Eine der Ärztinnen erzählte, wie sie als Neunzehnjährige ihre sterbende Mutter gepflegt hatte, ohne sich dabei viel zuzutrauen. Zunächst hatte sie ihre Mutter lediglich zum Arzt gefahren, für sie eingekauft und Besorgungen gemacht. Dann, als die Kranke immer schwächer wurde, hatte sie ihr regelrechte Festessen zubereitet und das Haus sauber gehalten. Als ihre Mutter schließlich nichts mehr essen wollte, hatte sie ihr zugehört und stundenlang vorgelesen. Zuletzt war die Patientin ins Koma gefallen. Ihre Tochter hatte sie gebadet, ihren Rücken mit einer Lotion eingerieben und ihre Bettlaken gewechselt. Es gab immer noch etwas zu tun, und die Fürsorge wurde zunehmend einfacher. „Am Ende“, erzählte uns die Ärztin, „hielt ich sie nur noch in den Armen und sang.“
Es blieb lange still im Raum. Dann gestand eine der älteren Frauen ein, dass auch sie bisher dazu tendiert habe, Patienten zu meiden, deren Lage aussichtslos war. Sie habe sich machtlos gefühlt. Aber sie sehe jetzt, dass auch dann, wenn medizinisch nichts mehr zu machen sei, noch genügend anderes zu sagen oder zu tun bliebe. Es sei wichtig, Patienten Linderung zu verschaffen, indem man Anteil nehme. Das habe sie lange Zeit einfach vergessen. Ihre Stimme zitterte leicht.
Ich betrachtete sie genauer. Diese starke und kompetente sechzigjährige Chirurgin hatte Tränen in den Augen. Es war unglaublich.
Das Gegenteil von Perfektion
Ganzheit ist das Gegenteil von Perfektion. Perfekt zu sein ist höchstens ein Ideal. Viele von uns machen dieses Ideal zu ihrem Lebensziel. Die Typ A-Persönlichkeiten, die in jeder Hinsicht perfekt sein wollen, werden mit Herzkrankheiten in Verbindung gebracht. Perfektionismus kann einem das Herz brechen, und nicht nur das eigene.
Ein Perfektionist betrachtet das Leben wie eine dieser kleinen Abbildungen, die in unseren Zeitungen früher unter der Überschrift „Was ist falsch an diesem Bild?“ zu finden waren. Wenn man sich das Bild sorgfältig ansah, fand man schnell heraus, dass beispielsweise der Tisch nur drei Beine hatte oder das Haus keine Tür. Ich erinnere mich an die Aha-Erlebnisse, die solche Bilder bei mir in meiner Kindheit hervorriefen. Heute frage ich mich, wie es kommt, dass manche Menschen eine solche Befriedigung empfinden, wenn sie sehen, dass etwas unvollständig oder falsch ist.
Die Jagd nach Perfektion ist eine heutzutage weitverbreitete Sucht. Zum Glück ist Perfektionismus etwas Angelerntes. Niemand wird als Perfektionist geboren, man kann also durchaus von dieser Sucht wieder genesen – wie ich beispielsweise. Bevor ich gesund wurde, machte ich die Erfahrung, dass weder ich noch andere jemals genügten, egal, wo wir waren und was wir taten. Dafür verurteilte ich das Leben. Perfektionismus drückt sich in der Überzeugung aus, das Leben sei ein Scherbenhaufen.
Mancher Perfektionist wurde von einem ähnlich veranlagten Elternteil geprägt, jemandem, der auf der Basis von Pflichterfüllung und Leistung Anerkennung gewährte. Viele Kinder lernen früh, dass sie für das, was sie tun, geliebt werden und nicht für das, was sie sind. Einer perfektionistischen Mutter oder einem so veranlagten Vater scheint das, was ihr Kind leistet, immer unterhalb der Grenze dessen zu liegen, was es leisten könnte, wenn es sich etwas mehr anstrengen würde. Kinder, die davon betroffen sind, versuchen sich möglicherweise die Liebe ihrer Eltern zu verdienen. Natürlich kann man sich Liebe nicht verdienen. Liebe ist ein Geschenk. Verdienen können wir uns lediglich Anerkennung.
Nur wenige Perfektionisten kennen den Unterschied zwischen Liebe und Anerkennung. Der Perfektionismus ist in unserer Kultur eine so weitverbreitete Erscheinung, dass wir die „Liebe“ in „bedingungslose Liebe“ umgetauft haben. Doch jede Liebe ist bedingungslos. Bedingte Liebe ist in Wahrheit nur Anerkennung.
Nach Perfektion zu jagen lernt jeder Mensch spätestens während seiner Berufsausbildung. Ich wurde, bereits lange bevor ich mein Medizinstudium aufnahm, von meinem Vater zur Perfektionistin erzogen. Wenn ich in einer Prüfung achtundneunzig Punkte erreichte, fragte er, wenn ich nach Hause kam, prompt: „Und was ist mit den beiden restlichen Punkten?“
Ich bewunderte meinen Vater, und so war meine ganze Kindheit von der Jagd nach den fehlenden zwei Punkten geprägt. Mit zwanzig war ich genauso perfektionistisch wie er. Er brauchte mich nicht mehr nach den zwei Punkten zu fragen. Ich hatte den damit verbundenen Anspruch verinnerlicht. Es dauerte viele Jahre, bis ich begriff, dass diese zwei Punkte bedeutungslos waren und mich keineswegs dem Geheimnis des Lebens näherbrachten. Sie machten mich weder liebenswert noch ganz.
Das Leben bietet uns viele Gelegenheiten, von anderen zu lernen. Einer meiner Lehrer war David. Er war Künstler und meine erste Liebe, und diese Liebe bewies mir, dass Gegensätze sich anziehen. Während wir zusammen waren, musste mein Führerschein verlängert werden. Dazu sollte ich mich einer schriftlichen Prüfung über die Verkehrsregeln unterziehen.
Man hatte mir eine kleine Broschüre zugeschickt. Ich lernte tagelang. Die ganze Zeit über, während ich damit beschäftigt war, mir die Bedeutung von weißen und gelben Bordsteinen einzuprägen, versuchte David mich zu überreden, einen Spaziergang mit ihm zu machen oder auf ein Fest, zum Essen oder zum Tanzen zu gehen oder einfach zu plaudern. Ich erklärte ihm jedes Mal, dass ich keine Zeit hätte. Natürlich bestand ich die Prüfung mit der vollen Punktzahl. Triumphierend stürzte ich in Davids Atelier und verkündete ihm mein tolles Ergebnis. David schaute mit einem Ausdruck großer Zärtlichkeit von seinem Bild auf. „Liebling“, sagte er, „warum war dir das eigentlich so wichtig?“
Das war nicht die Antwort, die ich erwartet hatte. Plötzlich wurde mir klar, dass ich eine Menge geopfert hatte, um eine Hundert in einer Prüfung zu erreichen, die nur dazu gedient hatte, meinen Führerschein zu verlängern. Die Tage, die ich mit Lernen zugebracht hatte, hätte ich auf angenehmere Weise verbringen können. Ich hatte mir viele Dinge angeeignet, die mich gar nicht interessierten. Dabei hatte ich das Gefühl gehabt, gar keine andere Wahl zu haben. Wenn mein Vater keine geringere Leistung anerkennen konnte, war es auch mir nicht möglich, mich mit weniger als hundert Punkten zufriedenzugeben. Mein Verhalten war charakteristisch für eine Süchtige: Ich konnte mich nicht beherrschen.
Es ging natürlich nicht um das Autofahren. Es ging nicht einmal um die Note. Es ging um den Zwang, sich Liebe zu verdienen. Zum Glück spielte David nicht nach diesen Regeln. Er kannte nicht einmal das Spiel.
Ein ganz gewöhnlicher Held
Mein Onkel war ein Held. Wie alle Männer in der Familie meiner Mutter war er Arzt, zunächst Allgemeinmediziner und später Pathologe. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er an einem Gefecht teilgenommen und einen Orden bekommen.
Es hatte sich folgende Geschichte abgespielt: Mein Onkel gehörte einer Gruppe von Ärzten an, die die Kampftruppe begleitete. Einer falschen Meldung gehorchend, rückten die Soldaten zu einem Hügel vor, den sie unbesetzt wähnten. Als sie ihre Deckung verließen, eröffneten die gegnerischen Soldaten aus ihrem Versteck das Feuer, und innerhalb kürzester Zeit waren zahlreiche Männer verwundet oder lagen im Sterben. Die feindliche Truppe nahm das Gebiet weiterhin unter Dauerbeschuss. Niemand konnte gefahrlos aufrecht stehen. Erst zwölf Stunden später wurden die gegnerischen Soldaten durch einen Luftangriff kampfunfähig gemacht. Bereits lange vorher kroch mein Onkel mit auf den Rücken gebundenem Verbandsmaterial auf dem Bauch über das Schlachtfeld, setzte Aderpressen an, stillte Blutungen, nahm Botschaften entgegen, manchmal auf die Rückseite eines zerknautschten Fotos geschrieben, und spendete einen letzten Trost.
Als die Verstärkung eintraf und nachdem sich der Feind schließlich zurückgezogen hatte, wurde ersichtlich, dass mein Onkel Dutzenden Menschen das Leben gerettet hatte.
Er wurde für diese Tat ausgezeichnet und sein Bild auf der Titelseite unserer Zeitung, dem New York Daily Mirror, abgedruckt. Ich war damals etwa sieben Jahre alt und bekam, da ich zur Familie des Helden gehörte, alles brandaktuell mit. Am besten gefiel mir, dass er Urlaub bekommen hatte und uns besuchen wollte. Ich war ganz verrückt vor Aufregung.
Insgeheim wunderte mich seine Heldentat ein wenig. Mein Onkel war untersetzt, glatzköpfig und trug eine Brille. Er hatte sogar einen kleinen Schmerbauch. Sollte er sich verändert haben? Er hatte sich nicht verändert. Seit jeher ein schüchterner Mensch schien ihm all der Rummel unangenehm zu sein, genauso wie ihn der Besuch von Nachbarn, die einer nach dem anderen kamen und ihm die Hand schüttelten, eher belastete. Schließlich erwischte ich einen