Mutterboden. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611081
Скачать книгу
besten Beamten sein?«

      »Der Hagedorn, der hat ja studiert«, sagte Oskar.

      »Nein«, brüllte Focke.

      »Wie der die Leute mit seiner gebildeten Klappe um den Finger wickelt, das habe ich immer bewundert.«

      »Der findet jeden«, sagte Tanja.

      »Und sei es als Geist.«

      »Und mit Frauen kann er, das muß man ihm lassen.«

      Hinter den Bahnhof Zoo kam nie die Sonne. Sie hatten trotzdem einen Sonnenschirm aufgestellt. In seinen Jugendtagen war er einmal optimistisch rot gewesen, arthritische Reste seiner Troddeln wehten, wenn ein vorbeifahrender ICE sie anpustete.

      Nicht, daß Hannas Gäste davon etwas mitbekommen hätten. Wind, Regen, Schnee und Hitze drangen nicht mehr in ihre breitgespritzten Hirne und zu ihren in Alkohol ertrinkenden Leberlappen. Aber wo sie Hilfe bekamen, das wußten sie.

      Hanna liebte ihren Beruf. Nie war sie sinnvoller Ärztin gewesen als hier. Offiziell hatte man sie, deren Approbation während eines Gerichtsverfahrens ruhte, als Putzfrau und Fahrerin eines ehemaligen Pferdetransporters eingestellt, in dessen Innerem sie als Ärztin arbeitete.

      Vor zehn Jahren hatte ein Sozialarbeiter nach dem fünften Alkoholentzug mit diesem Transporter sein Leben auf den Kopf gestellt. Er las die Ankündigung einer Zwangsversteigerung, stutzte über das Sammelsurium an Ungewöhnlichkeiten, ging hin, um der trockenen Unruhe etwas Abwechslung entgegenzusetzen und wurde für dreitausendachthundertfünfundsiebzig Euro Eigentümer eines rostigen Pferdetransporters, ohne jemals geritten zu sein. Er fegte Äppel, Stroh und Hafer hinaus, baute ihn um zur Seelsorgestation für im Drogensand Gestrandete und stellte ihn hinter dem Bahnhof Zoo auf.

      Eines Tages stieg eine frühverrentete Hebamme in seine Pferdekutsche und sagte, sie spränge aus dem Fenster, wenn sie nicht sofort etwas Sinnvolles zu tun bekäme. Das ist hier Erdgeschoß, sagte der trockene Sozialarbeiter, und entbunden wird auch nicht.

      Trotzdem war die Hebamme die postsozialistische Seele des Ladens geworden. Niemand im Schatten des Zoos war vor ihren rauhbeinigen Kommentaren sicher. Unter der Kundschaft erwarb sie sich alsbald den respektvollen Spitznamen Genossin. Sie versorgte Wunden. Desinfizierte, flickte, und verband, was das Zeug hielt. Den ausströmenden Gerüchen begegnete sie mit einer Kippe im Mundwinkel. Manchmal fiel Asche auf Verbandszeug und Wundränder, die sie mit rauchigem Atem wegblies.

      Alles lief rund, bis das Ordnungsamt die Pferdekutsche entdeckte. Möglicherweise hätten die Obdachlosen sich nicht immer wieder im Flur des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite erleichtern dürfen.

      Das Amt störte sich am Dauerparkplatz des Transporters. Der Sozialarbeiter fuhr ihn also täglich einsfuffzig nach vorn und einsfuffzig nach hinten. Dann forderte das Gesundheitsamt einen beaufsichtigenden Arzt.

      Der Sozialarbeiter hielt es für ausgeschlossen, einen zu finden, der ohne Lohn bei ihm arbeiten würde. Aber die Genossin aktivierte alte Kontakte und bald stand ein Urologe vor ihnen. Nicht ganz die passende Fachrichtung, aber wenigstens dramatische Anblicke gewohnt.

      Die Genossin und der Sozialarbeiter fragten sich, warum ein so gut angezogener Endfünfziger an ihrem Schattendasein teilhaben wollte, bis sie ihm bei der Arbeit zusahen. Ihn hatte eine Parkinsonerkrankung zum Frührentner gemacht, ihm aber nicht die Approbation genommen. Also zielte er ab sofort auf Patienten hinter dem Bahnhof Zoo. Und mußte es mal schnell gehen, half die Genossin.

      So richteten die Drei sich ein. Der Sozialarbeiter fuhr vor und zurück, flickte Seelen und kämmte die alten Sonnenschirmtroddeln, die Genossin jagte Tetanusspritzen in obdachlose Hinterteile und der Urologe zappelte an den Patienten vorbei.

      Vielleicht war es zu idyllisch für den Sozialarbeiter. Vielleicht mußte er plötzlich zu wenig kämpfen. Vielleicht gab es auch zu viele Sonnenflecken. Er blieb nicht trocken. Schlief immer öfter am Lenkrad ein, bis er eines Morgens sturzbetrunken zwischen eins und fuffzig vom Ordnungsamt erwischt wurde. Er verlor Führerschein und Halt, trank sich aus der Wohnung und verschwand im alkoholischen Orkus.

      Die Genossin und der zitternde Urologe übernahmen den Transporter, hatten aber nicht den vom Amt geforderten LKW-Führerschein für die täglichen drei Meter. Die zwei Frührentner fürchteten um ihren zwar unbezahlten aber Seelenfrieden stiftenden Arbeitsplatz und hängten Zettelchen im Bahnhof Zoo aus.

      Einen dieser schiefen Zettel – der Urologe hatte darauf bestanden, sie anzukleben – sah die während ihres Gerichtsverfahrens beschäftigungslose Hanna und dankte mal wieder ihrer alten Mitbewohnerin Grete, die ihr zum achtzehnten Geburtstag Fahrstunden für Motorrad und LKW geschenkt hatte, falls die schlechten Zeiten zurückkämen und sie würden fliehen müssen.

      Über die Frage, ob in Kriegszeiten irgendwer nach Führerscheinen fragte, hatten sie ausgiebig gestritten. Grete hatte das eigene Erlebnis des Zweiten Weltkriegs in die Waagschale geworfen, auf der anderen Seite kämpfte eine neunmalkluge Nachgeborene. Hanna nahm die Stunden. Und kam so, über zwanzig Jahre später, mit Führerschein für alle Lebenslagen in die Pferdekutsche ohne Sonne.

      Dr. med. Johanna von Bredow wuchs in einer Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz auf. Sie flitzte durch zahllose Zimmer, schlitterte über langgestreckte Dielen und hüpfte unter großen Fenstern, durch die das Sonnenlicht blinzelte. Als Nesthäkchen wurde sie umschwirrt und geherzt von fünf älteren Schwestern, erzogen von der Mutter Tilla, einer Biologieprofessorin an der FU, und behütet von Grete, Kreuzberger Lehrerin und seit ewigen Zeiten engste Freundin Tillas.

      Die kleine Hanna war das blubbernde Herz dieser Familie, ihre mit Liebe gefüllte Brutkugel. Sie war glücklich, wenn es allen gut ging, krabbelte auf einen der sich bietenden Schöße und rollte sich ein. Und ihre Liebe machte nicht an der Wohnungstür halt. Hanna brachte in die familiäre Weiberwelt angeschlagene Wesen, die sie glaubte erretten zu müssen. Ein auf der Straße aufgelesener einsamer Turnschuh, ein aus dem Mülleimer geklaubter Wanderstock, ein vom Sperrmüll eingesammelter alter Koffer mit Aufklebern aus aller Herren Länder. Eine humpelnde Streifenmaus mit nur einem Hinterbein, eine Siebenpunkt-Marienkäferkolonie, der beim Überqueren des Bürgersteigs die Ausrottung drohte. Versuchte eine der Schwestern, die kleine Hanna vor Überbelegung der Wohnung zu warnen, schob das Nesthäkchen die Unterlippe vor, zog die Augenbrauen zusammen und ballte die Fäuste.

      Denn Hanna war nicht nur mitfühlend, sondern auch zornig. Mied geöffnete Türen und rammte mit Wucht die nächstbeste Wand, bis Tilla, Grete und die fünf älteren Schwestern lachend die Hände hoben. Hanna baute unter den fernen Stuckdecken Terrarien, Höhlen und Nester, sammelte Löwenzahn, fütterte Samen und Nüsse und entließ tränenüberströmt in Freiheit.

      Der gesamte Stolz der weitverstreuten Bredows lag, nachdem der Krieg von Gütern und Landbesitz nichts übriggelassen hatte, in der Intelligenz und beachtlichen Körpergröße ihrer Frauen. Als auch Hanna zu einer dunklen und grazilen Schönheit von nahezu einem Meter neunzig herangewachsen war, mit knapp achtzehn ein einsnuller Abitur hinlegte, wollte sie, die Helfende und Mitfühlende, Medizin studieren. Die mütterliche Freundin Grete, als Kriegskind an Stabsärzten geschult, fand das die Schnapsidee des Jahrzehnts. Aber es war sinnlos, Hanna brach durch die Wand.

      Das Medizinstudium hatte Hanna eingesponnen in ein immer undurchdringlicheres Netz aus Diagnosen, Verfahren und Hierarchien. Als sie schließlich am Patienten landete, um endlich anwenden zu können, was sie gelernt hatte, war ihre Brust eng und sie atmete flach. Aber sie bat sich selbst um Geduld, glaubte, hinter der letzten Prüfung werde sich schon jenes Berufsleben verbergen, das sie erhofft hatte.

      Hanna kam als junge Assistenzärztin an ein Krankenhaus. Ihr Chef, Professor Magahn, war in allem ihr genaues Gegenteil. Von der gedrungenen Statur eines kleinwüchsigen Stieres, ohne Hals, und mit rotem, zu einer Bürste rasiertem Haar um eine immer weiter ausufernde, rosig glänzende Glatze.

      Magahn hatte sich durch das Medizinstudium gequält, um aus der Enge seiner Herkunft aufzusteigen an das für ihn höchstmögliche Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Er war Chirurg geworden, um über Leben oder Tod zu entscheiden. Ein kleiner Gott mit stoppeligem rotem Haar.

      Die