Dem Leben vertrauen. Rachel Naomi Remen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rachel Naomi Remen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783867812856
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als zuvor: „Ich möchte leben.“ Wir schauten uns eine Weile in die Augen, ohne dass er sich abwandte. Ich lächelte ihn an. „Ich möchte auch, dass Sie leben“, sagte ich.

      Es scheint plausibel, die Geschichte von Max als eine ins Unbewusste verlagerte Auseinandersetzung zu interpretieren, in der sich der alte Streit zwischen seinen Eltern fortgesetzt hat. Hin- und hergerissen zwischen dem Lebenswunsch, den seine Mutter verkörperte, und dem Wunsch, den sein Vater ihm mitgegeben hatte, nämlich dass Max verschwinden möge, hatte dieser in all den Jahren auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod balanciert. Dennoch hatte er, wenn auch unbewusst, selbst stets versucht, den Kampf auf die Spitze zu treiben, vielleicht, weil ihn die Intensität des inneren Dialogs dazu gezwungen hatte, sich wieder und wieder seiner eigenen Entscheidung zu versichern. Indem er sein Votum zigmal über den Haufen warf, konnte er, sooft er sich für das Leben entschieden hatte, seinen eigenen Wunsch spüren, nämlich zu leben. Wird eine unbewusste Auseinandersetzung mit solcher Vehemenz geführt, kann es für die betreffende Person notwendig werden, sich Unfallrisiken und gefährlichen Situationen auszusetzen, um die Entscheidung über Leben und Tod immer aufs Neue herbeizuführen.

      Eine Krebserkrankung war nun die jüngste Variante einer langen Serie von Krisen, durch die Max auf die Probe gestellt wurde. Deshalb war er zu mir gekommen. Aber diesmal war er dazu gezwungen, sich ein für alle Mal zu entscheiden. Um eine lebensbedrohliche Krankheit zu überwinden, müssen bewusste und unbewusste Wahl übereinstimmen.

      Max hatte Metastasen im Dickdarm. Statistisch gesehen bestand wenig Hoffnung, und die Ärzte hatten nur eine vorsichtige Prognose gewagt. Doch ein medizinisches Gutachten ist keine Hellseherei. Wir Spezialisten errechnen Wahrscheinlichkeiten und können keine präzisen Resultate liefern. Wie fast alle, die im medizinischen Bereich tätig sind, habe ich festgestellt, dass eine Prognose nicht mehr mit der Wirklichkeit zu tun hat als eine Landkarte mit der Landschaft oder der Plan eines Architekten mit dem fertigen Haus. Max hatte nach unserem ersten Treffen noch acht Jahre zu leben. Einige Jahre lang erkundeten wir gemeinsam das Gebiet, zu dem sich Max bei dieser ersten Sitzung Zugang verschafft hatte, und während dieser Zeit fasste ich eine tiefe Zuneigung zu diesem robusten, humorvollen und sehr netten Mann. Allmählich lernte er, nicht nur seine Eltern zu verstehen und ihnen zu verzeihen, sondern auch sich selbst anzunehmen und zu schätzen. Er verletzte sich nicht mehr bei jeder Gelegenheit und baute auch keine Unfälle mehr. In den ersten Monaten witzelte er oft über den Moment, als ich meine Stimme für ihn abgegeben hatte. „Jetzt ist der Bastard ein für alle Mal ausgezählt“, kicherte er dann.

      Als ich zu ihm gesagt hatte, auch ich wolle, dass er lebe, hatte ich ohne Rücksicht auf seine Entscheidung meinem innersten Wunsch Ausdruck verliehen. Jeder Arzt empfindet seinem Patienten gegenüber auf diese Weise, unabhängig davon, was die Gutachten aussagen und wie die Aussichten einzuschätzen sind. Aus dieser Haltung schöpft ein angehender Mediziner die Motivation für seine Ausbildung und ein ausgebildeter Arzt sein Engagement. Manchmal müssen solche Dinge einfach laut ausgesprochen werden.

      Ein Platz in der ersten Reihe

      Es fällt schwer, an etwas zu glauben, das man nicht sehen kann. Nach sieben schweren Operationen hatte ich manchmal Schwierigkeiten, an meine Genesung zu glauben. 1981 bekam ich einige Tage nach einer sechsstündigen Bauchoperation eine Bauchfellentzündung und eine Infektion, als die Fäden aufgingen. Bis die exakte Diagnose endlich feststand, war mein Zustand bereits kritisch geworden. Man rollte mich in aller Eile in den OP, wo mir eine weitere Operation wahrscheinlich das Leben rettete. Ich erinnere mich noch daran, wie ich in rasender Fahrt den Gang hinuntergeschoben wurde, wie die Lichter an mir vorbeihuschten, und ich sehe noch vor mir, wie der Chirurg, ein Freund von mir, neben meiner Krankenbahre herlief. Wie üblich in Medizinerkreisen, sprach er über meinen Fall, als unterhielten wir uns im Speiseraum des Krankenhauses über einen gemeinsamen Patienten. „Du weißt ja“, sagte er im Plauderton, „wegen der Infektion werden wir die Wunde offen heilen lassen.“ Vollgepumpt mit Medikamenten und ziemlich fertig, dachte ich damals: „Offene Wundheilung also. Du weißt ja, was das bedeutet.“ Dann ging alles sehr schnell, und ich vergaß das Ganze.

      Einige Stunden später erwachte ich im Beobachtungsraum und stellte verwirrt fest, dass ich wieder einmal überlebt hatte. Kaum bei Bewusstsein tastete ich mit dem Finger meinen Bauch ab. Dort befand sich wie vor der Operation der große, weiche Verband. Beruhigt, etwas Vertrautes vorzufinden, schlummerte ich wieder ein.

      Am nächsten Tag kam eine Krankenschwester zu mir, um den Verband zu wechseln. Freundlich plaudernd entfernte sie die Kompressen. Ich schaute nach unten, in der Erwartung, den üblichen Fünfunddreißigzentimeterschnitt mit der Naht und hundert oder mehr Stichen zu sehen. Stattdessen klaffte da eine völlig offene Wunde, wie ich sie schon oft im OP gesehen hatte. Blitzartig fielen mir die Worte meines Chirurgen ein – und nun wusste ich, was offene Wundheilung bedeutete. Solange eine Infektion vorliegt, wird die Haut in der Regel nicht zusammengenäht. Man schließt lediglich Bauchfell und Muskelhaut, lässt aber die Wunde offen, damit sie von selbst heilt.

      Zutiefst erschrocken betrachtete ich meinen verwüsteten Bauch. Ich dachte damals: „Das ist sicher eine tödliche Wunde. Völlig unvorstellbar, dass so etwas heilt.“ Die Krankenschwester merkte nicht, wie entsetzt ich war, und plauderte fröhlich weiter. Nachdem sie den neuen Verband mit Heftpflaster befestigt hatte, verließ sie das Zimmer. Auch am nächsten Morgen kam sie zum Verbandswechsel. Diesmal drehte ich den Kopf zur Seite, um nichts sehen zu müssen. Sie redete munter mit mir, während sie ihre Aufgabe erledigte. Ich gab keine Antwort. Ich war verzweifelt.

      Mehrere Tage lang wiederholte sich die Prozedur: Sie nahm den Verband ab, redete mir gut zu, ich wandte den Kopf zur Seite und wartete auf das Ende. Nach ungefähr einer Woche dämmerte es mir, dass ich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit immer noch am Leben war. Vielleicht würde ich an dieser Wunde doch nicht sterben, dafür aber mit ihr leben müssen. Damit war die Bühne für ganz andere Bedenken und Zwangsvorstellungen frei. Wie sollte ich mit diesem großen Loch da vorne leben können? Vielleicht würde es im Laufe der Jahre zuwachsen – und eine fünfunddreißig Zentimeter lange und mehrere Zentimeter breite Narbe hinterlassen. Bis dahin würden enge Jeans und Badeanzug tabu sein. Ob ich Kleider in Übergröße würde tragen müssen? Oder die tiefe Furche in meinem Bauch mit Watte ausstopfen und verpflastern, sodass man sie nicht sehen würde?

      Nachdem ich tagelang darüber nachgegrübelt hatte, wurde mir klar, dass ich mir die Sache, wenn ich schon mit ihr leben sollte, ansehen musste. Als die Schwester das nächste Mal den Verband entfernte, zwang ich mich hinzuschauen und erwartete, die klaffende Wunde von vor zehn Tagen zu sehen. Aber sie hatte sich verändert. Erstaunt stellte ich fest, dass sie sich von unten her zu schließen begonnen hatte und eindeutig kleiner geworden war. Tag für Tag konnte ich nun beim Verbandswechsel beobachten, wie diese große Wunde sich langsam, im Tempo aller natürlichen Abläufe, zu einer haarfeinen Narbe schloss. Und ich, eine Ärztin, hatte keinen Einfluss darauf. Es war demütigend. Aber immerhin hatte ich bei diesem Heilungsprozess einen Platz in der ersten Reihe. Viel später erst begriff ich, dass ich im Grunde seit Beginn meines Medizinstudiums auf diesem Platz saß. Die Lebenskraft, von der ich mich am eigenen Leib hatte überzeugen können, ist eine Mitgift, mit der wir alle von Geburt an ausgestattet sind.

      Stil

      Obwohl das Streben nach Ganzheit etwas Naturgegebenes und uns allen Gemeinsames ist, heilt jeder Mensch auf individuelle Weise. Manche Menschen werden gesund, indem sie arbeiten. Andere müssen von Arbeit und Erwartungsdruck befreit werden, um zu genesen. Manche brauchen Musik, manche die Stille, einige wollen während eines Heilungsprozesses Menschen um sich haben, andere sind lieber allein. Die unterschiedlichsten Dinge vermögen die Lebenskraft in uns zu aktivieren und zu stärken. Bei jedem von uns hat der Heilungsprozess andere Voraussetzungen. Sie sind so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Manchmal fragen mich die Leute, was ich in meinen Sitzungen mit den Patienten anstelle. Oft mache ich die Patienten nur darauf aufmerksam, dass Heilung grundsätzlich möglich ist, und suche mit ihnen gemeinsam nach dem richtigen Weg.

      Vor einiger Zeit wurde mir ein junger Mann überwiesen, der von einem Visualisierungsprogramm für Krebskranke kam. Obwohl man bösartige Melanome diagnostiziert hatte, war der Patient so unmotiviert gewesen, dass er schon einen Monat nach Abschluss des intensiven Trainings vergaß, täglich seine Bildmeditation