Ich nahm die Stelle an. Wenn es mir zu viel wurde, bat ich andere um Hilfe. Früher wäre ich zu zornig und verbittert dazu gewesen. Es war ein sehr wichtiges Jahr für mich.
Viele Jahre später, in einem Seminar über ayurvedische Medizin, lernte ich die theoretische Grundlage für diese Art von Erfahrung kennen. Der Ayurveda besagt, dass ein Unterschied zwischen der Energie selbst und dem Energiemuster oder der Energieform besteht, dem Gefäß also, durch das die Lebensenergie einer Person in einem bestimmten Moment fließt. Die Energieform ist beispielsweise Zorn, Trauer, Freude oder Enttäuschung, die Energie selbst jedoch ist das Qi oder die Lebenskraft. Im Chinesischen heißt „wütend werden“ shen qi, das heißt, „das Qi erzeugen“ beziehungsweise „die Lebenskraft steigern“. Noch immer werde ich manchmal zornig, aber meine Wut hält sich im Rahmen. Sie ist keinesfalls mit den Gefühlen zu vergleichen, die in all den Jahren mein Leben begleiteten. Diese Wut hat ihren Zweck erfüllt. Sie hat meine persönliche Integrität verteidigt, hat Nein gesagt zu den Einschränkungen, die meine Krankheit mir auferlegte. Aber ich hatte etwas anderes als Wut nötig, um Ja zum Leben zu sagen.
ZWEITER TEIL
Urteile
Unsere Lebenskraft wird weit häufiger durch bestimmte Urteile geschwächt als durch Krankheit. Die Art, wie wir uns selbst bewerten, oder das Urteil anderer Menschen über uns kann unsere Vitalität, unsere Spontaneität und unsere natürliche Ausdrucksweise ersticken. Unglücklicherweise sind Beurteilungen etwas Alltägliches. Jemanden zu finden, der uns liebt, wie wir sind, kommt ebenso selten vor wie jemandem zu begegnen, der sich selbst hundertprozentig annimmt.
Urteile werden nicht nur in Form von Kritik gefällt. Ein Urteil kann auch anerkennend ausfallen. Anerkennung hat weit weniger akute negative Auswirkungen als Kritik, fügt jedoch auf wesentlich subtilere Weise ebenfalls Schaden zu. Denn auf Anerkennung angewiesen zu sein bedeutet, keinen ruhenden Pol in sich zu haben. Wie jedes Urteil stachelt Anerkennung zu einem unaufhörlichen Bemühen an. Sie führt zur Verunsicherung darüber, wer wir sind, lässt uns an unserem wahren Wert zweifeln. Das gilt für die Anerkennung, die wir uns selbst zukommen lassen, ebenso wie für die, die wir anderen zollen. Anerkennung ist nichts Verlässliches. Sie kann jederzeit widerrufen werden, egal, welchen Rekord wir aufgestellt haben. Sie ist genauso nahrhaft wie Zuckerwatte. Und doch verbringen viele von uns ihr Leben damit, ihr nachzujagen.
Manche Leute investieren enorm viel Zeit, um sich zu überlegen, welchen Eindruck ihre Worte und Verhaltensweisen machen. Sie überprüfen, wie sie bei ihrem „Publikum“ ankommen, spielen ihre Rolle stets um der Anerkennung willen. Andere trennen zwischen ihren Gedanken und ihren Worten, was ihnen ermöglicht, nur das zu sagen, was ihrer Meinung nach den anderen behagt. Dieses Sichzurechtmachen und -zurechtstutzen verbraucht ungeheuer viel Energie. Vielleicht sind wir schon so weit, dass wir nur noch bewundern, was andere an uns bewundern, erwarten, was andere von uns erwarten, und schätzen, was andere an uns schätzen. Wir achten darauf, dass andere, die uns etwas bedeuten, uns auch lieben können. Manchmal wissen wir nicht mehr, wer wir wirklich sind.
Wir verzichten aus verschiedenen Gründen auf unsere Ganzheit. Einer der wichtigsten ist unsere Vorstellung davon, was es bedeutet, ein guter Mensch zu sein. Manchmal ist es nicht der Wunsch nach Anerkennung durch andere Menschen, sondern eine religiöse Richtung oder ein Lehrer, die uns vorschreiben, zu welchen Teilen von uns wir stehen und welche wir verbergen sollen. Das ursprüngliche Selbst, ein komplexes, lebendiges Wechselspiel scheinbar gegensätzlicher Eigenschaften, wird auf eine vorgegebene Norm dessen reduziert, was gesellschaftlich und intellektuell erwünscht ist. Nur wenige von uns sind imstande, sich so anzunehmen, wie sie sind. Vielleicht schämen wir uns sogar unserer Ganzheit.
Angewohnheiten oder Eigenschaften, die uns vielleicht unser Leben lang peinlich waren, werden oft zum Ausgangspunkt unserer Heilung. Jedem von uns wurde beigebracht, dass bestimmte Verhaltensweisen den gesellschaftlichen und familiären Normen nicht entsprechen. Jede Kultur, jede Familie hat ihre Schattenseiten. Wenn uns erklärt wurde, dass „große Jungs nicht weinen“ und „eine Dame nie widerspricht“, lernten wir, unsere Gefühle und Ansichten zu leugnen und so von vornherein auf ein eigenes Urteil zu verzichten. Wir verzichteten damit auch auf unsere Ganzheit. Es ist nur zu menschlich, Ganzheit gegen Anerkennung einzutauschen. Doch Teile, die wir verleugnen, gehen nicht verloren, sie werden nur vergessen. Wir sind jederzeit in der Lage, uns an unsere Ganzheit zu erinnern. Tief in unserem Innern ist sie sicher aufgehoben.
Eine der dramatischsten Manifestationen der Lebenskraft kann man im Pflanzenreich beobachten. Wenn die Zeiten hart sind und es wegen Nährstoffmangel nicht zur Blüte kommt, entwickeln bestimmte Pflanzen Sporen. Diese Pflanzen haushalten mit ihrer Lebenskraft, mauern sie gewissermaßen ein, um zu überleben. Das ist eine wirksame Strategie. Jahrtausendealte Sporen, die man in Mumien gefunden hatte, keimten und gediehen, als man sie mit den erforderlichen Nährstoffen versorgte. Auch Kinder bilden „Sporen“, wenn niemand ihnen zuhört. In einer feindlichen Umgebung, das heißt, wenn sie beurteilt, kritisiert und durch Anerkennung verformt werden, um bestimmten Erwartungen zu genügen, und ihre natürliche Entwicklung nicht gefördert wird, mauern Kinder die ungeliebten Teile ihrer Persönlichkeit ein. Viele Menschen bilden schon in früher Jugend ihre Sporen aus und behalten sie fast ihr ganzes Leben. Doch dies ist eine Überlebensstrategie, kein wirkliches Leben. Sporen wachsen nicht. Sie halten durch. Was dem Überleben dient, muss dem Leben selbst nicht unbedingt förderlich sein.
Pflanzensporen sind Opportunisten. Ihre Lebenskraft ist in ständiger Bereitschaft, sich zu entfalten, tastet die Umgebung ab, hält Ausschau nach der ersten Gelegenheit, um sich bis zur Blüte zu entwickeln. Aber viele Menschen vergessen, dass das Ausbilden einer Spore nur als temporäre Strategie taugt. Nur wenige überprüfen Umgebung und Milieu, wie es Pflanzensporen tun, um festzustellen, ob sich die Bedingungen zu ihren Gunsten gewandelt haben, sodass Ganzheit wieder möglich wird. Viele von uns verbergen, was für Eltern und Lehrer inakzeptabel war, auch dann noch, wenn die Eltern längst tot sind und ihre Welt mit ihnen gestorben ist. In meiner Kindheit heulten Jungs niemals, es sei denn, sie waren Weichlinge. Natürlich wurden alle Mädchen für verweichlicht gehalten. Die Welt, in der wir jetzt leben, bietet weit größere Ausdrucksmöglichkeiten, aber wir verhalten uns oft immer noch so wie Kinder, die sich auf feindlichem Gebiet bewegen. Am bedauerlichsten ist dabei, dass wir offenbar vergessen haben, wie es sich anfühlt, ganz zu sein, was es bedeutet, zu weinen, und wie es ist, die Initiative zu ergreifen und eine eigene Meinung zu vertreten.
Uns selbst wiederherzustellen heißt, von allem, was wir in uns haben, sowohl die eine als auch die andere Seite zu akzeptieren. Wir sind ängstlich und mutig, großzügig und egoistisch, verletzlich und stark. Das eine schließt das andere nicht aus, die nur scheinbar gegensätzlichen Eigenschaften verleihen uns vielmehr die Kraft zum Leben. Das Leben ist so komplex wie wir. Manchmal liegt unsere Stärke gerade in unserer Verletzlichkeit. Aus Angst kann sich Mut entwickeln, und unsere Verwundbarkeit weist uns vielleicht den Weg zur Ganzheit. Wir leben nicht in einer Welt des Entweder-oder. Wenn wir uns selbst als „Kopf“ oder „Schwanz“ bezeichnen, werden wir unseren wirklichen Wert nie kennenlernen.
Aber durch Urteile verursachte Verletzungen heilen mit der Zeit. Es ist ein Segen, dass man mit zunehmendem Alter viele Unzulänglichkeiten als Stärken und viele Eigenschaften,