Mutterboden. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611081
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Staatsanwaltschafts- und Richterkneipe geschoben, in Alika Geladses Apotheke am Stuttgarter Platz.

      Und nun saß Jakob, als wäre das Sterbezimmer ein böser Traum, an einem sich vor köstlich duftendem Essen biegenden Tisch, als neues Gesicht in Alikas Welt belinst von zahllosen Augen anderer Gäste. Blinzelnd ob so viel ungewohnter Öffentlichkeit sah er seinen Freunden beim Essen zu und hörte sie die Zeugin befragen, kellergeschädigt fremdelnd mit dieser ganz alltäglichen Kripowelt.

      Ein Vater war verschwunden. Seine Tochter Alika, eine schöne Frau mit geteiltem Gesicht, stand neben dem Tisch der drei Kommissare und sprach mit schwankender Stimme von ihm. Jakob spürte sie vibrieren, als wäre sie von der Energie der Nachmittagssonne angefüllt. Hin und wieder schoß ein Arm hoch und ihre langen Finger tanzten. Nur mühsam zügelte sie ihr Temperament und den Körper, der ihre Schilderungen durch Bewegungen untermalen wollte.

      Volles schwarzes Haar verbarg die gezeichnete Stirn und hob sie doch nur hervor. Liebe, Sorge, Angst und Trauer um den verschwundenen Vater flossen ihr über die Schultern. Jakob fühlte sich in dieser Trauer zuhause wie in seinem Archiv. Er hatte noch nie über Georgien nachgedacht. Ein Land, das es gab, mehr nicht. Und doch war ihm Alika und die Welt, von der sie sprach und die in ihrem Restaurant lebte, vertraut.

      »Natürlich kümmern wir uns um Ihren Vater, aber finden Sie nicht, er ist alt genug, um sich eine Auszeit zu gönnen?« Oskar zog Lammfleischstücken mit einer Gabel vom Mzwadi-Spieß.

      »Und stellt sein Handy aus, obwohl er weiß, daß ich ihn erwarte?« Alika schüttelte den Kopf.

      »Vielleicht wollte er ungestört sein?«, fragte Oskar.

      Guram Geladse liebte es, unter Menschen zu sein. Er war ein Schrank von einem Mann, mit breiter Brust, großen Händen und schwerblütigen Augen, der nie in seinem Leben allein gewesen war. Als Kind hatte er mit anderen Schafe gehütet, Pferde beritten und wilden Honig gesammelt. Als Jugendlicher aus den Hölzern der Umgebung Häuser mitgezimmert, Öfen gesetzt, Rinder getrieben und Schafe geschoren. Er wuchs heran unter Verwandten, Freunden und Nachbarn, wurde schlauer als alle anderen Kinder der Umgebung, und er wurde bärenstark.

      Als gerade ausgewachsener junger Mann saß er eines Abends auf der Friedhofsmauer seines Heimatdorfes, zählte die Handvoll Häuser, skizzierte das Leben ihrer Bewohner in den nächsten fünfzig Jahren, fand kaum offene Fragen und in seiner starken Brust wurde ihm das Herz eng. Zwei Jahre später verließ er das Dorf seiner Kindheit zum Studium im fernen Tiflis. Er wollte mehr von der Welt sehen, und er wollte viel mehr Menschen kennenlernen. Er küßte seine krummgearbeiteten Bauerneltern, legte die große Hand ein letztes Mal an sein verrußtes Elternhaus, sah mit seinen dunklen Augen trauernd zurück auf die fernen Berge, die Felder und Wiesen seiner Heimat und machte sich auf, die Welt zu erobern.

      Die Universität nahm er als erstes. Das Lernen in der großen Stadt fiel ihm schwer, er studierte langsam aber konzentriert und wurde schließlich Chemiker und Mitglied der georgischen Akademie der Wissenschaften.

      Dann sah er sich in Ruhe nach einer Frau um und traf schließlich Alikas Mutter, einzige Tochter eines armen, hoch gebildeten und stolzen jüdischen Ehepaars, das für sein Kind einen Juden aus der Stadt und keinen Bären vom Dorf vorgesehen hatte.

      Aber Guram, inzwischen ein angesehener Wissenschaftler und immer noch Welteneroberer, erkannte in der blutjungen Jüdin die Frau seines Lebens und kämpfte. Er reparierte den Eltern bei schneidender Kälte Fenster und Heizung, besorgte im tiefsten Winter frisches Obst und im Frühjahr ein geschlachtetes Lamm. Er lernte die jüdischen Feiertage, wartete vor der Synagoge, kaufte eine Kippa, besorgte seltene Bücher und unerreichbare Eintrittskarten und trug die jüdische Tochter auf seinen Bauernhänden.

      Die Eltern gaben, überwältigt vom unendlichen Willen und der strotzenden Kraft Gurams, endlich nach und der Tochter den Segen. Guram brüllte vor Glück, packte Zelt und Rucksack ein, nahm seine Frau an der Hand und zeigte dem Kind der Stadt das Land und die Berge. Sie aßen Äpfel vom Wegesrand, übernachteten unter freiem Himmel, badeten in Flüssen, wurden in Dörfern an Tische geladen, liebten sich in den Bergen und hatten die ganze Welt vor sich.

      Alika entstand in diesem glücklichen Sommer. Bei ihrer Geburt weinte Guram wie ein Kind, strich immer wieder sanft über das schwarze Haar seiner Tochter und wachte im Krankenhaus an ihrer Seite, aus Sorge, sie könne wieder dahin verschwinden, von wo das Schicksal sie ihm in die Hände gelegt hatte.

      Die Geburt war schwer gewesen. Alikas Mutter hatte keine Milch für ihre Erstgeborene und kaum Kraft, selbst zu überleben. Guram brachte ihr Fleisch, Käse und Obst in das mangelversorgte Krankenhaus, fütterte seine schwache Frau geduldig mit den mächtigen Gerichten der Dörfer. Und er nährte seine Alika. Besorgte Milch, sang für sie, legte sie sich auf die starke Brust. Er lernte, sie zu windeln, lernte, sie nach dem Trinken auf seine Schulter zu legen. Aber Alika nahm ab, öffnete kaum die Augen, schrie nicht einmal. Guram weinte um sein Kind, weinte um dessen Mutter und kämpfte.

      Eines Nachts weckte die kleine Alika ihn durch lautes Geschrei. Es klang fordernd. Er fütterte ihr eine Flasche nach der anderen, sah ihre Wangen endlich rosig, den kleinen Bauch dick werden. Er trug in Alika das blühende Leben zur kränkelnden Mutter in das Krankenhaus. Alika trommelte mit der kleinen Faust auf die mütterliche Brust, krähte wie ein Hahn und funkelte mit den Augen.

      Die Mutter sah ihre wilde Tochter an, sagte, die kommt nach Dir, und erholte sich. Der bärenstarke und kluge Guram trug seine zwei Mädchen durch alle Unwetter, sein Kind auf den Schultern, seine Frau im Arm. Zeugte weitere Kinder, hatte seinen Ort, seine Arbeit, seine Familie und seine Bestimmung gefunden. Bis eine Lawine sein Herz brach.

      Alika war alles, was sie war, nur durch ihn. Niemals hätte dieser Vater, der sie gezeugt und genährt, behütet und gerettet hatte, und der inzwischen ein alter Mann war, seine Tochter im Ungewissen gelassen, wo er war und wie es ihm ging. Und niemals in seinem Leben wollte Guram Geladse, der Eroberer von Welten und Menschen, ungestört sein.

      Tanja aß einen Vorspeisenteller. Sie stieß ihre Gabel in Spinatwalnußnester und Rote-Beete-Berge, als wendete sie Heu und schob sich georgisches Käse-Fladenbrot quer in den Mund. Ihre Kiefer mahlten wie die eines Wiederkäuers. »Das ist wirklich köstlich«, sagte sie mit praller Backe.

      »Sie kennen meinen Vater nicht.« Alika gab dem Kellner ein Zeichen und setzte sich Jakob gegenüber. »Er würde mich nie freiwillig so voller Sorge sein lassen.«

      »Was denken Sie denn, könnte passiert sein?«, fragte Tanja.

      »Er ist in Not. Sie müssen ihn finden, sonst stirbt er.«

      »So schnell stirbt es sich nicht«, sagte Oskar, stibitzte von Tanjas Brot und tunkte es in den ausgelaufenen Fleischsaft.

      Die Apotheke war wie immer brechend voll. Es hatte sich herumgesprochen, daß ein paar Russen die Einrichtung zerlegt hatten und so versuchten, Alika zu schaden und ihre Gäste zu erschrecken. Aber so schnell ließen sich Kaukasier aus ihren angestammten Revieren nicht vertreiben. Sie waren weit Schlimmeres gewöhnt.

      Und so standen, nur einen Tag nach dem Angriff von Jurij Iwanows brutalen Lakaien, kaukasische Stammgäste vor der Apothekentür. Die Frauen mit Schrubber und Wischlappen, die Männer mit Werkzeugkästen und finster entschlossenem Blick. Sie hatten sich bekreuzigt, in jedem Raum eine Heilige Barbara, die jungfräuliche Schutzpatronin der Verfolgten, aufgestellt, Iwanow verflucht und die Ärmel aufgekrempelt. Alika war ihre Herdmutter und sie würden die Apotheke wieder instandsetzen. Wenn nötig, immer wieder. Mancher der Tische kippelte noch, die Stühle waren notdürftig zusammengeflickt, aber Alikas Einrichtung entsprach ja ohnehin ihrer bunten Heimat – beschädigt, umkämpft, impulsiv, großherzig und sehr gemütlich.

      An einem Nachbartisch der drei Kommissare feierte eine Großfamilie Hochzeit. Der Brautvater hielt eine tränenreiche Rede, der ganz in Weiß gekleidete Bräutigam spielte gelangweilt mit seinem Handy, die Braut war inmitten ihres Schleiers auf der Tischplatte eingeschlafen.

      Der Kellner kam mit einem dampfenden Tontopf und stellte ihn vor Jakob, der nichts bestellt hatte. »Das Herz meines Vaters ist schwach«, sagt Alika, »er ist schon siebzig. Wenn ihn jemand gefangen hält, bedroht