Anfangs war ich überrascht, dass Menschen mit der gleichen Krankheit völlig verschiedene Geschichten darüber erzählten. Später begannen mich diese Geschichten und die Menschen, die versuchten, in ihren Problemen einen Sinn zu finden, ebenso zu rühren wie die unvermutete Stärke und die tiefen Gefühle der Patienten. Dieses kostbare Muster, aus dem das Leben besteht, zu enthüllen war Sache der Medizin, des Gebietes, das ich studierte und auf dem ich handelte. Schließlich schlugen mich diese Geschichten, die mich persönlich mehr bereicherten als eine richtig gestellte Diagnose, immer stärker in den Bann. Sie trugen dazu bei, dass ich langsam stolz darauf wurde, ein menschliches Wesen zu sein.
Der Grund für mein Interesse an den Geschichten lag indessen tiefer. Ich leide ebenfalls an einer Krankheit, der Crohn-Krankheit, einer chronischen, fortschreitenden Darmerkrankung, die ich im Alter von fünfzehn Jahren bekommen hatte. Die Gespräche mit den Patienten linderten meine Einsamkeit. Sie waren etwas anderes als die lockeren Späße und der kumpelhafte Umgang mit den anderen Assistenzärzten. Hier ging es um den Austausch mit Menschen, die sich in einer Krisensituation, in einer Art Belagerungszustand befanden. Ich hörte Menschen zu, die litten und auf ihr Leiden in einer Weise reagierten, die so einmalig war wie der Fingerabdruck eines jeden. Ihre Geschichten waren anregend, rührend, wichtig. Und mit der Zeit begann die Wahrheit, die darin steckte, mich zu heilen.
Jeder Mensch ist eine Geschichte. Noch in meiner Kindheit saßen die Menschen um den Küchentisch herum und erzählten sich ihre Geschichten. Heutzutage tun wir das kaum mehr. Dabei ist es nicht nur ein Zeitvertreib, um den Tisch herumzusitzen und einander Geschichten zu erzählen – am Küchentisch geben wir unsere Lebensweisheit an die anderen weiter. Das Erzählen hilft uns, ein der Erinnerung wertes Leben zu leben. Trotz der beachtlichen Leistungsfähigkeit unserer Technik führen viele von uns kein sonderlich gutes Leben. Vielleicht sollten wir einander wieder besser zuhören.
Die meisten Geschichten, die uns heute erzählt werden, sind von Schriftstellern beziehungsweise Dramatikern verfasste fiktionale Storys, die einen Anfang und ein Ende haben und von Schauspielern aufgeführt werden. Die Geschichten, die wir einander erzählen können, haben weder Anfang noch Ende. Konkrete Erfahrungen stehen in ihnen jedoch an erster Stelle. Selbst wenn sie sich vielleicht zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zugetragen haben, rufen sie in uns ein vertrautes Gefühl hervor. Denn in gewisser Weise handeln sie von uns allen.
Geschichten, die auf Erfahrung beruhen, brauchen Zeit. Wir haben mit dem Geschichtenerzählen aufgehört, als uns die Zeit abhandenkam, innezuhalten, nachzudenken und zu staunen. Das Leben rast an uns vorbei, und nur wenige Menschen sind stark genug, das Tempo aus eigener Kraft zu drosseln. Meist sind es unvorhergesehene Ereignisse, die uns zum Innehalten zwingen und uns Zeit schenken, uns an den „Küchentisch des Lebens“ zu setzen, unsere eigene Geschichte zu verstehen und sie zu erzählen, aber auch, den Geschichten anderer Menschen zu lauschen und zu erkennen, dass die Welt aus lauter solchen Geschichten besteht.
Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir innehalten oder, was viel öfter geschieht, unsere Betriebsamkeit gestoppt wird, hoffen wir, bestimmte Dinge im Leben „hinter uns“ bringen und dann wie gewohnt weitermachen zu können. Erst nach einer solchen Unterbrechung erkennen wir, dass uns bestimmte Probleme unser Leben lang begleiten werden. Wir werden immer wieder mit ihnen konfrontiert werden, und zwar jedes Mal im Zusammenhang mit einer neuen Geschichte. Wir werden ihnen aber auch von Mal zu Mal mit größerem Verständnis begegnen. Irgendwann werden wir sie nicht mehr von unseren Wünschen und unserem Wissen unterscheiden können. Auf diese Art schult uns das Leben.
Wenn wir keine Zeit haben, uns gegenseitig zuzuhören, rennen wir zu Experten, die uns sagen sollen, wie wir leben sollen. Je weniger Zeit wir am Küchentisch verbringen, desto zahlreicher werden die Ratgeber in den Buchhandlungen und in unseren Bücherregalen. Aber die Lektüre solcher Bücher ist etwas ganz anderes, als jemandem zuzuhören, der über eigene Erlebnisse erzählt. Es mag sein, dass wir vergessen haben, wie man einander zuhört, wie man die Bedeutung einer Geschichte erkennt, weil wir nicht mehr bereit dazu sind. Stattdessen geben wir uns mit den gewöhnlichen Ereignissen des Lebens zufrieden. Wir sind einsam geworden, verbringen unser Leben lieber lesend und zuschauend als mitteilend und mitwirkend.
Die Geschichte eines jeden ist bedeutsam. Die Geschichte einer hochgebildeten und einflussreichen Person enthält oft genauso viel Weisheit wie die Geschichte eines Kindes, und das Leben eines Kindes vermag uns genauso viel zu lehren wie das Leben eines Weisen. Die meisten Eltern wissen, wie wichtig es für das Selbstverständnis ihrer Kinder ist, die eigene Geschichte immer wieder zu hören. So erfahren Kinder auch, zu wem sie gehören. Einer erzählt für den anderen, und hinter all diesen Geschichten steckt eine große Geschichte. Je besser wir zuhören, umso deutlicher kristallisiert sich diese Geschichte heraus. Sie handelt von unserer wahren Identität, davon, wer wir sind, warum wir hier sind und was uns trägt. Und in allen Geschichten geht es um dieselben Dinge, um das Besitzen und Verlieren, um Sex und Macht, den Schmerz und das Staunen, um Mut, Hoffnung und Heilung, um die Einsamkeit und die Erlösung von der Einsamkeit und um Gott.
Geschichten, die uns in unserem tiefsten Innern berühren, rütteln uns wach und wecken ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Manchmal, wenn ich Leute darum bitte, mir ihre Geschichte zu erzählen, berichten sie mir, was sie im Laufe ihres Lebens erreicht, erworben oder aufgebaut haben. Viele Menschen kennen ihre eigentliche Geschichte gar nicht, nämlich die, die davon handelt, wer sie sind, nicht davon, was sie getan haben. Letztlich geht es darum, was wir durchgestanden und riskiert haben, um uns etwas aufzubauen, was wir während unseres Lebens empfunden, gedacht, gefürchtet und entdeckt haben.
Alle wirklichen Geschichten sind wahr. Es kommt vor, dass mir ein Patient seine Geschichte erzählt und seine Angehörigen Protest erheben: „So ist es ja gar nicht gewesen, es war vielmehr so und so.“ Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass in solchen Fällen beide Versionen aufrichtig gemeint sind und eine Wahrheit enthalten und vermutlich keine der beiden „korrekt“ ist im Sinne einer exakten Beschreibung des Ereignisses. So verstanden, geben Geschichten persönliche Erfahrungen wieder, die auf bestimmten Ereignissen im Leben beruhen, und nicht diese Ereignisse selbst. Wir alle erleben das, was uns widerfährt, auf individuelle Art und interpretieren und erzählen es auch entsprechend subjektiv – so wie auch die Wahrheit in höchstem Maße subjektiv ist.
Alle Geschichten, so einmalig, wie sie sind, bringen bestimmte Vorlieben zum Ausdruck, mischen Fakten mit Interpretationen. Darin liegt ihre Stärke, denn dadurch wird es uns möglich, etwas Vertrautes mit neuen Augen zu sehen. In einem solchen Moment nehmen wir am Leben eines anderen teil. Die Deutung, die wir der Geschichte eines anderen geben, mag sich von der Deutung des Erzählers unterscheiden. Das ist nicht weiter schlimm. Fakten vermitteln uns zwar Wissen, aber Geschichten fuhren uns zur Weisheit.
Die besten Geschichten haben viele Bedeutungen, die zu entschlüsseln wir erst lernen müssen. Beschäftigt man sich nach Jahren noch einmal mit einer Geschichte, wundert man sich oft, dass man sie früher ganz anders verstanden hat, und bedenkt nicht, dass ein weiterer Leser sie vermutlich wieder anders interpretieren wird. Ebenso wie die Geschichten selbst sind all diese Deutungen wahr.
Will man die eigene Geschichte kennenlernen, muss man eine persönliche Antwort auf das Leben finden und sich darum bemühen, offen für Erfahrungen zu sein – so wie Kinder, die häufig viel intensiver als Erwachsene leben. Kinder achten auf Einzelheiten. Für ein Kind besteht die Zeit zwischen Nikolaus und Weihnachten aus Tausenden von Augenblickserlebnissen. Sie alle zu durchleben und sich danach zu richten dauert seine Zeit. Ist man über vierzig, scheint dagegen drei Mal pro Jahr Weihnachten zu sein.
Ich war einmal Kinderärztin, bin es aber nicht mehr. Ich habe mir viele Jahre lang die Geschichten von Krebskranken und Menschen, die an anderen lebensbedrohlichen Krankheiten litten, angehört und habe ihnen beratend zur Seite gestanden. Von ihnen habe ich gelernt, den Augenblick wieder zu genießen, die Annehmlichkeit einer heißen Tasse Kaffee beispielsweise oder die Anwesenheit eines