Dem Leben vertrauen. Rachel Naomi Remen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rachel Naomi Remen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812856
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      Jim war Fluglotse auf einem großen Flughafen. Er war ein zurückhaltender, ruhiger Mann, den man für schüchtern halten konnte, bis man die Entschiedenheit in seinen Augen sah. Verlegen erzählte er mir, dass er als Einziger in dem Trainingsprogramm nicht mit den Übungen zurechtgekommen war. Jim konnte sich das nicht erklären. Wir sprachen eine Weile über seine Pläne und über seine Reaktion auf die Diagnose. Ihm lag zweifellos viel daran, gesund zu werden. Er mochte seine Arbeit, liebte seine Familie, freute sich darauf, seinen kleinen Sohn großzuziehen. Es gab eigentlich nichts, was auf Selbstzerstörungsdrang hindeuten konnte. So bat ich ihn, mir etwas über das Bild zu erzählen, das er sich hatte vorstellen sollen.

      Statt zu antworten, entfaltete er eine Zeichnung, auf der ein Hai zu sehen war. Das Maul des Hais war riesig und weit geöffnet, voll mit scharfen, spitzen Zähnen. Dreimal täglich sollte Jim sich fünfzehn Minuten lang vorstellen, wie Tausende von winzigen Haifischen durch seinen Körper jagten und gnadenlos jede Krebszelle, die ihnen in den Weg kam, angriffen und vernichteten. Dieses Bild war ein ziemlich übliches Modell für die Visualisierung des Immunsystems. Zahlreiche Ratgeber empfahlen dieses Modell, und es wurde häufig benutzt. Ich fragte Jim, was ihn von der Meditation darüber abhalte. Seufzend gestand er, dass er sie für stumpfsinnig halte.

      Das Training war für ihn von Anfang an schiefgelaufen. Am ersten Tag war die Gruppe aufgefordert worden, sich das Immunsystem bildlich vorzustellen. In der anschließenden Diskussion hatte Jim entdeckt, dass er nicht die „richtige“ Art von Bild erwischt hatte. Die ganze Gruppe einschließlich des Therapeuten hatte daraufhin mit ihm gearbeitet, bis er schließlich auf den Hai gekommen war. Ich betrachtete mir die Zeichnung auf Jims Schoß. Der Kontrast zwischen dem Bild und diesem zurückhaltenden Mann stach in die Augen.

      Neugierig fragte ich ihn, wie sein erstes Bild ausgesehen habe. Er blickte zur Seite und murmelte: „Nicht grausam genug.“ Er habe sich einen Katzenwels vorgestellt. Ich war verblüfft. Ich wusste nichts über Katzenwelse, hatte noch nie einen gesehen, und bisher hatte auch noch nie jemand im Zusammenhang mit einer Therapie diesen Fisch erwähnt. Mit zunehmender Begeisterung schilderte Jim, wie Katzenwelse sich im Aquarium verhielten. Anders als Raubfische halte sich der Katzenwels in Bodennähe auf, fächele Sand durch seine Kiemen, trenne dabei ständig Genießbares von Ungenießbarem und fresse die Schadstoffe, die sich im Aquarium ansammelten. Katzenwelse schliefen niemals. Sie seien zu raschen und exakten Entscheidungen fähig – wie Fluglotsen –, meinte Jim bewundernd.

      Ich bat ihn, den Katzenwels mit wenigen Adjektiven zu charakterisieren. Er nannte Begriffe wie „klug“, „aufmerksam“, „untadelig“, „gründlich“, „treu“. Und „zuverlässig“. Nicht schlecht, dachte ich.

      Wir sprachen eine Weile über das Immunsystem. Jim hatte nicht gewusst, dass die DNS jeder unserer Billionen Zellen eine individuelle Signatur trägt, eine Art persönliches Markenzeichen. Unsere Immunzellen sind in der Lage, die körpereigenen DNS-Markenzeichen zu erkennen, und fressen jede Zelle, die dieses Markenzeichen nicht trägt, sofort auf. Das Immunsystem ist eine Art körpereigene Polizei, die ständig patrouilliert und Eigenes vor Fremdem schützt. Krebszellen haben ihr DNS-Markenzeichen verloren. Das Immunsystem greift sie an und zerstört sie. Jim hatte also unbewusst eine ziemlich genaue Vorstellung des Immunsystems reproduziert.

      Als Medizinstudentin hatte ich an einer Versuchsreihe teilgenommen, bei der ein Mikrotransplantat, ein winziger Verband menschlicher Hautzellen, einer anderen Person eingepflanzt worden war, und ich erzählte Jim von diesem Experiment. Das Immunsystem jener zweiten Person benötigte zweiundsiebzig Stunden, um unter den Billionen eigener Zellen den winzigen Zellverband mit der falschen DNS-Signatur ausfindig zu machen und zu vernichten. Ich schilderte Jim, dass wir mithilfe ausgeklügelter Tricks versucht hatten, das Mikrotransplantat zu tarnen. So raffiniert wir auch vorgingen, das Immunsystem ließ sich nicht überlisten. Jedes Mal entdeckte es die Zellen und vernichtete sie.

      Jim schien noch Zweifel zu haben. Der Therapeut und die anderen Teilnehmer des Trainingsprogramms hatten betont, dass ein mentales Bild von Kampfgeist und „Killermotivation“ geprägt sein müsse, um effektiv zur Bekämpfung des Krebses beitragen zu können. Jim geriet wieder in Aufregung. „Ist noch etwas?“, fragte ich ihn. Er nickte und erklärte mir, dass ein Katzenwels dort zur vollen Größe auswachse, wo er geboren worden sei, und zu bestimmten Zeiten des Jahres „über die Straße ginge“. Als Kind war ihm dieses Phänomen wie ein Wunder vorgekommen, und nie war er es müde geworden, Welse zu beobachten. Einige davon waren gute Freunde für ihn geworden. „Jim“, sagte ich, „was verstehen Sie unter einem guten Freund?“ Er schaute mich erstaunt an. „Nun, ein guter Freund ist jemand, der dich liebt, egal, was passiert“, erwiderte er.

      Dann bat ich Jim, sein Bild von den Welsen noch einmal zusammenzufassen. Er schloss die Augen und sprach von Millionen von Katzenwelsen, die niemals schliefen und sich aufmerksam, unermüdlich durch seinen Körper bewegten, geduldig und sorgfältig jede Zelle überprüften, die gesunden Zellen in Ruhe ließen und die verkrebsten auffraßen. Mit der bedingungslosen Liebe und Hingabe guter Freunde kümmerten sie sich um ihn, ob er nun lebte oder starb, hielten ihn, genauso wie sein Hund, für unersetzlich und einzigartig. Jim schlug die Augen auf. „Es mag ziemlich blöd klingen, aber ich empfinde diesen Tieren gegenüber eine Art Dankbarkeit“, sagte er.

      Das Bild von den Welsen berührte ihn tief, und weder fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, noch hielt er es für stumpfsinnig. Ein Jahr lang meditierte er täglich darüber. Noch Jahre später – inzwischen vollkommen genesen – visualisierte er ein paar Mal die Woche. Das erinnere ihn daran, dass sein Körper ein Verbündeter sei, meinte Jim.

      Jeder ist in der Lage, die eigene Lebenskraft so gründlich kennenzulernen, wie beispielsweise ein Gärtner seine Rosen kennt. Kein Gärtner hat je eine Rose erschaffen, er schafft jedoch die Bedingungen dafür, dass ein Rosenstrauch Blüten treibt. Und wie jeder, der jemals Rosen beschnitten hat, weiß, strömt das Leben durch jeden Strauch ein wenig anders.

      Stille

      Als junges Mädchen leistete ich in den Ferien einen freiwilligen Dienst in einem Altenpflegeheim ab. Der Job begann mit einem zweiwöchigen Intensivkurs über den Umgang mit alten Leuten. Offenbar musste dabei jede Menge beachtet werden, und was sich anließ wie ein Teenagersommer, in dem ich mich in Nächstenliebe üben wollte, entpuppte sich schnell als reglementierte Beschäftigung, für die Techniken und Fachkenntnisse erforderlich waren, nach denen das Pflegepersonal mich beurteilen würde. Vor dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit einem Patienten in Kontakt kommen sollte, war mir ziemlich bange.

      Meine erste Aufgabe bestand darin, eine 96-jährige Frau, die seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen hatte, zu besuchen. Ein Psychiater hatte senile Demenz diagnostiziert, aber auf eine medikamentöse Behandlung hatte sie nicht angesprochen. Die Krankenschwestern bezweifelten, dass sie mit mir reden würde, hofften aber, dass ich sie zu einer gemeinsamen Beschäftigung anregen könnte. Man gab mir einen großen Korb voller Glasperlen in den verschiedensten Größen und Farben. Wir sollten zusammen Perlen auffädeln. Nach einer Stunde sollte ich im Stationszimmer Bericht erstatten.

      Ich wollte diese Patientin nicht sehen. Ihr hohes Alter machte mir angst, und das Wort „Dementia senilis“ ließ vermuten, dass sie nicht nur viel älter war als alle Menschen, die mir je begegnet waren, sondern überdies schwachsinnig. Erfüllt von bösen Vorahnungen, klopfte ich an ihre geschlossene Zimmertür. Es kam keine Antwort. Als ich die Tür öffnete, befand ich mich in einem kleinen Raum, der von einem einzelnen, der Morgensonne zugewandten Fenster erhellt wurde. Vor das Fenster hatte man zwei Stühle gestellt, und in einem davon saß die uralte Lady und schaute hinaus. Der andere Stuhl war frei. Ich blieb eine Weile an der Tür stehen, doch sie nahm meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis. Unsicher, was ich als Nächstes tun sollte, ging ich zu dem freien Stuhl und setzte mich, den Korb mit den Perlen stellte ich mir auf den Schoß. Sie schien nicht einmal mein Kommen bemerkt zu haben.

      Eine Weile lang zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ein Gespräch in Gang bringen könnte. Ich war damals ungeheuer schüchtern, und unter anderem deshalb hatten mir meine Eltern nahegelegt, den Job anzunehmen. Auch unter weniger schwierigen Bedingungen wäre es also eine harte Zeit geworden. Die Stille im Raum war vollkommen. Jede Äußerung schien unangebracht, dennoch wollte