Stoßgebete aus der Höhe des Gefühls: »Gott strafe England!« (1914.) »Wo ich England treffe, greife ich es an.« (Der Führer.) »Polen existiert nicht mehr. Nur noch das britische Weltreich bleibt zu vernichten.« (Seine Leute.) »Alles vernichten, was nicht deutsch ist, und wenn ich wählen soll, England!« (Der fliegende Landsknecht.) »Ha! Es geht, es klappt, es passiert: Kampfflieger haben sie keine. Was sie haben? Fesselballons. Ich siege, vernichte, ich strafe, die Rache macht selig.« (Das ganze Deutschland, das brünstig mitfliegt.)
Auf zehn deutsche Flugzeuge kam allenfalls ein britisches. Jedes muß überaus besonnen gekämpft haben, wenn es standhielt. Einer gegen zehn war nicht das ärgste. Das Schicksal Londons war nicht das ärgste, obwohl hier zuerst versucht worden ist, ein so weites, vielfältiges Gebilde menschlichen Lebens umzubringen, alle seine Teile gleichzeitig: die Viertel der Armen, die Gebäude, die England darstellen, sein Herkommen, seine Macht.
Bei einem französischen Katholiken las ich aufgezählt die katholischen Kirchen, die über die ganze Stadt verteilt, wie auf Verabredung dennoch alle getroffen sind. Die Docks scheinen weniger empfindlich gewesen zu sein als Westminster, das nicht weniger greifbaren Wert hat als die Schiffswerften: es stellt um einiges mehr vor. Was es bedeutet und auch das Alter des Monumentes mißfiel dem Feind (der seither die Beschädigung von Nürnberg für eine Kulturschande erklärt hat, heute aber dem Untergang Berlins die Tragik abspricht).
Dieser Feind ist der erste und bleibt der einzige, der es wirklich auf die Kultur abgesehen hat, insofern eine Nation ihr Gedächtnis verliert und endlich selbst verlorengeht, wenn ihre Denkmäler fallen. Heute, im fünften Jahre des Krieges und angesichts seines schimpflichen Endes, sind deutsche Gelehrte in den Archiven der besetzten Hauptstädte tätig. Sie versehen das Amt, Dokumente verschwinden zu lassen, uralte Zeugnisse vom Ursprung und der Eigenheit der Nationen. Keine Inkunabeln mehr, keine Vergangenheit. Eine geschlossene Ecole des Chartes ist mehrere Schlachtensiege wert.
Dies ist »Deutsch-Europa«, wie es gemacht wird mit Hilfe der deutschen Kultur, die genau das gehorsame Gesicht der Forscher in den Archiven hat. England aus der Luft herab einzudeutschen, bleibt ein ungelöstes Problem. Der Schwan von Avon, ob sein Geburtshaus dem Erdboden gleichgemacht würde, ist für alle, die jemals einen Vers hörten, ja für alle, die nie einen hören werden, der größte Dichter Europas, und ist ein Brite, kein Deutscher. Goethe sprach ungefähr: »Es ist falsch, mich dem oder jenem (Tieck) zu vergleichen. Ich messe mich nicht mit Shakespeare.«
Die Gefahr, ihre Geschichte, die Geschichte einer meisterhaften Gestaltung, verschwinden zu sehen, war bei weitem nicht die ärgste während der Battle of Britain. Buckingham Palace wurde eine Ruine, die königliche Familie mußte ausziehen. Nun vertritt das Haus Windsor, seit dem Abgang Habsburgs, allein noch die ehrwürdige Überlieferung, deren Europa bedarf, um es selbst zu bleiben – und um seiner künftigen Erinnerung willen, falls mit ihr gerechnet wird.
Man erreicht sie nicht durch Abrasieren, durch wohlberechnete Bombentreffer und die Akribie von diebischen Philologen. Ehrfurcht wird verlangt vor der Gesamtheit unseres Daseins, das ein und dasselbe ist. Die Nationen mit ihrem gemeinsamen Bestand, die Jahrhunderte, die uns alle formten, erwarten guten Willen, und nicht Haß. Zu danken gilt es, nicht zu rächen.
Die deutschen Flieger und Nichtflieger 1940 rächten vielmehr, daß England uns alle bereichert hat. Dies rächten sie wütender, als daß es selbst reich ist. Genug, von allem das Ärgste waren der Haß und die Rache, die über England die Luft verpesteten. Sie schnaubten gräulicher als Bomben zischen und zerspringen. Sie machten trostlos, auf die Dauer konnten sie sogar Abgehärtete des Unglücks niederzwingen, und England war nicht abgehärtet, weit davon. Es hatte in der Welt meistens Erfolge, zu Hause immer Frieden gehabt. Es hatte niemand gehaßt, am wenigstens die Deutschen seit Versailles.
Jählings diese Lawine schlechter Gefühle. Auf so viel war Britannien nicht gefaßt, obwohl schon vorher feststand: diesmal schrecken die Deutschen vor nichts zurück. Diesmal wird gesiegt – auf alle Fälle, den Weltuntergang einbegriffen. Um so weniger werden Bedenken zugelassen, wie noch 1914, hinsichtlich des Völkerrechtes, Menschenrechtes, der letzten Überreste einer ehemaligen Achtung des Nächsten, der Selbstachtung und mitbekommenen Lebenslehren. Fort damit! Nichts gilt fortan, außer der Vernichtung des Lebens, wenn einer durch Widerstand sich strafwürdig macht. Aber wehe dem, der sich ergibt!
So siegt man nicht, die Haltung ist biologisch ungesichert. Ihre moralische Verworfenheit folgt aus der Irreleitung der Nerven und einem unbeherrschten Sonnengeflecht. Aber wer weiß das, solange die Gefahr den Himmel verdunkelt. Welcher Mut und Verstand ist einer Tobsucht gewachsen, wie dieser. Ich kann nicht entscheiden, ob der britische es war. Sie haben vielleicht nur ausgehalten, des Endes im Grunde gewärtig. So stand es wohl, besonders da die deutsche Luftmacht, scheinbar unberührt von Verlusten und verfließender Zeit, übermächtig hereinbrach alle Tage wieder, seit dem ersten bis in die spätesten: von Britannien wurden sie stoisch abgezählt.
Es kam der letzte, wer hätte es gedacht, die deutschen Flieger gaben es auf, sie kehrten nicht mehr wieder. Nachher ist gesagt worden: wenig fehlte. Nur um einiges öfter mußten die Deutschen erscheinen, das Äußerste der britischen Tragfähigkeit war erreicht: ergeben hätte sich England. Was dies Wort enthält! Welch ein Gedanke hier mit Wirklichkeit droht! Gleichviel, so war es nicht bestimmt.
Verheißen und aufgelegt war, daß England seine Verwandlung erfuhr, vergleichbar einzig einer Wiedergeburt. Diese ist verständlicherweise tragisch. Gern und fröhlich läßt niemand sich herbei, noch einmal anzufangen – und nach einem Vorleben wie hier. Das Früheste ist die automatische Umkehr der Begriffe gewesen – nicht einmal ihre bewußte Réconsidération. Eine ganze Nation betrachtet weder, noch revidiert sie.
Vielleicht einzelne, vielleicht in Behausungen, die halbwegs verschont geblieben: nur die Treppe war weggerissen und eine Mauer klaffte. Zum Glück standen die Bücher an der anderen Wand. Der leidlich erhaltene Einwohner, nur sehr geschwärzt durch die Explosion, und Überfluß von Kummer, es läuft kein Badewasser, – dieser Berußte, aber Lebendige nimmt die Zuflucht zu seinem Meditationssessel, der in angepaßtem Zustand auch noch da ist, auf seinem Platz vor dem neuerdings zerbrochenen Kamin. Eigentlich ringt er die Hände, während er doch alle Glieder augenscheinlich von sich streckt.
Er denkt: Wozu? So ist natürlich der Lauf der Welt, es gibt Schlimmeres als kein Bad, kein Essen, keine Fensterscheiben. Ich frage nur: Wozu? Einigermaßen funktionierte das Leben doch, mit Ach und Krach, wie gewöhnlich. Vernachlässigte Menschen, ja, benachteiligte Klassen, man sagt es. Dummköpfe, gar kein Zweifel. Aber proletarische Nationen? Der unüberbrückbare Abstand zwischen den Staaten, die alles haben, und den anderen, die nur recht haben? Mir war das nie aufgefallen. Ich erkannte die alte menschliche Zanksucht wieder und andererseits den Hochmut, der sie belächelt. Schlichten wollen erbittert nur. Dennoch, woher dies?
Woher der grausige Haß – entgegen dem einfachen Instinkt für Selbsterhaltung. Wer überschwenglich haßt, zerstört sich selbst. Die Leidenschaften sind achtbar, sie wohnen hoch. Ce n'est que du cinquième qu'on se jette par la fenêtre. Diese Deutschen aber sind zum Weinen.
Wenn kein Irrtum vorliegt, bekommt der Ruß im Gesicht des Meditierenden tatsächlich feuchte Rinnsale. Er sinnt:
Massenhaft aus den Wolken fallen, begeistert sterben, entschädigt durch das Bewußtsein: England geht unter, – das ist ein schwerer Krankheitsfall. Seine Behandlung darf in Zukunft nur noch streng sein. Wir haben alles verkannt, wir glaubten Deutschland heilbar durch vernünftiges Entgegenkommen, eine demonstrative Gleichberechtigung. Die konnten wir ihm allerdings zugestehen, aber nur für Gegenwart und Zukunft. Wir konnten nicht machen, daß es dieselbe Geschichte hatte wie wir. Da liegt der Fehler.
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