Je älter ich wurde, desto mehr belasteten mich die Erwartungen, die meine Familie an mich stellte. Meine Onkel und Vettern waren Männer der Wissenschaft, zurückhaltend, gebildet, intellektuell und erfolgreich. Wie mein Vater belohnten sie mich, wenn ich in ihrem Sinne richtig antwortete. Mein Großvater hingegen hatte mich für die richtigen Fragen belohnt. Zwar bewunderte ich diese Doktoren, aber meinen Großvater und seine Art, Fragen an das Leben zu stellen, hatte ich geliebt. Mit zwölf Jahren wollten mein Lieblingsvetter und ich beide Rabbi werden. Er wurde Arzt, und ich wurde Ärztin.
Ich glaube, für die Medizin habe ich mich letztlich wegen eines Romans entschieden, den ich mit etwa zwölf Jahren las, eine Geschichte über den Evangelisten Lukas mit dem Titel Die Straße nach Bithynien. Historische Romane waren das LSD der Fünfzigerjahre, ein einfaches Rauschmittel für eine Generation von gelangweilten Nachkriegsjugendlichen. Ich war süchtig danach.
Ich hatte nicht gewusst, dass Lukas Arzt war. Die Straße nach Bithynien hatte mich ursprünglich angesprochen, weil mir die biblische Weihnachtsgeschichte in der Version des Lukasevangeliums am besten gefiel. Frank Slaughter, der Autor der Straße nach Bithynien, war ebenfalls Arzt, und er erzählte die Geschichte von Lukas mit einer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, die er seiner Erfahrung und Berufspraxis verdankte. Ich habe den Roman vier Mal gelesen und verblüfft festgestellt, dass keiner der darin geschilderten Ärzte so war wie meine Onkel und dass es möglich sein musste, den Arztberuf so auszuüben, wie es mein Großvater gutgeheißen hätte: als Möglichkeit, das Leben und den Ursprung des Lebens besser kennenzulernen und ihm zu dienen. Der Roman machte mir Hoffnungen, dass jemand wie ich seinen Platz in der Medizin finden könnte, ohne zwischen dem Leben meines Großvaters und dem seiner Söhne wählen zu müssen.
Der Tag, an dem alles anfing, ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben: Mein Vater, der meine Siebensachen in mein Zimmer des Studentenwohnheims trägt, meine Mutter, die meine Kleider auspackt und wie immer die Schubladen mit einem besonderen Papier auslegt – beide in trauter Eintracht arbeitend, bis es nichts mehr zu tun gibt. Ich erinnere mich an ihre besorgten Worte und daran, wie sich endlich die Tür hinter ihnen schloss. Wie gerne wären sie geblieben, hätten mit mir diese letzte Nacht vor dem Beginn meines Medizinstudiums verbracht. Aber mit zwanzig wollte ich diese Herausforderung allein bestehen.
Ich betrachtete die sorgsam gefalteten Kleidungsstücke, die leeren Bücherregale, das harte, schmale Bett und die glatte Oberfläche des Schreibtischs. Das Zimmer wirkte unpersönlich wie eine Klosterzelle, völlig anders als mein eigenes, feminin eingerichtetes Schlafzimmer, in dem ich noch die Nacht davor verbracht hatte. Vier Jahre lang würde ich nun hier zu Hause sein. In dieser Nacht fröstelte ich. Ich fühlte mich verlassen.
Ein altvertrauter Zweifel plagte mich: die Angst, mich auf etwas Falsches einzulassen, wofür ich nicht geschaffen war und woran ich scheitern würde. Mit Philosophie als Hauptfach war ich nur unter Schwierigkeiten an der Cornelluniversität zum Medizinstudium zugelassen worden. Der Leiter des Auswahlkomitees hatte sich meine Examensarbeit über Wittgenstein angesehen und gemeint, mein Hauptfach sei „belanglos“. Dann war er in eine vehemente Diskussion über Genetik, sein Steckenpferd, eingestiegen. Ich hatte mich wacker geschlagen, war mir aber im Stillen darüber im Klaren gewesen, dass ich nicht zur Wissenschaftlerin taugte. Insgeheim hielt ich die Wissenschaft für so farblos, kalt und eckig wie dieses Zimmer.
Ich wandte mich zu dem einzigen Fenster. Schon einmal hatte ich einen Blick nach draußen geworfen und dabei festgestellt, dass es zur Straßenseite hin lag. Mein Blick war auf trostloses Grau gefallen. Aber jetzt war es Nacht, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Haupteingang zur Klinik, einer der berühmtesten der Welt. Er war hell erleuchtet.
Von meinem Standpunkt aus konnte ich das Hauptgebäude sehen sowie die beiden Seitenflügel, die von einer großen halbkreisförmigen Auffahrt umgeben waren. Ein endloser Strom von Autos kam und fuhr wieder, brachte Kranke oder Menschen, die voller Unruhe andere begleiteten, um die sie sich Sorgen machten. Ich trat näher ans Fenster und beschloss, mir das Geschehen eine Weile lang anzuschauen, bis die Lichter gelöscht würden. Kurz vor Mitternacht trafen eine ganze Menge Leute ein, viele davon in weißen Kitteln, und kurz nach Mitternacht verließen sehr viele andere weiß gekleidete Menschen das Gebäude und begaben sich zu ihren Autos auf dem Parkplatz. Die Schicht hatte gewechselt. Ich holte mir die Bettdecke, wickelte mich darin ein und zog mir einen Stuhl heran. Autos, Ambulanzen, Taxis und Streifenwagen der Polizei kamen und verschwanden wieder. Ab und zu nickte ich ein, stellte aber nach dem Aufwachen jedes Mal fest, dass sich nichts geändert hatte. Um vier Uhr morgens wurde mir klar, dass diese Lichter nie ausgehen würden. Es waren immer Menschen hier, die sich um Patienten im kritischen Stadium und um Schmerzpatienten kümmerten. Die Lichter wurden weitergegeben, von Hand zu Hand. Und wie an diesem Morgen würde ich auch zukünftig ein Teil davon sein. Ich wusste noch nichts, aber ich gehörte dazu.
In der Synagoge meines Großvaters gab es ein Licht, das nie ausging. Jede Synagoge beherbergt solch ein ewiges Licht als Zeichen dafür, dass Gott an diesem Ort stets gegenwärtig ist. Beruhigt stand ich auf und legte mich ins Bett. Ich kann mich nicht erinnern, in den nächsten vier Jahren noch einmal Zeit gehabt zu haben, aus diesem Fenster zu schauen.
Es ist undenkbar, jahrelang rund um die Uhr zu lernen, ohne sich dabei zu verändern. Wir arbeiteten sieben Tage die Woche, meistens sechsunddreißig Stunden am Stück mit einer darauffolgenden zwölfstündigen Pause. Wenn wir frei hatten, schliefen wir. Das Verleugnen körperlicher Bedürfnisse wie schlafen, entspannen und sogar essen war ein wesentlicher Bestandteil des Lehrplans. Niemand beschwerte sich. Wir alle führten das gleiche Leben. Viele der Räume, in denen ich arbeitete und lernte, hatten keine Fenster. Oft wusste ich nicht einmal, welchen Wochentag wir hatten oder wie spät es war. Ich erinnere mich daran, wie ich die Krankenschwestern Tag für Tag beim Schichtwechsel an mir vorbeigehen sah. Ich schaute dann auf, erblickte Miss Harrison und wusste, dass ein neuer Tag angebrochen sein musste. Oft hatte ich nicht geschlafen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Einmal besuchte mich während meines Praktikums meine Mutter im Wohnheim der Klinik und stellte beim Öffnen meines Kleiderschranks erschrocken fest, dass ich keinen Wintermantel hatte. „Wo ist dein Mantel?“, rief sie. Ich hatte nicht gemerkt, dass Winter war. Ich war über ein Jahr lang nicht aus der Klinik und deren unterirdischem Tunnelsystem herausgekommen.
Ich erinnere mich an einen jener seltenen freien Sommernachmittage, als ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr, um meine Eltern zu besuchen. Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich unbewusst die Armvenen der sommerlich gekleideten Menschen um mich herum in Augenschein nahm und mir überlegte, ob ich die Nadel schon so geschickt handhaben könnte, um ihnen erfolgreich Blut abzuzapfen. Eine medizinische Ausbildung verändert den Blickwinkel, und sie beeinflusst das Denken. Allmählich wurde vieles, was in meinem bisherigen Leben von zentraler Bedeutung gewesen war, unwichtig und verschwand im Hintergrund, während ich auf anderes, was mir nun lohnender erschien, allzu großen Wert legte. Nach einiger Zeit vergaß ich ganz einfach vieles, was mir wichtig gewesen war. Vor fünfunddreißig Jahren war ich in meinem Lehrgang eine von wenigen Frauen, und meine männlichen Kollegen hielten es im Allgemeinen für selbstverständlich, dass ich als Frau im Umgang mit den emotionalen Nöten der Patienten über mehr Geschick verfügte, besser Trost spenden könnte. Sie hätten sich nicht ärger täuschen können. In vieler Hinsicht waren meine emotionalen Fähigkeiten weniger gut entwickelt als bei manchen Männern, mit denen ich täglich zusammenarbeitete. In den vier Jahren meines Medizinstudiums hatte ich erfolgreich mit Männern konkurriert und wie sie konsequent jene Eigenschaften kultiviert, die in diesem Milieu am meisten galten: Entschlossenheit, Objektivität, analytisches Denken und die Fähigkeit, kompetent und klar zu urteilen. Mir waren diese Eigenschaften vielleicht sogar noch wichtiger als den Männern, weil ich gegen etwas ankämpfte, das die meisten von ihnen als geschlechtsspezifisches Handicap betrachteten. Doch ebendiese Kollegen, die sonst so eifrig bestrebt waren, mich wie einen Mann zu behandeln, wandten sich oft an mich, wenn sie in Situationen gerieten, die ihnen unangenehm waren. Arbeiteten wir beispielsweise alle in der Ambulanz oder in der Notaufnahme – jeder mit seinem Patienten in einem eigenen Behandlungsraum beschäftigt –, konnte es passieren,