Einsichts-Dialog. Gregory Kramer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gregory Kramer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812474
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Dimension unserer spirituellen Entfaltung zu vernachlässigen. Zwischenmenschliche Praktiken können uns helfen, zufriedenere, fürsorglichere Menschen zu werden. Sie können auch den Weg zu außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung frei machen, einer Entwicklung, die der persönlichen Erkenntnis-Verwirklichung vergleichbar wäre, die von den Weisen früherer Zeiten beschrieben wurde und heute von der westlichen Psychologie neu entdeckt wird. Diese Entwicklung schließt die seltenen Zustände, bemerkenswerten Einsichten und Ansätze in Richtung Freiheit ein, die in tiefer Praxis entstehen können. Sie schließt auch die Verwirklichung unserer Fähigkeit ein, echte Fürsorge für andere zu haben und gütig und großzügig mit ihnen zusammenzuleben. Auf dem Weg zum Erwachen gibt es keine Trennung zwischen emotionaler und spiritueller Gefangenschaft. Frei zu sein und Mensch zu sein – ein anständiges menschliches Wesen –: Beides liegt auf demselben Weg außergewöhnlicher zwischenmenschlicher Entwicklung, einem Weg zu mehr Zufriedenheit, Weisheit und Mitgefühl.

      Diese zutiefst menschliche Bedeutung des Weges ist zentral für die Lehre des Buddha, aber, wie Stephen Batchelor und andere dargelegt haben6, das konkrete Gefühl für die Person Gautama und dafür, wie seine Lehren die alltäglichen Probleme unserer Existenz behandeln, hat sich immer wieder vom Menschlichen weg in etwas Mythologisches verwandelt. Im frühen Buddhismus stellte man sich den Buddha irgendwann als jemanden vor, der ausschließlich in stiller Versenkung ruhte. Seine Rückenschmerzen, sein beängstigend gescheites Spiel mit der Sprache und sein ironischer Humor wurden ignoriert; für die meisten wurde er so zu einem übermenschlichen Ideal statt einem hoch entwickelten menschlichen Wesen. Es ging der Mensch verloren, der in seinem letzten Lebensjahr sagte: „Ananda, ich bin jetzt alt, in der Neige meiner Jahre, ein Greis, meine (Lebens-)Reise geht zu Ende, ich habe die Grenze erreicht: 80 Jahre werde ich alt. Wie ein abgenutzter Karren nur noch mit Hilfe von Riemen funktionsfähig gehalten wird, so ist auch mein Körper nur noch mit Bandagen funktionsfähig.“7

      Als Reaktion auf diese Entmenschlichung wurde der Buddha im Mahayana-Buddhismus als Bodhisattva rehumanisiert – als jemand, dem ganz viel an den Menschen lag. Das konkrete Beispiel seines Lebens galt darin als viel beeindruckender als seine formalen Lehren. Im chinesischen Ch’an- und im japanischen Zen-Buddhismus wurde betont, dass er einer von vielen Buddhas gewesen sei – und da diese Traditionen sich auf eine Vielzahl von Überlieferungslinien großer Lehrer konzentrierten, traten sowohl die Menschlichkeit Gautamas als auch der Kern seiner frühen Lehren in den Hintergrund. Der Buddha und seine Lehre wurde in Tibet wieder revitalisiert und konkret gemacht, verkörpert im üppigen Reichtum der Praktiken des Vajrayana-Buddhismus. Im Lauf der Zeit gewannen Rituale und Formalitäten an Gewicht und verdrängten den Menschen und was er gelehrt hatte. In jedem dieser Fälle, vom frühen Buddhismus und der Theravada-Tradition bis zu Mahayana, Zen und Vajrayana, in einer Gesellschaft nach der anderen, schwand der Sinn für diesen voll entwickelten Menschen Buddha. Und jedesmal, wenn der Sinn für Buddhas Menschlichkeit verloren ging, ging auch eine unbezahlbare Erkenntnis verloren: dass aus diesem fleischlichen, fruchtbaren menschlichen Erleben Befreiung erblühen könnte.

      Menschen sind eine soziale Spezies. Der spirituelle Weg wird in diesem Buch als etwas präsentiert, was unsere angeborene, unausweichlich soziale Natur mit einschließt. Der Dhamma wird in sehr direkten, menschlichen Begriffen dargeboten und muss daher unser Leben in Beziehungen umfassen. Die spezielle Praxis, die ich hier als Teil dieses Weges anbiete, der Einsichts-Dialog, ist sowohl eine Praxis für die Lebensführung als auch für das intensive Retreat. Sie deckt jenen Teil des Weges ab, der am meisten vernachlässigt worden ist – den zwischenmenschlichen –, und ermöglicht tiefe Abgeklärtheit und Einsicht, begleitet von engagiertem Mitgefühl. Die Weisheit, die aus den Problemen von Buddhas Erfahrung als Mensch entstanden ist, bezieht sich auf die Probleme, denen wir jeden Tag gegenüberstehen. Schließlich sind das Erhabene und das Alltägliche in dieser gemeinsamen menschlichen Erfahrung miteinander verflochten.

      6 Stephen Batchelor, Buddhism Without Beliefs (New York: Riverhead Books, 1997), S. 4 f. Deutsch erschienen unter: Buddhismus für Ungläubige. Fischer-Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1998.

      7 Dîghanikâya (=DN) 16.25, zitiert nach: Hans Wolfgang Schumann, Handbuch des Buddhismus, Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2000, S. 123. (Wo nicht, wie hier, eine deutsche Quelle angegeben ist, stammen die deutschen Versionen aller Zitate vom Übersetzer.)

      Teil zwei

      Vier zwischenmenschliche Wahrheiten

       4

      Die Erste Edle Wahrheit:

      Zwischenmenschliches Leiden

      Der Buddha war ein praktischer Lehrer. Die Regeln für das Klosterleben, seine Analyse des Geistes und eine breite Vielfalt von Meditationspraktiken erwuchsen alle aus der Erforschung des

      menschlichen Erlebens. Bei jeder Gelegenheit lehrte er die Mitmenschen, sich nicht auf sein Wort zu verlassen, sondern selbst nachzuprüfen, wie das Leben ist. Die grundlegendste Lehre des Buddha, die Vier Edlen Wahrheiten, waren auch das, was er nach seiner Erleuchtung als Erstes lehrte. Diese Lehraussagen werden hier in zwischenmenschlichen Begriffen präsentiert.

      Im Geiste dieses „Prüfen Sie es selbst nach“ wird der Leser in diesem Teil des Buches ein paar Gedanken oder kleine Beobachtungs-Übungen zu den vorgestellten Wahrheiten finden. Sie verstehen sich als Beispiele dafür, wie diese Weisheit sich erfahrungsmäßig verifizieren und direkt in unser Leben übernehmen lässt. Sie liefern Anhaltspunkte für diejenigen, die diese Lehren verinnerlichen und von ihnen profitieren möchten.

      Die Tatsache des Leidens

      Wenn wir unsere menschliche Grundsituation8 ehrlich anschauen, sehen wir Stress.

      Von vereinzelten Momenten der Freude unterbrochen, sehen wir Stress in kleinen Unannehmlichkeiten – der schrillen Stimme eines Nachbarn, Harndrang – wie auch in dem riesigen Leid bedingt durch Krankheiten, Scheidungen und Naturkatastrophen. Ganze Industriezweige haben sich entwickelt, die uns helfen, uns von unserem Elend abzulenken, unsere Frustrationen und Beschwerden abzutöten: elegante Kleidung, luxuriöse Häuser, fesselnde Filme, Musik und Alkohol und die Kneipen, die ihn anbieten. Das Leiden des Menschen ist nichts Neues.

      Wir können diesen Spannungen direkt ins Auge blicken; sie sind immer da, wenn wir es wirklich wissen wollen. Oft wollen wir dem Leiden nicht ins Auge sehen. Meist fühlt man sich sicherer, es zu leugnen oder zu ignorieren. Vielleicht haben wir Angst, das Leiden würde intensiver werden, sogar überwältigend, wenn wir es, ohne auszuweichen, anschauen. Diese Befürchtungen sind allerdings unbegründet. Der Tatsache des Leidens ganz klar ins Auge zu blicken gehört zu den wenigen Dingen, die wir tatsächlich tun können und die insgesamt wirklich Erleichterung bringen. Dies wurde zu Buddhas Zeiten empirisch entdeckt und kann auch jetzt experimentell wieder nachgewiesen werden.

      Stress ist manchmal versteckt, weil er mit Glück gemischt ist. Als zum Beispiel meine Söhne in den Ferien zu Hause waren, war unser Haus voller Leben, überbordender Aktivität und dem Selbstbehauptungsdrang frischgebackener junger Erwachsener. Überall stand Essen herum, und der Lärm war groß. Die Tage waren erfüllt mit Witzen, Ringkämpfen, zärtlichen Momenten. Aber als die Jungs wieder abfuhren, sagte meine Frau, sie fühle sich „abgenagt“ – wie von Geiern. Die Zeit war voller Freude – aber auch voller Arbeit, Aufregung und dem Geben und Nehmen, das den köstlichen und dornigen Charakter des Familienlebens ausmacht.

      Bei anderen Arten von Stress ist das Elend ganz eindeutig. Einmal beschrieb uns eine Meditierende, wie es für sie war, mit einer sehr schwächenden und schmerzhaften Krankheit zu leben. Während wir an einem klaren Herbsttag zusammensaßen, die Bäume rund um den Meditationssaal in allen Farben leuchteten, weinte sie beim Sprechen. Noch entnervender als die körperlichen Schmerzen war für sie die Angst, dass die Krankheit nie mehr weggehen würde. „Es gibt keine Heilung, keinen Ausweg, nicht einmal eine verlässliche Prognose“, sagte sie. „Ich kann heute nicht sagen, ob ich morgen