Das Richtige tun
Ich hatte George zum ersten Mal getroffen, als er im vierten Schuljahr war; in diesem Jahr hatte man bei seinem Vater Prostatakrebs festgestellt. Nun, in seinem letzten Schuljahr, kam er wegen eines Problems zu mir, das er, wie er meinte, mit niemand anders besprechen konnte. Damals, als sein Vater erkrankt war, hatte George vor allem sein Mitbewohner Michael zur Seite gestanden. Inzwischen befand sich Michael in Schwierigkeiten; Er war in eine Gruppe geraten, die zur Unterhaltung Kokain nahm. George hatte das Gefühl, dass Michael dabei war, süchtig zu werden. Alle vorsichtigen Bemühungen, dies anzusprechen, verhallten ungehört. Michael war ohne Weiteres in der Lage, seine Sucht zu kontrollieren, und brachte in der Schule weiterhin gute Leistungen, sodass außer George niemandem etwas auffiel.
George war praktizierender Buddhist. Seiner Meinung nach war es ein essenzieller Bestandteil dieser Lehre, etwas weder zu verurteilen noch sich darin einzumischen. Es war George nicht leichtgefallen, eine solche Haltung einzunehmen. Zu Hause bei seinen Eltern war es üblich, einander zu kritisieren und vorzuschreiben, wie man zu leben hatte. Es fiel George zunehmend schwerer, Michael gegenüber seinen vom Buddhismus geprägten Standpunkt beizubehalten, denn Michael wurde in seinem Verhalten immer unberechenbarer. George wusste nicht mehr, was er tun sollte, und war gekommen, um sich Klarheit zu verschaffen.
Eines Abends, als George eine junge Frau mit nach Hause brachte, die ihm viel bedeutete, kam es zum Eklat. Als er die Wohnung betrat, lag Michael ohne Hemd und völlig weggetreten im Wohnzimmer auf dem Boden. Er hatte sich übergeben und dabei mit seinem Erbrochenen besudelt.
„Ich sah den Ausdruck in Liz’ Gesicht und rastete total aus“, erzählte mir George reumütig. „Ich riss Michael hoch, schob ihn ins Bad, drehte die Dusche auf und schubste ihn hinein. Ich weiß noch, wie ich dastand und das kalte Wasser auf uns beide spritzte, wie ich ihn gegen die Wand knallte und ihm die gemeinsten Dinge an den Kopf warf. Ich beschimpfte ihn wüst. Ich sagte ihm alles, was seit Monaten in mir gärte, was ich aber unterdrückt hatte. Und dann stellte ich ihm ein Ultimatum: Entweder würde er mit dem Koksen aufhören oder ausziehen. Es war einfach nicht zu ertragen, mit anzusehen, wie er sich zugrunde richtete. Sobald er wieder einigermaßen bei sich war, zog ich mich um und ging mit Liz zu ihr nach Hause.“
Am nächsten Morgen war George zerknirscht und deprimiert. Zehn Jahre buddhistischer Praxis lagen hinter ihm, und er hatte sich dennoch genauso verhalten, wie es sein Vater getan hätte. Es war ihm nicht gelungen, seinem Anspruch gerecht zu werden und mit Mitleid zu reagieren. Er hatte Michael verurteilt und war bitter enttäuscht von sich. Er fürchtete sich davor, in die Wohnung zurückzukehren. Vielleicht würde Michael nicht mehr dort sein.
Aber Michael war dort. Blass und offensichtlich leidend, aber in aufrechter Haltung, saß er auf der Couch und wartete. Sie redeten miteinander. George erfuhr Dinge, von denen er nichts gewusst hatte. Zum Beispiel, dass Michael, das einzige Kind prominenter und reicher Eltern, von fremden Leuten, die man dafür bezahlt hatte, aufgezogen und mit sieben Jahren in ein Internat gesteckt worden war. Zum Beispiel, dass man ihn jeden Sommer in ein Ferienlager geschickt hatte, dass er alles bekommen hatte, was er sich gewünscht hatte, aber niemand da gewesen war, der ihn beachtet oder sich für ihn Zeit genommen hätte. Niemand hatte sich je so um ihn und das, was er machte, gekümmert wie George in der vergangenen Nacht.
Unter der Dusche hatte Michael begriffen, dass er George etwas bedeutete, dass sein Verhalten George quälte. Leise erzählte er George, dass er in Schwierigkeiten stecke, es seit Monaten wisse, aber nicht die geringste Hoffnung gehegt habe, dass irgendjemand bereit sein würde, ihm zu helfen oder sich Zeit für ihn zu nehmen. „Hilfst du mir, George?“, fragte er und fing an zu weinen.
Das alles geschah vor einigen Jahren, und die Geschichte nahm ein glückliches Ende. Ein Jahr lang nahmen die beiden Freunde jeden Abend an einer Therapie für Kokainsüchtige teil. Es fiel ihnen nicht leicht, aber gemeinsam schafften sie es. Michael ist jetzt ein erfolgreicher Geschäftsmann, hat eine liebevolle Frau geheiratet und ist inzwischen Vater eines Kindes. Und George hat, wenn er über diese Zeit nachdenkt, das Gefühl, etwas Wichtiges gelernt zu haben.
„Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen. Eingespannt in meine Religion und die Berufsausbildung, habe ich immer an mir gearbeitet, um in meinen Reaktionen und Gefühlen vorbildlich zu werden. Dabei ist mir nie eingefallen, dass meine Persönlichkeit so in Ordnung sein könnte, wie sie war. Wenn Gott gewollt hätte, dass Michael mit dem Buddha zusammenlebte, hätte er ihm den Buddha als Zimmergenossen gegeben. Stattdessen gesellte er Michael einen engagierten Jungen aus der Mittelschicht zu, der aus einem konservativen Elternhaus im Mittleren Westen stammte und dessen Eltern niemals auch nur angetrunken waren. Als ich meiner Persönlichkeit entsprechend zu handeln begann, tat ich endlich das Richtige. Im Grunde hatte ich Michael nichts anderes zu geben als meine Integrität. Und das genügte vollauf.“
Begegnung mit Mr. Richtig
Vor längerer Zeit, während einer Reise nach Kanada, besuchte ich einen alten Friedhof und kam an einen Grabstein mit folgender Inschrift: „Hier ruht George Brown, geboren wurde er als Mensch, gestorben ist er als Gastroenterologe“. Ich muss damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein und weiß noch, dass mich diese Inschrift begeisterte. Medizinischen Fachkenntnissen wurde in meinem Elternhaus mit Hochachtung begegnet. Der Verstorbene hatte also im Leben viel erreicht. Inzwischen bin ich von medizinischen Fachkenntnissen nicht mehr so begeistert. Der Wert des Lebens lässt sich wohl eher an der Güte und weniger an der Kompetenz eines Menschen ermessen.
Eine meiner früheren Patientinnen, eine Psychologin und überdies eine gute Sportlerin, joggte jeden Morgen im Park in der Nähe ihres Hauses, ehe sie in ihre Praxis ging. Dabei traf sie oft einen Kollegen, einen weithin bekannten Psychiater. Ohne sich zu verabreden, joggten sie mehrere Jahre lang immer zur gleichen Zeit. Als sie plötzlich an Krebs erkrankte, gab ihr Laufgenosse das Joggen auf. Meine Klientin ist eine starke und entschlossene Frau, und trotz einer schwierigen Operation und Chemotherapie lief sie weiterhin jeden Tag. Nachdem sie einige Monate lang allein gejoggt war, versuchte sie, den Psychiater in seiner Praxis anzurufen, aber er rief nie zurück.
Ein Jahr nach Beendigung der Chemotherapie wählte sie eines Morgens eine andere Laufstrecke und sah vor sich plötzlich den Psychiater laufen. Da sie zwanzig Jahre jünger war als er, holte sie ihn mühelos ein. Als sie nebeneinander herliefen, teilte sie ihrem ehemaligen Laufgenossen mit, dass sein Schweigen sie gekränkt habe. Die Berufsgemeinschaft, der sie beide angehörten, war klein, und fast jeder hatte von ihrem Krebs gewusst. Sicher hatte auch er davon gehört. Seine Antwort schockierte sie. Er erwiderte: „Tut mir leid. Was hätte ich sagen sollen? Mir ist einfach nicht das Richtige eingefallen.“
Ich fragte sie, was sie gerne von ihm gehört hätte. Sie lächelte traurig: „Oh, so etwas wie ‚Ich habe gehört, dass Sie ein schweres Jahr hinter sich haben. Wie geht es Ihnen jetzt?‘ Irgend etwas Menschliches.“
Zurück zu den einfachen Dingen
Vor einigen Jahren hat man mich eingeladen, bei einem Treffen der American Women’s Medical Association vor einer Gruppe von Ärztinnen einen Vortrag über meine Arbeit mit krebskranken Menschen zu halten. In der Diskussion nach dem Vortrag erklärte eine Internistin, dass sie den Umgang mit Krebskranken für schwierig halte und deshalb vermeide. Es frustriere sie, sich um todkranke und sterbende Patienten zu kümmern. „Ich hasse es, wenn keine Therapie mehr anschlägt, wenn ich nichts mehr tun kann“, gestand sie. Einige andere Frauen nickten zustimmend.
Ich fragte die Frauen, wann sie sich in einer solchen Situation zum ersten Mal unwohl gefühlt hätten. Überraschenderweise stimmten sie darin überein, dass dies vor ihrer medizinischen Ausbildung nicht der Fall gewesen sei. Im weiteren Verlauf der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass wir uns – konfrontiert mit Krebspatienten – vor allem in unserer Eigenschaft als Ärztinnen und weniger als Frauen unangenehm berührt fühlten. Als Frauen empfanden wir es als natürlich, einfach mit jemandem zusammen zu sein. Allmählich wurden wir uns über manche Dinge klar, zum Beispiel darüber, dass in existenziellen Situationen – beispielsweise, wenn jemand starb oder ein