Professor Magahn war erfahren in jeder Intrigenvariante, bewandert in jedem hinterhältigen Schachzug, kannte jedes stinkende Winkelchen des Systems, jede faulende Leiche im Keller der wichtigen Menschen der Stadt. Der Chefarzt war eine unausweichliche Größe in der Berliner Ärzteschaft, er war Hannas Alptraum, ihre personifizierte berufliche Sackgasse, und er hatte ein Problem mit Frauen.
Hanna stand es inʼs Gesicht geschrieben, weshalb sie Ärztin geworden war. Magahn hatte schon viele junge Frauen mit warmherzigen Motiven an seinem OP-Tisch stehen gehabt, und er hatte sie alle zerstört. Aber Hannas Körpergröße, ihr adliger Name und ihre Attraktivität waren eine besondere Herausforderung für den kurzbeinigen Stier. Professor Dr. Magahn mußte zu seiner Assistenzärztin aufsehen, das konnte nicht gut gehen.
Hanna erkannte das Problem sofort, versteckte, was sie von diesem Chef hielt und zügelte ihren Zorn. Sie senkte den Kopf, war ausgesucht höflich, ertrug Magahns Angriffe, erfüllte klaglos seine sie abstrafenden Dienstpläne, erlitt seine Anzüglichkeiten, wich seinen Intrigen aus, duckte sich unter seinen Schlägen und verlor niemals die Kontrolle.
Magahn war eine überzeugt cholerische Natur, und er erwartete Unterwerfung. Das Brüllen war seine Profession, die Niedertracht sein Alltag, der Ausbruch seine Methode. Er herrschte durch Schrecken, verbreitete durch willkürliche Entscheidungen Angst und führte, indem er fallen ließ. Je öfter Hanna ruhig blieb, je mehr sie den Kopf hob in ihrer lichten Höhe, desto giftiger sprühte Magahn unter ihr Funken.
Er verweigerte ihr die für die Facharztprüfung erforderlichen Operationen, schob sie viel zu oft in Nachtdienste, ließ sie jedes Wochenende arbeiten, und als sie ihn trotzdem, sichtbar schmaler und blasser werdend, nicht um Gnade bat, geschweige denn ihre Fassung verlor, versetzte er sie auf die Innere II.
Die Station war reserviert für mißliebige Kollegen, die sich mit absurden medizinischen Handlungen an hoffnungslosen internistischen Fällen abarbeiteten. Heraus führte für Patienten der Weg nur in Pflegeheime oder auf Friedhöfe, für die sie betreuenden Ärzte in ein Burnout.
Und dann rollte ein Pfleger der schönen, großen, hilfsbereiten Gräfin, die vor Müdigkeit inzwischen nicht einmal mehr schlafen konnte, die 94jährige Hermine Neuhaus auf die Station.
Man hatte hinter ihrer anhaltenden Darmblutung einen Tumor entdeckt, vermutete seine Bösartigkeit, fand eine OP zu riskant für die Hochbetagte und fragte die Patientin, was sie wollte. Hermine verwies auf ihre Patientenverfügung, fand, sie hätte lange genug auf dieser Erde ausgeharrt und wählte den Tod durch Verbluten. Sie wurde ein Fall für die Innere II. Hanna räumte dem Findling ein Zimmer frei, dimmte das Licht und hielt ihre Hand.
Aber Hermine blutete nur langsam aus und Hannas Schicht endete. Sie saß noch eine Weile an ihrer Seite, bis Hannas Nachfolger die Kollegin gereizt nach Hause schickte. Der war ein aufmerksamer Lehrling Magahns, entschied, die Alte wisse nicht, was für sie das Beste sei, schnallte die protestierende Hermine fest, spritzte ihr den letzten Widerstandsgeist aus dem Leib und schaffte sie in einen Operationssaal.
Als Hanna zu ihrem nächsten Dienst im Krankenhaus erschien, schob ein Pfleger Hermines Bett zurück auf die Station. Sie hatten den Tumor entfernt, die Blutung war gestoppt, aber Hermine durch die Operation im Koma gelandet. Sie hatten den eindeutig ausgesprochenen Sterbewunsch der Patientin mißachtet. Sie hatten sie geschunden und gequält. Und sie hatten ihr, für die nächsten Monate oder gar Jahre in tiefer Bewußtlosigkeit, eine Magensonde gelegt.
Da verlor Hanna die Kontrolle. All die angestaute Wut über das, was sie seit Jahren half, Menschen in Not anzutun, brach sich Bahn. Sie schrie und schlug um sich. Warf Infusionslösungen an Wände, schleuderte Stühle den Flur hinunter. Trat gegen Spritzenkartons, zerschlug einen Mülleimer auf dem Tisch, zog der inʼs Leben zurückgezwungenen Hermine die Magensonde aus der Bauchdecke, schob sie in ein Zimmer, schloß von außen die Tür ab, stieg über die Spuren der Verwüstung in das Schwesternzimmer, öffnete ein Fenster, warf den Schlüssel zu Hermines Zimmer weit hinaus und atmete tief die eiskalte Berliner Winterluft ein.
Das war, worauf Professor Magahn gewartet hatte.
Als Hanna mit der Kripo das Krankenhaus verlassen hatte, inspizierte er die Station und grunzte vor Zufriedenheit. Er sah seine uneingeschränkte Herrschaft wiederhergestellt. Er aktivierte seine Kontakte, sorgte dafür, daß Hannas Approbation ruhte und man sie anklagte, lehnte sich zurück und freute sich darauf, dem Untergang der großen, adligen und stolzen Frau zusehen zu können.
Hanna stand im Pferdetransporter hinter dem Bahnhof Zoo und fixierte einen fiesen grünen Glassplitter, der in einem rabenschwarzen Großzehenballen steckte. »Das kann jetzt ein bißchen wehtun«, sagte sie.
Der Mann zum Zeh lachte. »Fußpflege von ʼner Gräfin, ich bin noch nichʼ am Ende.«
Hanna sah ihn an und legte die Stirn in Falten. »Wenn Sie nicht mit dem Fusel aufhören, ist Ihre Leber am Ende.« Sie wies auf seine Zehen. »Und wenn ich den zweiten Zeh auch noch amputieren muß, können Sie auf dem Bein nicht mehr stehen.«
Er hob die Hand zum Schwur. »Ich würde ja. Wenn nur die Weltlage nicht so deprimierend wäre.«
Hanna lachte und desinfizierte die Wunde, so gut es ging. Die Jodtinktur war schon wieder alle. Solange der Sozialarbeiter noch nicht verschollen war, trudelten hin und wieder Spenden ein. Inzwischen aber saßen sie weitgehend auf dem Trockenen. Die Genossin stibitzte in ihrer alten Poliklinik Verbandsmaterial, der Urologe brachte abgelaufene Medikamente von einer befreundeten Apothekerin mit. Aber es war nie genug.
»Das ist die netteste Ausrede des Tages«, sagte Hanna und sah auf den verdreckten Fuß. »Dafür schenke ich Ihnen ein Paar neue Socken.« Sie zog einen Karton unter dem Sitz hervor und hielt schwarze hoch. »Vierundvierzig?«
»Aber junge Frau, sehe ich aus, als würde ich Trauer tragen?«
Hanna sah auf den löchrigen Haufen neben sich, der eben noch notdürftig die Füße des Mannes bedeckt hatte. »Die sind auch traurig.«
»Na gut, Gräfin, weil Sie es sind.«
Sie zog vorsichtig den Socken über das Pflaster. »Wenn Sie morgen zur Kontrolle wiederkommen, schenke ich Ihnen ein rotes Paar zum Wechseln.«
Er stand ächzend auf. »Sie sind ʼn Engel, Frau Doktor. Ich würd Sie jetzt gern küssen.«
»Halt die Klappe, Fittich«, sagte die Hebamme. »Nimm Deinen Beutel und verschwinde.«
»Sehʼn Se, so gehen andʼre Frauen mit mir um.«
Hanna lachte.
»Keen Mitleid mit den Runtergekommenen dieser Erde.«
»Fang bloß nicht wieder mit Deinen sozialistischen Kampfliedern an.« Die Hebamme guckte streng.
Fittich versuchte, die Hacken zusammenzuschlagen, geriet inʼs Taumeln, Hanna hielt ihn fest. »Jawoll, Frau Genossin.« Er beugte sich zu Hanna hinunter, sein Atem schlug ihr entgegen. Aldiwein und Karies. »Sie müssen nämlich wissen, wir waren mal Kollegen.«
»Vergiß nicht zu erzählen«, sagte die Hebamme, »daß Du in der Partei warst.«
Er winkte ab. »Die große Linie zählt.«
Die Hebamme schob ihn zur Tür, er schaukelte die Stufen zur Straße hinunter. Unter seinen hochgekrempelten Hosenbeinen leuchteten die neuen Socken. Ob er sie wohl bis morgen verteidigen konnte? Fittich drehte sich noch einmal zu den Frauen um. »Geschützt hab ich Dich immer«, sagte er. »Und Deinen Oberarzt.«
»Guck nach vorne«, sagte die Hebamme. »Und renn nicht wieder einfach auf die Straße.«
Er verbeugte sich andeutungsweise. »Mach ick, schon wegen der alten Tage. Und schön, daß Du Dich um mich sorgst.«
Sie steckte sich die nächste Kippe an. »Nun hau schon ab. Wir sehen uns morgen.«
Er wackelte die Straße hinunter, theatralisch hob er das verarztete Bein. Die Hebamme schüttelte den Kopf.