Dem Leben vertrauen. Rachel Naomi Remen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rachel Naomi Remen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812856
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gemacht. Wenn es uns so vorkommen sollte, als hätten wir keine Geschichte, dann nur deshalb, weil wir unserem Leben nicht genügend Beachtung schenken. Das Leben der meisten Menschen ist reicher und bedeutungsvoller, als sie ahnen.

      Was wir einmal gehört oder erlebt haben, bewahren wir sorgfältig in unserem Gedächtnis auf. Die meisten Geschichten tragen wir gleichsam ungelesen bei uns, bis wir bereit beziehungsweise fähig sind, sie zu lesen. In diesem Augenblick entfalten sie eine bisher ungeahnte Bedeutung für uns. Es ist, als hätten wir, manchmal über viele Jahre hinweg und ohne es zu wissen, kleine Einzelteile einer größeren Weisheit gesammelt.

      Meine Mutter war eine Frau mit vielen Geschichten. Als Gemeindeschwester hatte sie an zahllosen Küchentischen gesessen, Tee getrunken und zugehört. Mit vierundachtzig Jahren entschloss sie sich notgedrungen zu einer Bypassoperation. Das Risiko, dass sie den Eingriff nicht überleben würde, stand allerdings vier zu zehn, war also ziemlich hoch. Aber meine Mutter war keine gewöhnliche alte Frau. Sie hatte stets mit Risiken gelebt, und deshalb schienen ihr die Aussichten nicht so schlecht. Zwei Stunden vor dem Eingriff kam ich in ihr Krankenzimmer und musste feststellen, dass die Operation vorverlegt worden war und mir gerade noch Zeit blieb, sie zu küssen, bevor man sie in den OP brachte. Obwohl sich die Umstände so plötzlich geändert hatten und die Aussichten alles andere als gut waren, war meine Mutter friedlich, ja strahlte sogar.

      „Oh, gut, dass du hier bist!“, begrüßte sie mich. „Eines wollte ich dir noch sagen. Egal, wie diese Sache hier ausgeht, ich bin damit zufrieden, und ich hoffe, dass auch du alles tun wirst, dich damit zufriedenzugeben.“ Dann lächelte sie ihr charmantes, verwegenes Lächeln. Es waren die letzten klaren Worte, die sie zu mir sagte.

      Ich habe lange darüber nachgedacht und versucht zu verstehen, was sie wohl bedeuteten. Meine Mutter hatte eine Menge geleistet in ihrem Leben, aber ich konnte nicht glauben, dass es dies war, was sie dem möglichen Tod so gelassen und zufrieden ins Auge blicken ließ. Allmählich ist mir dann klar geworden, dass der Schlüssel zu dieser Art von Zufriedenheit in der inneren Welt liegt, der Welt der Geschichten und Erinnerungen. In dieser Welt spielen irgendwelche Erfolgserlebnisse keine Rolle. Hier geht es um den Reichtum eines gelebten Lebens und die Fähigkeit, von der eigenen Lebenserfahrung anderen etwas mitzuteilen.

      Nachdem ich nun fünfunddreißig Jahre als Ärztin tätig bin und bereits über vierzig Jahre selbst an einer lebensbedrohlichen Krankheit leide, habe auch ich ein großes Reservoir an Geschichten, solchen, die ich erlebt habe und solchen, die mir erzählt wurden. Ich kann über mein Leben als Tochter, als Enkelin, als Freundin, Patientin und Ärztin berichten, kann Geschichten erzählen, die andere Ärzte und Patienten mir anvertraut haben, von meiner Katze reden oder über Dinge, die ich nicht verstehe. Wenn ich an Ihrem Küchentisch sitzen würde, wie es Hausärzte einst oft taten, würde ich Ihnen einige dieser Geschichten mitbringen. Jede Einzelne von ihnen hat mir dabei geholfen, zu leben.

      ERSTER TEIL

      Lebenskraft

      Klar, einzigartig, geheimnisvoll, ästhetisch. Als ich seinerzeit meinen Doktor der Medizin erwarb, hätte ich das Leben nicht auf diese Weise beschrieben. Denn ich hatte noch nicht begriffen, was Leben wirklich bedeutet, wusste noch nichts von der Liebe und der Lebenskraft, die in allem und jedem steckt. Das Leben hatte mich noch nicht gebeutelt, und das Gefühl, inmitten der tiefsten Schwäche von seiner Kraft überrascht zu werden, kannte ich noch nicht. Ich wusste nicht, was Ehrfurcht ist. Ich glaubte, das Leben sei etwas Zerbrechliches und ich, ausgerüstet mit den mächtigen Werkzeugen der modernen Wissenschaft, sei dazu angetreten, schadhafte Stellen zu reparieren. Auch mich selbst hielt ich für zerbrechlich. Aber das Leben hat mich eines Besseren belehrt.

      Viele meiner Patienten suchen mich auf, weil die moderne Medizin bei ihnen versagt hat oder deren Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Oft wissen sie nicht mehr weiter und hoffen einfach auf die Stärkung ihrer Lebenskraft. Nachdem ich mir in den letzten zwanzig Jahren Hunderte von Geschichten angehört habe, glaube ich sagen zu können, dass viele gar nicht wissen, wie stark ihre Lebenskraft ist und in welchen Formen sie sich ihnen darbietet. Und doch hat jeder von uns ihre Macht schon einmal gespürt. Obwohl wir zweifeln, sind wir mit den Narben von zahlreichen Heilungsprozessen bedeckt.

      Die Therapie beginnt gewöhnlich an diesem Punkt – wir reden über das Leben und unsere Einstellung dazu, über unsere Erfahrungen, unser Vertrauen ins Leben oder unser Misstrauen ihm gegenüber. Es geht darum, den Blick für das Leben zu schärfen. Zu Beginn ist das Leben reine Kraft. Nachdem nun mehr als fünfzig Lebensjahre hinter mir liegen, habe ich gelernt, dass man dieser Kraft vertrauen kann.

      Pflaumenblüten

      Vor vielen Jahren sah ich mich während eines Einkaufsbummels mit einem Freund zusammen in einem großen Geschäft für japanische Möbel um, weil ich ihm bei der Einrichtung seines Hauses helfen sollte. Er wurde sofort von der einzigen Verkäuferin in Beschlag genommen, einer winzigen Frau im Kimono, die ihn am Arm fasste und ihn laut und eindringlich in eine Diskussion über japanische Malerei verwickelte. Sie reichte ihm gerade bis zum Ellbogen, und ungeachtet ihrer Größe war mir ihr Verhalten unangenehm, und ich verdrückte mich in Richtung Tür, versteckte mich hinter den Truhen, um abzuwarten, bis er seine Besorgungen erledigt hatte. Ich glaubte, mich gut genug versteckt zu haben, als sich die Frau unversehens umdrehte und zielstrebig auf mich zukam. Ich bemerkte, dass sie ziemlich alt war, außerdem schien sie taub zu sein, was vielleicht der Grund für ihre laute Art war. Sie packte mich am Arm und zog mich durch den Verkaufsraum, ermunterte mich mit kleinen, schnalzenden Lauten und einem wiederholten „Kommen Sie, kommen Sie“, ihr zu folgen. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber für ein so zierliches Persönchen hatte sie einen festen Griff. Ich ging also mit, gefolgt von meinem Freund, der sich unverhohlen amüsierte, dass all mein Sträuben vergeblich gewesen war.

      In dem Raum, in den sie uns führte, hingen nur vier Schriftrollen, an jeder Wand eine. Auf ihnen waren die Jahreszeiten dargestellt. Im Unterschied zu den Bildern im Verkaufsraum hatten diese hier Museumsqualität. Auf einem erblühte ein alter und gekrümmter Zweig mit Hunderten von winzigen rosa Blüten. Der Zweig und die Blüten waren von Schnee bedeckt. Ein wunderbares Bild.

      Sie veranlasste mich, vor das Bild zu treten, und sagte: „Sehen Sie, sehen Sie? Februar! Die Pflaumenblüte beginnt.“ Auf ihre merkwürdig eindringliche Art erzählte sie mir, dass der Pflaumenbaum leiden müsse, weil er als Erster blühe, nämlich im Februar, wenn oft noch winterliche Verhältnisse herrschten. Mit ihrer schmalen, arthritischen Hand berührte sie den Schnee auf dem Zweig und nickte lebhaft. Dann schaute sie mich scharf an, schüttelte leicht meinen Arm und sagte: „Die Pflaumenblüte ist der Anfang. Sie gleicht den japanischen Frauen, die so weich, zart und sanft wie Pflaumenblüten sind … aber sie überleben.“

      Das ging mir lange nicht aus dem Kopf. Als Ärztin glaubte ich zu wissen, was Überleben bedeutete, schließlich arbeitete ich im „Überlebensgeschäft“. In meinem Bereich hing das Überleben von medizinischer Fachkenntnis, Kompetenz, von Geschicklichkeit und vom Handeln ab. Was die Japanerin mir erzählt hatte, ergab für mich keinen Sinn.

      Noch aus einem weiteren Grund verwirrte mich der Vorfall. Ähnlich wie der Pflaumenbaum, der zu früh im Jahr blüht, war ich zu früh geboren worden. Da meine Mutter sich während der Schwangerschaft eine Blutvergiftung zuzog, musste sie durch Kaiserschnitt entbunden werden. Ich wog viel zu wenig, und damals, im Februar 1938, erwartete wohl kaum jemand, dass ich überleben würde. Während meiner Kindheit erzählte man mir immer wieder, ich hätte nur durch Einsatz eines Brutkastens überlebt. Viele Jahre lang empfand ich gegenüber dieser Technik, die mir das Leben gerettet hatte, große Dankbarkeit. Später, als junge Kinderärztin, arbeitete ich auf einer Intensivstation für Frühgeborene, auf der weitaus leistungsstärkere Apparate eingesetzt wurden als in meiner Kindheit, um die Babys am Leben zu erhalten. Doch was die alte Japanerin gesagt hatte, machte mich stutzig. Vielleicht war Überleben nicht nur eine Frage der Technik, vielleicht steckte in jedem dieser winzigen, schwächlichen rosa Säuglinge eine angeborene Kraft, die auch mich damals befähigt hatte zu überleben. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.

      In diesem Zusammenhang kam mir ein Frühlingstag in den Sinn, an dem ich – damals gerade vierzehn Jahre alt – die Fifth Avenue in New York City entlangging und dabei erstaunt