Mutterboden. Lotte Bromberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lotte Bromberg
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783945611081
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der nächsten Straßenecke hat er uns vergessen.« Die Hebamme nahm einen tiefen Zug, Asche flatterte davon. »Furchtbar, wenn man denkt, was für ein Mannsbild das war. Hat allen Röcken nachgestellt. Nahm sie unter seine Fittiche.«

      »So lange ist die DDR schon untergegangen, aber der Spitzname hält sich.«

      Die Hebamme schnippte die Zigarettenasche in Richtung Osten. »Das Land mag futsch sein. Aber wir sind alle noch da. Mit unserer Vergangenheit und der untergegangenen Heimat.«

      Sie hatten Jakob lebendig begraben. Er hatte den Prozeß gewonnen, seine Suspendierung war aufgehoben, er wieder im Dienst und trotzdem hatte er alles verloren. Sie wollten ihn nicht zurück, ließen ihn nicht auf die Straßen der Stadt.

      Kriminalhauptkommissar Jakob Hagedorns neuer Arbeitsplatz war ein zur Außenstelle des Archivs ernanntes vollgestopftes Zimmer im Keller, am Ende eines schmalen Ganges. Darin rangelten abgearbeitete Bürostühle, alte Tische auf drei Beinen, ausrangierte Registrierschränke, brüchige Halfter und klemmende Handschellen um den wenigen Platz. Von den Wänden bröckelte der schimmelige Putz, das winzige Fenster war vergittert und mündete in einen Schacht. Ein mittelalterliches Verlies, ein Sterbezimmer, extra für Jakob Hagedorn.

      Sie stellten ihm einen Stuhl in den Kerker und luden Berge von Akten ab. Am Ende des Flurs ohne Licht und ohne Luft. Und das Jakob, der das Draußen brauchte als Lebenselixier. Der gehen mußte, um zu denken. Der nahenden Regen roch, Schnee spürte. Immer wußte, selbst in der tiefsten Straßenschlucht, wie voll der Mond war, wo die Sonne auf- und wo sie unterging.

      Aber Jakob wollte nicht sterben, und er wollte seinen Beruf zurück. Also räumte er das Gerümpel aus dem Kerker, fegte Unrat aus dem Fensterschacht, schlug Putz von den Wänden, isolierte Schimmel, strich alles sonnengelb, kaufte eine Tageslichtlampe, stellte schattenliebende Pflanzen auf eine selbstgezimmerte Fensterbank, schloß eine Kaffeemaschine an und begann mit seiner Arbeit.

      Jakob sollte Teile des Archivs neu ordnen. All die alten Akten hatten digitalisiert werden sollen, aber es gab niemanden, der Zeit dafür fand. Zu viele neue Fälle schubsten die alten von der Bühne und in den Keller, an den Platz für Gestriges.

      Es gab keine Anweisung, wie Jakob vorgehen sollte. Alphabetisch, nach Jahreszahlen, Dezernaten, Bezirken, Namen der Täter oder Opfer, Art der Verbrechen. Er hatte den Verdacht, entschiede er sich für eine Variante, käme kurz nach Fertigstellung eine Weisung, das Gegenteil zu beginnen.

      Aber Jakob war keine Figur von Kafka und Akten, erst recht vergilbte, hatten ihn schon immer interessiert. Der Versuch, eine papierne Ordnung über chaotisch gelebtes Leben zu legen. Sinn zu finden im Sinnlosen, Respekt zu zeigen den Geopferten, indem man ihnen ein Aktenzeichen, eine letzte Ruhestätte zumindest im schimmeligen Keller der Keithstraße gab.

      Also pfiff Jakob auf die neu einzurichtende Ordnung und machte, was er mit am liebsten tat, er las Eingestaubtes in der gesamten vom Senat bezahlten dreitägigen Wochenarbeitszeit, zur Wiedereingliederung nach seiner langen Krankschreibung.

      An den vier freien Wochentagen war Jakob so oft wie möglich unterwegs. Luft tanken, Licht einfangen, Menschen schnuppern, Kontakt aufnehmen. Er lief die Straßen seiner Stadt auf und ab. Streunte durch Läden, Parks und Ausstellungen. Schimmel abschütteln. Das Verlies keine Macht über sich gewinnen, die Düsternis nicht die Seele kapern lassen. Trotzdem schien es ihm manchmal, als kröchen Fäulnis und Verwesung in seinen Körper. Er wechselte täglich die Kleidung, vorsichtshalber.

      Jakob las ohne System, von früh bis spät. Ließ sich von Namen leiten, Farben der Aktendeckel. Las über Leben und Katastrophen, Volten, Schlangenlinien, ungeharkte Wege. Über auf den Kopf gestellte Familien, eingebrochene Zeitläufte. Er las, was Menschen einander antaten, las, was Polizisten daran für bemerkenswert hielten und aufschrieben. Jahrzehntelang, mit sich ändernder Sprache, sich wandelnden Gesetzen.

      So fand er den Weihnachtsfall. Eine verschweißte Familie, die ihre Tragödie in die Mitte nahm wie einen Schatz. Unerreichbar für Jakobs Kollegen, ein unlösbarer unnatürlicher Tod am Fest der Liebe. Jakob las sich fest, der Weihnachtsfall zog ihm in den Schlaf.

      Eines Morgens saß das alte Opfer in Kittelschürze an Jakobs Küchentisch und schälte Kartoffeln. Eine unendliche Zahl plumpste in einen angeschlagenen Emailletopf, ein immer größerer Berg Kartoffelschalen umringelte schlangengleich am Küchenboden die mageren Beine der Großmutter. Jakob stieg über die Schalen hinweg und wartete. Kochte seinen Kaffee, sah ihr zu und wartete. Ging zur Arbeit, kehrte zurück aus seinem Sterbezimmer. Oma saß da und schälte Kartoffeln.

      Am dritten Morgen waren die Kartoffelschalen vom Küchenboden verschwunden. Stattdessen überall Lametta. Jakob kochte seinen Kaffee und setzte sich ihr gegenüber. Die Großmutter fegte Lamettareste vom Tisch und sah Jakob an. »Es ist nicht seine Schuld«, sagte sie, »ich konnte einfach nicht sterben.«

      Jakob ging in sein Kellerloch und las die Akten noch einmal. Als er nach Hause kam, war die Küche leer. In der Spüle lag ein Lamettafaden und das Küchenmesser. Er legte den Faden vorsichtig in einen Umschlag und ging zu ihrem Grab. Viele Blumen, ein großer Grabstein. In Liebe, Dein Sohn, Deine Schwiegertochter, Deine Enkel. Er ging zur Wohnung der Familie. Oma stand noch am Klingelschild. Drei Zimmer, Küche, Bad. Ein Paar, seine zwei Kinder und die Großmutter. Gepflegt, versorgt, geliebt. Jahr für Jahr. Viele Jahre. Die Kinder wachsen, die Wohnung nicht. Sie konnte einfach nicht sterben.

      Jakob warf den Umschlag mit dem Lamettafaden durch den Briefschlitz der Wohnungstür. Zwei Tage später holten sie den Sohn zur Vernehmung ab. Erleichtert war er. Hielt sich fest an Jakobs Augen. Töten aus Liebe. Töten trotz Liebe. Jakob hatte wieder ein offenes Ende gefunden, es hatte ihn gefunden, sogar im Sterbezimmer, sogar im letzten Kellerloch. Die Großmutter hatte Jakob gefunden, den Geisterseher, Endenzusammenknüpper. Mein Sohn kann nichts dafür. Ich kann nichts dafür.

      Hauptkommissar Oskar Blum stieg täglich aus seinem Büro in den Keithstraßenkeller hinab und schaute in Jakobs Sterbezimmer vorbei. Er sorgte sich um seinen besten Freund. Brachte Schrippen, erzählte von der Welt oben. Seufzte, wenn er seinen Geisterseher sitzen und lesen sah vor aufmüpfig gelben Wänden inmitten der grauen Düsternis.

      Wie hatten sie nur glauben können, der Apparat sei ein guter Verlierer und könne so jemanden wie Jakob Hagedorn in seiner Mitte auf Dauer dulden? Seine aufreizende Entspanntheit, seine vermeintlich schläfrige Abwesenheit, seine Unabhängigkeit, seinen scharfen Verstand, sein überschwappendes Mitgefühl mit jedem Eierbecher? Ganz zu schweigen von seinen Geistern.

      Bei der Berliner Kripo gab es nichts Übersinnliches und ein Ei köpfte man, daß es überlief. Wie der Eierbecher damit zurechtkam, interessierte niemanden.

      Und jetzt hatte Jakob sich in diesem Rattenloch eingerichtet, als wäre es eine Finca direkt am Meer. Las in seinen Akten und wartete, daß das Leben ihn da rausholte. Aber ihr Vorgesetzter Fockemeyer bewachte seine Tür. Focke, der gegen Jakob vor Gericht verloren hatte, der nicht hatte verhindern können, daß dieser akademisch gebildete Paradiesvogel in die Keithstraße zurückkehrte.

      Auch die junge Kollegin Tanja Wehland machte schnell allen deutlich, auf wessen Seite sie stand. Schließlich war sie damals wegen Jakob aus Westdeutschland nach Berlin gekommen. Sie hatte erfahren, wie Jakob im fernen Berlin einem Kollegen einen Mord nachwies, für den ein anderer einsaß.

      Das war sogar in ihrer Heimatstadt Münster Flurgespräch gewesen. Kollegenschwein hatten sie Hagedorn genannt und die Fäuste geballt. Tanja wunderte sich nicht, daß niemand des Mordopfers oder des zu Unrecht Verurteilten gedachte. Sie hatte in den wenigen Jahren ihres Berufsdaseins genug über Korpsgeist und Korruption erfahren, schnitt sich ein Photo von Jakob aus, hängte es in ihren Spind und bewarb sich in Berlin.

      Tanja Wehland erzählte jedem, der nicht schnell genug ausweichen konnte, was für ein großartiger und für den Nachwuchs vorbildlicher Kommissar da drei Tage die Woche ungenutzt im Keller saß. Und sie schenkte ihm einen dicken Teppich gegen die aufsteigende Kälte des Kellerfußbodens und einen Heizlüfter gegen die feuchten Wände.

      Oskar und Tanja hatten