Mutterboden. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611081
Скачать книгу
Spüler hinter dem Tresen erhoben die Köpfe, die anderen Gäste unterbrachen ihre Gespräche. Der Russe griff die Wodkaflasche am Hals und musterte die Umgebung. Den finster dreinblickenden Igor, die fünf Spüler, Alika, ihre Bilder an den Wänden. Er fand ein besonders großes, hob langsam den Arm und zerschmetterte die Flasche an dem Gemälde.

      Fockemeyers armenische Flamme kreischte.

      »Das wäre dann Sachbeschädigung«, sagte der Kriminalrat. »Was für ein Glück für Sie, daß ich nicht im Dienst bin, sondern nur meinen Geburtstag feiere.«

      Seine Gäste lachten verkrampft, der Russe fixierte ihn.

      »Wenn Sie Alika den Schaden ersetzen, wollen wir den Vorfall gern vergessen. Jeder hat mal einen schlechten Tag. Nicht wahr, Alika?«

      Die zwei russischen Begleiter standen auf und hoben dabei den Tisch an. Gläser rutschten und zerbrachen klirrend am Boden. In die Reihe der fünf Spüler kam Bewegung. Zwei sprangen synchron über den Tresen, drei nahmen den Landweg, gemeinsam stürzten sie sich auf die Begleiter.

      Der Russe nahm einen Stuhl und zerschlug ihn auf dem Tisch. Mit einem zersplitterten Stuhlbein in der Hand ging er auf Fockemeyer zu. Die anderen Gäste sprangen auf. »Willst Du eine aufʼs Maul, Polizist?«, fragte der Russe.

      »Aber, aber«, sagte Fockemeyer, »Sie wollen doch nicht wirklich Ärger? Schon wegen der Aufenthaltsgenehmigung.«

      Der Russe warf das Stuhlbein weg und lachte. Stieß Fockemeyer vor die Brust, der rückwärts fiel. Seine armenische Flamme kreischte wieder, griff ihre pinkfarbene Handtasche, ihr blaues Pelzjäckchen und flüchtete aus der Apotheke.

      »Die biste los«, sagte der Russe. »Nimm Dir ʼne Russin, sind mehr gewöhnt.« Er lachte dröhnend.

      »Ich rufe jetzt die Polizei«, sagte Boltz-Kercher und wischte hektisch über das Display seines Smartphones.

      Der Russe schlug es ihm aus der Hand, hob den in Spanien gestählten Baulöwen hoch und warf ihn zur Tür hinaus. Von draußen stürmte seine wartende russische Verstärkung die Apotheke. Alika flüchtete hinter den Tresen. Die fünf Spüler warfen sich mit kasachischem Kampfgeheul der Übermacht entgegen.

      Der Russe kehrte zur Geburtstagstafel zurück, beugte sich über den am Boden liegenden Fockemeyer und zog ihn am Hemdkragen hoch. Focke baumelte an seiner Hand wie eine klapprige Marionette.

      »Na«, sagte er, »was macht Aufenthaltsgenehmigung, Polizist?«

      Alikas Chefkoch Igor umfaßte von hinten den Hals des Russen und drückte zu. »Igor«, schrie Alika, »nicht!«

      Igor öffnete seinen Würgegriff, der Russe ließ Focke auf den Tisch fallen, Igor griff ein herumliegendes Stuhlbein und zog es dem Russen über den Schädel.

      Die Kasachen verloren an der Apothekentür zusehends an Boden. Männer brüllten, Tische zerbrachen, Stühle fielen übereinander. Die Horde kam der Geburtstagstafel, auf der Focke lag, immer näher. Hinter ihnen bot die offenstehende Tür einen Fluchtweg.

      Fockemeyers Geburtstagsgäste rafften ihre Handys, Taschen und Jacken. Stiegen über Stühle, Tische und Bänke, stolperten über zerschlagene Flaschen und Gläser, rutschten über verstreutes Essen, schlitterten durch Wein- und Ölpfützen. Alle in eine Richtung, ab durch die Mitte und die Apothekentür.

      Focke robbte sich auf seinem Geburtstagstisch, vorsichtig Gläser und Flaschen zur Seite schiebend, aus vorderster Kampflinie. Vor der Dessertplatte scheiterte er, zu viel Pudding. Er richtete sich auf und sah in ein kasachisches wütendes Gesicht. Aber wir sind doch auf der gleichen Seite, dachte er, als ihn eine Faust am Auge traf. Wie ein nasser Sack plumpste er auf den Boden.

      Als er wieder zu sich kam, sah er Füße und Beine, Scherben und Chaos. Hörte Gebrüll und klatschende Schläge. Er robbte wieder. Jemand trat auf seine Hand, es knirschte darin, er jaulte. Ich will nach Hause. Die Toiletten, hinten waren die Toiletten. Und der Notausgang. Er kroch wie ein Käfer, sah immer weniger, sein kasachisch getroffenes Auge schwoll zu.

      Er hatte die rettende Tür fast erreicht, als ihn jemand an der Schulter packte und umdrehte. Es ist mein Geburtstag. Ich hab genug. Focke hob die Hände vorʼs Gesicht und linste mit seinem verbliebenen Auge durch die Finger. Ein Russe. Die Aufenthaltsgenehmigung. Wenigstens der richtige Gegner.

      »Wo willste hin, Polizei?«, fragte der und holte aus. »Sind noch nicht fertig mit Termin.« Er versetzte ihm einen krachenden Kinnhaken. Fockemeyer knallte gegen eine Tür, die Klinke erwischte seinen Nasenrücken, der Kriminalrat sank auf die Schwelle zu Alikas Pissoir und in die Bewußtlosigkeit. Super Geburtstag, war das letzte, was er dachte.

      Hauptkommissar Oskar Blum wich Terminen mit seinem Chef Kriminalrat Fockemeyer so lange aus wie möglich. Doch dieses Mal hatte die Sekretärin ihn und seine junge Kollegin Tanja Wehland persönlich abgeholt und versprochen, es erwarte sie eine Überraschung. Was bei Focke nichts Gutes verhieß.

      Oskar Blum war gebürtiger Neuköllner. Die rauhe Herkunft hatte ihm einen gelassenen Umgang mit Niederlagen und kompakte Unerschütterlichkeit mit auf den Weg gegeben. Beides war ihm auf seinem hindernisreichen Weg zu den Berliner Mordermittlern in die Keithstraße nützlich gewesen.

      Wenn etwas aus dem Ruder lief, griff er zu, war sich für nichts zu schade, hängte niemanden hin, besuchte kranke Kollegen und alte im Ruhestand. Niemals murrte er über Dienstpläne, war im Einsatz ein verläßlicher Partner, gedachte der Geburts- und Ehrentage, lud zu Currywürsten ein, teilte Stullen und Thermoskannen. Solange man Humor hatte und nichts Ungesetzliches tat, auf beiden Seiten der Kriposchranke, war Oskar Blum ein echter Kumpel.

      Er hatte sein gesamtes Leben in Berlin verbracht und wollte, daß das auch so blieb. Sich immer wieder neu in seiner sich ununterbrochen verändernden Heimatstadt zurechtzufinden, fand er aufregend genug. Und bis er dereinst die Familiengrabstelle auf dem Friedhof in der Hermannstraße beziehen würde, gab es innerhalb der Stadtgrenzen noch viel zu entdecken, er mußte die Bürgersteige von New York nicht unter seine Sohlen nehmen und brauchte keine Uckermark.

      Nach Tanjas Klopfen warteten sie wie üblich lange auf Kriminalrat Fockemeyers Antwort. Oskar stieß endlich die Tür auf und sah die von der Sekretärin angekündigte Überraschung. Ein tiefblau blühendes Veilchen schmückte Fockes linkes Auge. Auf der Nase prangte ein großes Pflaster, die linke Hand war geschient, die aufgeplatzte Oberlippe monströs geschwollen. Kriminalrat Fockemeyer schien sich auf einem Neuköllner Spielplatz geprügelt zu haben. Und im Gegensatz zu Oskar wußte er offensichtlich nicht, wie man dem Kampf mit einem deutlich überlegenen Gegner auswich.

      »Ich weiß, wie ich aussehe. Kein Wort, sonst landen Sie beide im Archiv.«

      »Geht nicht«, sagte Oskar und plumpste auf den Stuhl, »da sitzt schon der Kollege Hagedorn.«

      Jakob Hagedorn war Oskar Blums Freund, und er war seine Achillesferse. Der struppige Neuköllner Bodenbrüter hatte den Paradiesvogel, der in die Keithstraße flatterte wie ein Wesen von einem anderen Stern, vom ersten Tag an geliebt. Jakob wußte nicht gleich alles besser, hatte keine vorgestanzten Lösungen parat, sondern fragte nach und wartete ab. Kriminalhauptkommissar Hagedorn war lang wie eine Bohnenstange, trug eine verträumte altmodische Brille, und er hatte studiert.

      Sah mit seinem gründelnden Blick in die Menschen hinein und knöpfte sie auf. Dachte viel und redete wenig. Stieg durch den Wald oder die Straßen der Stadt, vergaß dabei in strömendem Regen seinen Mantel, regelmäßig sein Handy, grundsätzlich den Dienstausweis und leider auch die Geburtstage der Kollegen. Er war anders und allein das war eine Provokation für jeden mittelmäßigen Beamten. Seine Augen waren zu warm und unverschämt, sein Gang zu entspannt, sein Schlag bei Frauen unheimlich, und er war zu erfolgreich als Kriminaler.

      Manchmal stöhnte Oskar innerlich, wenn Jakob mal wieder eine Frau ansah, als sei sie die Wiedergeburt der Jungfrau Maria oder mit einem Verdächtigen redete, als sei der sein einziger Bruder. Jakobs Ich-Welt-Grenze hatte ein riesengroßes Loch. Er war den Menschen nah, kannte keine Distanz, und durch das Grenzloch