Eine sozialistische Revolution konnte gelingen, ihr Ergebnis, die Sowjetunion, kann bestehen, weil beide geistig erkämpft worden sind. Aber geistige Kämpfe geschehen in der Stille, so viel gnadenloses Geräusch sie endlich aufrühren müssen. Hundert Jahre großer Literatur sind die russische Revolution, vor der Revolution.
Das alte Rußland konnte geistig bearbeitet werden zufolge seiner sozialen Schichtung, seiner altväterischen Gesittung – und ihrer grausamen Kehrseite: Das Dasein der Erniedrigten war mit der Hand zu greifen, und zu schildern. Günstig war auch die geistige Duldsamkeit eines Staates, der – wenn auch nur literarisch – mit sich reden ließ. Die »Gesellschaft« rang sie den Machthabern ab, sie kleidete ein erschlafftes System, Anfälle von Strenge unterbrachen das Geschehenlassen. Mit all dem war das alte Rußland genau der Boden, dessen eine große Literatur bedarf.
Die angespannte Teilnahme des ganzen Reiches galt nur ihr. Ohne sie wäre das hingefristete Leben ohne Interesse gewesen, um so mehr ohne Aussicht. Man hatte die Literatur und hatte die Musik, beide erfüllt von demselben Lebensgefühl: ein ansteigendes Gefühl für ein Leben voller Forderungen. Ihrer erste war die Wahrheit, eine intransigente Wahrheit über die menschliche Lage, nie verklärt, außer durch die Gnade des Glaubens und der Barmherzigkeit.
Die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist ein Vorgang ungeheuer, und von einer Erbaulichkeit, daß wir, gewöhnt an Niedergang und Abbruch, kaum glauben wollen, wir wären dabeigewesen. Manches begreifen wir nachträglich – oder legen es, angesichts des Nachher, hinein. Ich höre ein Marsch-Scherzo von Tschaikowski und meine die offene Verhöhnung des verjährten Militarismus zu hören, einer großtuerischen Maskerade, die ausarten soll in das Blutbad und doch lächerlich bleibt wie ein altmodisches Duell. Wie aber ist Dostojewski, wie Tolstoi gelesen worden?
Sie sind mit Beben gelesen worden. Sie sind gelesen worden von Augen, die weit wurden, um so viel Gestalt, um all das Wissen zu empfangen, und als Gegengabe tropften Tränen. Von Puschkin bis Gorki haben diese Romane, Glied an Glied in lückenloser Reihe, eine tiefe Kenntnis des Menschen, seiner Schwäche, seiner Furchtbarkeit, seiner unerfüllten Berufung, gelehrt – und sind aufgenommen worden als Lehre.
Ein Volk, eine »Gesellschaft«, mit allen ihren Abständen, lernte hier, nicht ganz vergebens. Hätte der Ungerechte nur diesmal, beim Lesen dieser Seite, sein Gewissen schlagen lassen, hätte das nächste Mal, vielleicht sogar an der gleichen Stelle, ein Unterdrückter im Zorn aufgeschluchzt, nichts ist zu Boden gefallen, vergebens war nichts. Und die Bücher vereinten alle.
Für den guten Willen einer nationalen Gesamtheit hinsichtlich der menschlichen Sorgen spricht ihr Verhältnis zur Literatur. Die menschliche Natur und Lage wird den Leuten um so mehr Teilnahme abgewinnen, je ernster sie die Literatur nehmen. Es kommt vor, daß die Literatur den weniger geachteten oder national verdächtigen Teilen der Gesamtheit allein überlassen wird. Es kann geschehen, daß die eigene große Literatur bei der Nation nur noch konventionelles Ansehen genießt. (Beides traf in Deutschland zu, während derselben Jahrzehnte, als die russische Literatur die höchste Angelegenheit der Gesamtheit wurde.) Dann ist zu wetten, daß es schlecht steht um die Aussichten für das Menschenglück – und um die Nation.
Die Revolution, eine wahre und tiefe Revolution, ist zuletzt kein Aufstand der einen gegen die anderen. Im Grunde verlangt und empfängt sie die Übereinkunft aller. Nach ihr hingestrebt haben die Bevorrechteten, die ihre widernatürlichen Vorteile opfern sollen, und die Benachteiligten, die noch ganz andere Leiden werden durchstehen müssen, bevor sie die Freiheit, oder ihren Widerschein, erblicken. Die französischen Feudalen des 18. Jahrhunderts waren die ersten und eifrigsten Adepten des Humanismus in Enzyklopädien und Romanen, dem sie endlich erliegen sollten: hatten ihm aber vorher ihren Geist geöffnet.
Die russischen Aristokraten schrieben die Romane sogar selbst. Ein unverhältnismäßig großer Teil der revolutionären Literatur – der Literatur der schamlosen Wahrheit – ist das Werk von Unersättlichen, – nach aller Macht, dem schrankenlosen Genuß forderten sie für sich auch noch das Wissen, das sie aufhob. Als der unermeßliche Tolstoi seine »Anna Karenina« schrieb, war ihm allenfalls noch unbekannt, daß eine dermaßen durchschaute Gesellschaft keinen langen Bestand mehr hat. Bei seinem letzten Roman, der »Auferstehung«, angelangt, hat er danach gelechzt, die Folgen zu erleben. Das Martyrium, nicht mehr, nicht weniger wollte er für sich. Für alle anderen – seine nackte Wahrheit.
Die russische Literatur – als die Revolution selbst, wie sie im Buch steht – hat seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts unsterblich eingeschlagen in die Welt bei den Intellektuellen des Westens. Ich gedenke der völlig vereinzelten Wirkung der »Kreutzersonate« – das Gebot der Keuschheit nach tausend Jahren wieder wörtlich, heilig genommen. Wir waren fremd angesprochen, der Ungläubigste erschrak, indes er zu lächeln meinte. Eine dynamische Moral (soeben hatte Nietzsche uns sogar ihre ohnmächtigen Reste ausgeredet) brach jäh herein. Sie machte Sensation, bis hinein in stumpfe Mengen, die nichts lasen. Die »Kreutzersonate« ist eines der Wunder des Zeitalters.
Geistig Bewanderte haben ihr bald angesehen, daß die geforderte Keuschheit nur ein Teil des Ganzen war. Um die integrale Reinheit ging es, um das sittlich bestimmte Leben, die Wahrheit, die Wahrheit! – es komme nach, was mag, es komme gar nichts mehr. Um dieselbe Zeit) geschah ein anderes Zeichen von gleichem Anspruch und nicht geringerer Kraft, die Affäre Dreyfus. Der Abstand der beiden ist nicht geistig, er ist soziologisch bestimmt.
Die französischen Intellektuellen in ihrem Entscheidungskampf um die Wahrheit blieben allein, trotz zahllosen aufgerührten Gewissen, mit so viel Haß, der sie traf, und bei aller Ergriffenheit der westlichen Welt. Die sozialen Tatsachen ließen in dem klassischen Fall, der ausgetragen wurde, keine unverbrüchliche Entscheidung zu. Die Wahrheit war »auf dem Marsch« – und erstickte unter Kränzen, als sie ankam.
Die Russen, ihre herrlichen Romanschreiber, waren in besserer Lage, – wenn ein Leiden ohnegleichen, das Leiden am »Totenhaus«, an der Verkehrtheit aller und an der eigenen, wenn sogar das Leiden unter der Wahrheit, die durchgesetzt werden will, irgendwen je gut gebettet hat. Dafür sind sie nunmehr wohl aufgehoben in der anonymen Verehrung unendlicher Leserschaften, die das eine Mal – nur dieses Mal in Generationen – bestätigt fanden, daß auch die Erkenntnis, auch der sittliche Wille siegen kann; nicht unfehlbar gehört der Erfolg der niedrigen Schlauheit und Bosheit.
Die Oktoberrevolution ist, wie jede echte, tiefe Revolution, die Verwirklichung einer hundertjährigen Literatur. Dies ist hauptsächlich darum die Tatsache, weil alle Intellektuellen unseres Kulturkreises, in dessen Mitte die Sowjetunion liegt, es so wissen wollen. Wenn – par impossible – die Sowjetunion eine Selbstverleugnung vornähme –.
Aber es geht nicht: mit dem ersten Zugeständnis höbe sie sich schon ganz und gar auf. Sie würde, ohne daß ein Wort fiele, den ungeheuren Ruhm der Nation ausstreichen: er ist literarisch.
Sie verlöre – aber wer weiß es so gut wie sie – alle intellektuellen Sympathien, die in nackter Wirklichkeit nichts anderes sind als die vollendete Weltrevolution. Sie ist nicht mehr zu unternehmen, sie bedarf weder der militärischen Eroberungen noch kommunistischer Propaganda, der künstlichen Ernährung mehr oder weniger verwandter Parteien (die es niemals ganz sind). Die Weltrevolution hat als Nährboden die Geister – ausnahmslos alle menschlichen Organismen, die jetzt denken, die jetzt sich selbst achten.
Die Teilerfolge der Revolution! Hier wurde vermutet und eingesehen, daß jenseits ihres Mutterlandes die Revolution eher zugelassen als umarmt, lieber anständig begrüßt als leidenschaftlich heimgeführt werden könnte. Aber auch die erwarteten Teilerfolge sind geistig-sittlich zuvor, erst nachher wird daraus, so viel von Umständen und Menschen erreichbar ist. Praktisch wäre dies ein Vorgang in vielen Etappen, kein Oktober tut es, viele Monate Oktober werden vorausgesetzt – und daß eine Menschenart nach der anderen ihren Geist öffnet.
Der Begriff des geistigen Menschen, des Intellektuellen oder Geisteskindes umfaßt das Menschengeschlecht.