Anagarikas Einladung zu einem Retreat mit Punnaji Maha Thero erwies sich als Abschiedsgeschenk für mich – sie starb eine Woche vor dem Retreat, bevor ich sie wiedersehen konnte. Unsere Zusammenkunft wurde Gedenkfeier und Retreat zugleich. Sie hatte mir diesen Lehrer nachdrücklich ans Herz gelegt, indem sie sagte: „Gregory, wir haben viel zu hart gearbeitet. Die Lehren des Ehrwürdigen Punnaji sind frisch. Von ihm habe ich die ersten neuen Einsichten in den Dhamma seit Jahren gehört.“ Sie hatte recht: Bhante Punnaji beeinflusste mich tief. Er betonte die Entspannung, was sehr aufschlussreich war, und als ich lernte, ruhig zu werden, war Achtsamkeit ganz leicht. Sein Mehrfach-Ansatz als Meditationslehrer begann mit Kontemplationen, die er aus Buddhas Lehren heranzog; ich staunte, wie konzentriert mein Geist wurde, wenn ich meine Gedanken auf traditionelle Themen wie etwa die Wahrheit der Vergänglichkeit in meinem Leben richtete. Nach Tagen des Eintauchens in diese Kontemplationen und anschließend in die Meditation über liebevolle Güte war der Geist entspannt und konzentriert, und es war einfach, präsent zu bleiben, wenn ich die Aufmerksamkeit auf den Atem lenkte. Seine Lehre, dass Entspannung ganz grundlegend sei, und sein Einsatz traditioneller Kontemplationen haben die Entwicklung des Einsichts-Dialogs beeinflusst.
Punnajis größter Einfluss auf mich und auf die Entstehung des zwischenmenschlichen Dhamma war sein Umgang mit den Lehren des Buddha. Auf der Grundlage tiefer Einsichten, die er in der Meditationspraxis erlebt hatte, wurde ihm klar, dass die Art, wie der Dhamma gelehrt wurde, zentrale Wahrheiten verdeckte. Er hatte sich in frühe buddhistische Lehren vertieft und festgestellt, dass er Schlüsselwörter neu übersetzen und beträchtliche Teile des Dhamma rekonstruieren musste. In das Gerüst dieser Lehren baute Punnaji westliche Psychologie und Philosophie ein, seinen eigenen Hintergrund als praktischer Arzt auf Sri Lanka und die Früchte aus seinem Leben und seiner Praxis. Von ihm lernte ich tiefen Respekt für die ganz frühen Quellen und gleichzeitig unerschütterliche Integrität in Bezug auf das Leben und die Meditation, wie ich sie erlebte. Ich lernte auch, dass Integrität manchmal bedeutet, neue Formen der Praxis zu finden, und dass das akzeptabel und angemessen ist.
Eine zweite Phase in der Entwicklung des Einsichts-Dialogs begann während meiner Promotion. Im Lauf des ersten Jahres beschlossen meine Kollegin Terri O’Fallon und ich, einen dialogischen Ansatz zu studieren, den David Bohm, ein Physiker, der eng mit Krishnamurti zusammengearbeitet hatte, vorgeschlagen hatte.5 In der Form einer Online-Übung präsentierten wir diese Art des Dialoges in einem Unterrichtsprojekt. Anfänglich lebte unsere Arbeit von einem Interesse an gemeinsamen Sinn-Inhalten und an der Art und Weise, wie Menschen kollektiv zu denken und zu handeln lernen. Bald wurde klar, dass noch etwas anderes entstand – etwas, was uns inspirierte, den Stil und die Ziele des Bohmschen Dialogs hinter uns zu lassen.
Terri hatte begonnen, bei mir Vipassanâ-(Einsichts-)Meditation zu studieren, und wir beide stellten fest, dass sich etwas veränderte, wenn wir unsere Meditationspraxis in die Dialogsitzungen einbrachten. Die Kraft der Achtsamkeit kam ins Spiel, und eine neue Klarheit entstand; der Dialog selbst wurde meditativ. Als sie und einige meiner Meditations-Schüler sich mir zu einem Retreat anschlossen, komprimierte ich das Dutzend Leitlinien, das Terri und ich für die Kombination aus Meditation und Dialog aufgestellt hatten, auf sechs und gab dieser Praxis, da sie von der Einsichts-Meditation inspiriert war, den Namen „ Einsicht-Dialog“. Bei diesem ersten Retreat waren unsere nachmittäglichen Dialoge unbeholfene Zwischenspiele während langer Tage stiller Vipassanâ-Meditation; aus Respekt für die traditionelle Praxis der Teilnehmer beendete ich nach ein paar Tagen die Dialogpraxis. Dass wir aber die Meditation in die Sphäre zwischenmenschlicher Interaktion eingebracht hatten, war für Terri und mich der Startschuss für den Einsichts-Dialog; das sollte mich auf Jahre hinaus inspirieren.
Nach diesem Retreat waren wir eine Vierergruppe, die ein Jahr lang auf privater Basis in einen regelmäßigen Online-Dialog traten und sich zweimal trafen, um den Dialog persönlich auszuprobieren. Die Zahl der Leitlinien wuchs auf neun, aber die Grundidee blieb gleich: Wenn Menschen gemeinsam praktizieren, kann daraus Achtsamkeit erwachsen. Die Online-Meditation wuchs zu einer kraftvollen eigenständigen Meditationsform heran. Terri und ich entwickelten eine Methodik zur Untersuchung der Meditation, „Insight Dialogic Inquiry“ („Einsicht durch dialogisches Erforschen“) und nutzten sie für eine gemeinsame Doktorarbeit über das Thema der Online-Meditationspraxis. Nachdem wir die Doktorarbeit abgeschlossen hatten, begann Terri im weiterführenden Bildungsbereich zu unterrichten und vermittelte ihren Studenten und ihrer spirituellen Gemeinschaft eine Variante der von uns entwickelten Praxis.
Eine weitere Phase begann, als ich anfing, wöchentlichen Meditationsgruppen in Portland, Oregon, den Einsichts-Dialog anzubieten. Eine fortlaufende engagierte Gruppe ermöglichte es mir, die Leitlinien weiterzuentwickeln und zu verfeinern und sie zur Grundlage der wöchentlichen Vorträge und Praxis zu machen.
1998 bot ich am „Barre Center for Buddhist Studies“ in Massachusetts ein Retreat an, das praktisch reine Einsichts-Dialog-Praxis war. Es war eine ziemlich unbeholfene Angelegenheit. Sechsunddreißig Menschen saßen in einem großen Kreis und hatten kein anderes Thema als Achtsamkeit, und ich als Lehrer redete zu viel, weil ich Gehör finden wollte. Mir fiel nichts Besseres ein! Trotz meiner Unbeholfenheit gab es in diesem Retreat schöne Momente und für viele auch hilfreiche Erfahrungen – dank der Kraft der Achtsamkeit, der sich herausbildenden Praxis selbst und unserer von Grund auf integren Absichten.
Im Lauf der nächsten sechs, sieben Jahre entwickelte sich die Praxis beträchtlich weiter. Es zeigte sich, dass diese zwischenmenschliche Meditation ein Eigenleben hatte. Meine Hauptübung war es, dem zu vertrauen, was jeweils ans Licht wollte, und sehr genau darauf zu achten, wo die Wahrheit vibrierte und wo andererseits Verwirrung, Selbststilisierung, kulturelle Prägungen und Spannungen dominierten. Die Praxis und mein Verständnis des Dhamma reiften heran. Ein Durchbruch, ein stiller Entwicklungsschritt nach dem anderen formten die Praxis.
Der erste echte Durchbruch zu ihrer Form begann mit einer kreativen Explosion, als ich im indischen Auroville ein Retreat leitete, in der spirituellen Gemeinschaft, die sich im Umkreis der Lehren des Hindu-Weisen Sri Aurobindo und der „Mutter“, seiner spirituellen Mitarbeiterin, gebildet hatte. Zuhause in Portland war mein spiritueller Weg auf die Probe gestellt worden, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte; dadurch schien der Boden für mehr Forschergeist und Risikofreude bereitet. Bei der Arbeit mit dieser Gemeinschaft von Menschen, die sich mit tiefem Ernst ihrem spirituellen Weg widmeten, erprobte ich viele Elemente zum ersten Mal: Aufteilung der Gruppen in Teilgruppen, Veränderung der Gruppengröße im Lauf des Retreats, explizite Vorgabe von Themen für die Dialog-Gruppen und das Vorstellen der Meditationstechnik in einer Sprache, die einer anderen spirituellen Tradition als der des Buddhismus entstammte.
Aus dem Gefängnis meiner Vorstellungen befreit, wie diese Praxis aussehen sollte, traf ich weitere Veränderungen, als ich die Praxis zurück nach Amerika brachte. Auf meine Intuition und die Erfordernisse des Moments achtend, begann ich andere Techniken einzubauen: Yoga, um körperliches Wohlbefinden zu fördern; Meditation in der Natur, um zu einer sanften Erweiterung des Bewusstseins zu ermutigen; gelegentlich eine Kombination aus Geh-Meditation und Dialog.
Ein weiterer großer Durchbruch ergab sich aus einer stillen Verzweiflung meinerseits, während ich ein Retreat bei der „Bhâvanâ Society“ leitete, einem Kloster in West Virginia. Meinem Prinzip folgend, auf das Entstehen zu vertrauen – das heißt, den Ritt auf dem Moment nicht durch irgendwelche Pläne stören zu lassen –, hatte ich einem Raum voller Menschen gerade die Meditationsanweisung „Innehalten“ vorgestellt, aber ich hatte kein Kontemplationsthema für den Dialog. Während die Gruppe von Mönchen, Nonnen und Laien-Praktizierenden paarweise dasaß, wurde es still im Raum, als ich mitten im Satz abbrach und nicht weiterwusste. Wie ich so vor der riesigen Buddhastatue stand und auf Inspiration hoffte, kam mir die Geschichte in den Sinn, wie Buddhas spirituelle Suche begonnen hatte. Bei Retreats mit Bhante Punnaji hatte ich diesem Thema nachgespürt, und das trug nun Früchte. Gautama, der Sohn eines Stammesfürsten, wollte etwas vom Leben außerhalb seines beschützten und privilegierten Daseins sehen und bat seinen Kutscher, ihn durch die Stadt zu fahren. Auf dem Weg sah er einen Alten, einen Kranken und eine Leiche. Jedesmal fragte er, ob dies allen zustoße; jedesmal bekam er zur Antwort: Ja, alle Menschen werden alt, krank und sterben.