort einzukuscheln; wir lernen, uns von lauten Geräuschen fernzuhalten. Wir suchen die Wärme und Fürsorge der Brust und weinen danach, verkrampft und um unser Leben schreiend. Von Wärme und Milch gestillt, entspannen wir uns. All das gehört dazu, wenn man als sensibles Wesen in eine anregende und wechselhafte Umwelt hineingeboren wird.
Mit drei Lebensmonaten in diesem Körper fangen wir an zu unterscheiden, was „ich“ ist und was nicht. Wir stellen fest, dass dieses Nicht-Ich reagiert. Die Brust ist nicht nur weich, sie wird auch dargeboten. Unser Beziehungsleben hat begonnen. Wir gehen daran, kennenzulernen und kennengelernt zu werden; das soziale Lächeln beginnt. „Halloooo“, sagt der neue Papa. Augen begegnen sich. Der Vater lächelt und das Kind lächelt bei diesem Erkennen, sein ganzer Körper dehnt sich wie ein grinsender Luftballon. Kontakt! Geschafft.
Dieser Kontakt wird eine Schlüsselerfahrung, während eine Flutwelle des Lernens anrollt. Unser Gehirn bildet fast zwei Millionen neue Synapsen pro Stunde. Das Gedächtnis bildet Verbindungen zwischen reiner Empfindung