Es war egal, ob Oskar Blum, der Neuköllner Currywurstverdrücker, verstand, was Jakob umtrieb, warum er sich immer wieder in andere Seelen vertiefen mußte und dadurch kein Fettnäpfchen ausließ. Er liebte diesen lattenlangen Träumer, und er war vom ersten Aufeinandertreffen bis zum Familiengrab sein bester Freund.
Die Kollegen dagegen erkannten in Jakob den Anderen, empfanden ihn als Bedrohung ihrer seit dem Mittelalter bewährten Ermittlungsmethoden, rückten gegen den Fremdling zusammen und warteten auf einen Fehler.
Als Jakob schließlich beim Einsatz in einer Weddinger Oberschule erst die geladene Dienstwaffe einem Geiselnehmer überließ und dann in seinen ersten epileptischen Anfall stürzte, stießen sie den Kranken und Verunsicherten in den Abgrund. Erst wurde er suspendiert, dann vor Gericht wegen Unterschlagung von Beweismaterial angeklagt. Kriminalrat Fockemeyer war dabei die treibende Kraft im Hintergrund gewesen.
Als Jakob freigesprochen wurde und zurückkehrte, immer noch zu groß, zu intelligent, mit denselben gründelnden Augen und jetzt auch noch ein Fallsüchtiger, verbannte Focke ihn in den Keller, zu den archivierten Akten, weit weg von den Kollegen und der eigentlichen Arbeit.
Tanja saß vor dem Schreibtisch des Kriminalrats und bemühte sich, angesichts der Fratze, zu der russische Fäuste Fockes Gesicht gemacht hatten, ernst zu bleiben.
»Ich habe einen Fall für Sie«, sagte der Kriminalrat. »Mit Priorität. Woran arbeiten Sie zur Zeit eigentlich?«
»Wieder am Weihnachtsfall«, sagte Tanja.
»Sehr gut, offene Fälle verderben die Statistik. Habe ich gar nicht verstanden, warum das damals so schwer war. Ist schließlich am Fest der Liebe ein überschaubarer Täterkreis.«
»Kollege Hagedorn fand einen neuen Aspekt«, sagte Oskar.
Focke lief rot an. »Der ist in der Wiedereingliederung. Was mischt der sich in den operativen Betrieb ein?«
»Hat er ja nicht, der Fall lag im Archiv.«
»Es war das Lametta«, sagte Tanja. »Niemand hat es vermißt.«
»Das was?« Das blaue Auge und die dicke Oberlippe ließen Focke nicht intelligenter aussehen.
»Der Flitterkram am Weihnachtsbaum«, sagte Oskar.
»Den benutzt doch kein Mensch mehr.«
»Die Tegeler schon.«
»Zum Ersticken«, sagte Tanja. »Deshalb hat es ja am Weihnachtsbaum gefehlt.«
»Sie konnten es nicht mehr aufhängen«, sagte Oskar.
»Nachdem sie Oma damit umgebracht hatten.«
»Mit Lametta?«, fragte Focke.
»Sie haben ihr den Mund damit vollgestopft, sie hat es in Panik eingeatmet und ist daran erstickt.«
»Nicht zu fassen.«
»Wir haben auf Hagedorns Rat hin Dr. Cumloosen gebeten, nachzuobduzieren. Tief in der Lunge fand er was.«
»Und die Kollegen haben ein Kissen gesucht«, sagte Focke.
»Hat allen das Weihnachtsfest versaut, das unauffindbare Ding«, sagte Oskar.
»Ich erinnere mich, so viele Überstunden, sah nicht gut aus.« Focke schüttelte den Kopf. »Auch noch für einen ungelösten Fall.«
»Hagedorn hat ihn gelöst«, sagte Tanja.
»Es war der Sohn«, sagte Oskar. »Aber wir brauchen noch das Geständnis.«
»Warum?«
»Hagedorn hat nur das Opfer als Geist gesehen. Und den Sohn, wie er das Lametta aus ihrem Mund geholt hat. Und dann unterʼs Bett damit.«
»Geister?« Fockes Stimme kippte. »Geht das wieder los?«
Es waren nicht nur Jakobs gründelnde Augen, seine Streifzüge durch die Stadt und nicht nur die Epilepsie. Jakob Hagedorns Ich-Welt-Grenze überstiegen auch regelmäßig die Geister Ermordeter. Ob das was mit seinem in Unordnung geratenen Gehirn oder seinen zappelnden Gliedern zu tun hatte, wußte Oskar nicht. Angefangen hatte es jedenfalls mit den Geistern, die Epilepsie kam hinterher.
»Das Lametta war unter dem Bett«, sagte Tanja ruhig, »genau wie Hagedorn gesagt hat.«
»Auf der Staubsaugertüte sind nur Sohnemanns Fingerabdrücke«, sagte Oskar.
»Aber er hat noch nicht gestanden«, sagte Tanja.
»Wenn wir vielleicht Hagedorn dazu …«
»Auf gar keinen Fall«, brüllte Focke. »Der bleibt im Keller.«
Oskar lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Dann kann das natürlich dauern. Sie wissen ja, ich bin nicht so der Interviewprofi.«
»Befragt ihn eben Frau Wehland.«
»Schwierig«, sagte Tanja. »Der Sohn mag mich nicht.«
»Sie kann nicht berlinern«, sagte Oskar. »Tegel, das ist das Problem.«
Sie schwiegen. Fockes Kiefer mahlten.
»Nach zwanzig Uhr. Verhörraum. Hagedorn über die Feuertreppe. Zwei Stunden, mehr nicht.«
Tanja nickte. »Das reicht ihm. Sie wissen ja, wie er ist.«
»Und dann der andere Fall«, sagte Focke schmal.
Oskar nickte. »Der mit der Priorität.«
»Ein Georgier ist verschwunden.«
»Und was geht das die Mordkommission an?«, fragte Oskar und studierte das blaue Auge.
»Oder ist er schon tot?«, fragte Tanja.
»Sie wissen ja, wie die Kollegen von der Vermißtenstelle sind. Alle Nase lang verschwindet wer im Orkus, die machen erst mal keinen Finger krumm. Aber Guram Geladse ist ein bekannter georgischer Politiker und Volksheld, der mächtige Feinde hat. Außerdem ist er Vater der angesagtesten Wirtin der Stadt. Bei Alika taucht jeder auf, der wichtig ist.«
»Ober- oder Unterwelt?«, fragte Oskar.
»Die Grenzen fließen«, sagte Tanja.
»Die halbe Polizeiführung, die leitende Staatsanwaltschaft und alle wichtigen Richter lassen sich von ihr bekochen. Wenn ihrem Vater etwas zustößt, und wir haben es nicht verhindert, schlägt das auf uns zurück«, sagte Focke.
»Uns?«, fragte Oskar.
»Die gesamte Kripo. Es geht um internationale Politik und Organisierte Kriminalität. Ich mag keine schlechte Presse. Außerdem lasse ich mich nicht gern von der Russenmafia vorführen.«
»Gibtʼs da nicht irgendwo zuständigere Kollegen?«
»Für so jemanden kann man schon mal die besten Mordermittler der Stadt beschäftigen. Wenn er nicht ohnehin längst tot ist. Dann wird es sowieso unser Fall. Aber es braucht Fingerspitzengefühl. Lauter lauernde Fettnäpfchen. Und Alika ist eine phantastische Frau. Künstlerin eigentlich.«
Oskar verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Also mit den Fingerspitzen tu ich mich schwer als Neuköllner. Falsche Sozialisation, das holt man nie wieder auf.«
»Sie haben doch die Kollegin Wehland.«
Tanja kratzte sich am Kopf. »Ich bin ja aus Westdeutschland. Kunst kann ich eher nicht. Ein Schirmständer ist für mich ein Schirmständer, auch wenn er in der Galerie steht.«
»Die Bilder von Alika verstehen sogar Sie. Zumindest an der Oberfläche. Georgische Landschaft, Religion, Kultur. Alles abstrakt natürlich.«
»Die Kollegin kommt aus der Landwirtschaft«, sagte Oskar.