Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885743
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mit Maschinen umgehen, will die Sowjetunion nach ihrem ausgesprochenen Programm die Schulung von Studierten geben. Nur, damit die Maschine den Vorteil habe? Der Mensch soll gedeihen, und kann es, wenn er denkt.

      Der Sozialismus ist kein Einfall von Technikern oder Ökonomisten. Fourier, Saint-Simon und le Pére Enfantin waren alles andere. Marx ist ein Philosoph der Tatsachen. Ihr Denker und Vollzieher zugleich ist Lenin. Zu der währenden Zeit des Realisten Stalin war die betonte, anschaulichste aller Kundgebungen (bis der Krieg kam) ein Schriftstellerkongreß.

      Das Volk von Moskau, samt den eingeströmten Völkern, hat mit brennendem Eifer dem Auftritt seines Maxim Gorki beigewohnt, als dem Abschluß eines fruchtbaren Jahrhunderts, als dem Versprechen eines neuen fruchtbaren. Das Volk hat mit Recht die Reden der Schriftsteller für sein öffentliches Bekenntnis (am Kreuzweg wollte es die alte Sitte) – für sein eigenes, laut gewordenes Herz hat das Volk die Reden gehalten.

      Des Kongresses erinnerte ich mich, als einen dieser Tage ein Geschäftsmann, früher im Vorstand einer Londoner Bank, auch seinerseits etwas bekannte. (Der Dritte im Gespräch hörte starr zu.) Die Worte hießen ungefähr: »Wenn die Revolution nicht das Beste vom Denkbaren verwirklicht hätte, ja, angenommen, sie hätte auf lange Sicht überhaupt nichts verwirklicht, es stäke nichts dahinter.« Pause. Sinnende Augen. Leiser: »Es scheint doch, etwas steckt dahinter.«

      Ein Mann des praktischen Verkehrs, der dies äußert, glaubt mehr als er sagt, er hält auf, was über die Lippen möchte. (Noch sitzt ein Dritter starr dabei.) Der Mann ist ein Intellektueller, er hat seinen Geist geöffnet. Wer aber kam früher? Eindringlich bedacht, wer kam zuerst?

      In russischen Hütten, an Winterabenden, beim Talglicht, es ist wohl sechzig Jahre her, hat ein Bauer den anderen Bauern vorgelesen – dies an tausend Abenden in tausend Hütten; und war zumeist nur einer, der die Kunst des Lesens selbst entdeckt hatte, gelehrt wurde sie damals nicht jedem. Er las zum Beispiel die Volkserzählungen des Grafen Leo Tolstoi; eines hohen Herrn, der aber schrieb, was Bauern zu lesen not tat.

      Der Bauer las »Wieviel Erde braucht der Mensch?« Da läuft einer im weitesten Bogen um das Land, das er besitzen will. Die Regierung hat ihnen Land versprochen, soviel ihre Füße an einem Tag nehmen können im Lauf. Seine Gier läßt den Mann kein Maß finden, er läuft, sein Antlitz rötet sich feurig, es erblaßt schneeweiß, er läuft. Mit keuchender Lunge, dem Herzen, das stocken will, läuft er, bis er umfällt. Ist tot, wird auf der Stelle begraben. Sechs Fuß war er lang. Sechs Fuß Erde braucht der Mensch.

      Das ist der Ursprung.

      Ein Gleichnis von einer Schlagkraft, einer Unerbittlichkeit, wie Jesus Christus es erfunden hätte, über die Vergeblichkeit des Besitzes und das Menschenleben, das nicht seinetwegen dahingehen soll. Dergleichen mehr, gesetzt, ein Volk wäre begabt und lauschte darauf, ergibt zuletzt die Revolution. Sie war vor ihrem Ausbruch zugegen.

      Das ist der Ursprung. Westliche Intellektuelle, die seiner gewahr werden, verneigen sich. Sie hatten manchmal die Revolution sogleich begrüßt, unbesehen und mit einiger Anmaßung, als geschehe sie ihretwegen. Indessen waren sie dem Ursprung fremd.

      Andere, vielleicht die Bescheideneren, haben abgelehnt und nicht begriffen. Ich wüßte zu melden, was diese Schritt für Schritt überzeugt hat: es ist die tiefe, ursprüngliche Intellektualität der Revolution. Züge von ihr, die manche frühen, sogar parteimäßigen Anhänger enttäuscht haben bis zum Abfall – von der Partei, wenn nicht von der Revolution – die Moskauer Prozesse insbesondere, haben andere, zögernde Zuschauer erst vollends aufgeklärt, vermöge ihrer in aller Welt einzigen Intellektualität.

      So weit wir sind, so weit wie der Dean of Canterbury, der Londoner Bankier, waren vor sechzig Jahren die Bauern in der Hütte beim Talglicht, wenn sie lauschten.

      Drittes Kapitel.

      Großbritannien

      Wirkungen der Battle of Britain

      Einer Nation von klarem Selbstbewußtsein darf man ihre Größe nicht vorhalten, man träte ihr zu nahe. Ein Fremder, der, während dieser Zeiten oder vorher, einer Engländerin britische Eigenschaften rühmte, zog sich die Antwort zu: »Wir wissen es, aber wir wollen es nicht hören.« Wenn er ihr bestätigt hätte, sie selbst sei das Vornehmste auf Erden, sie würde es eingesteckt haben. Auf ihre Nation bezogen, ist die Gewißheit heilig und wird nicht genannt. Bekenntnisse verbietet die Selbstachtung.

      Großbritannien hat nicht, wie Frankreich, letzthin Zweifel zugelassen an seiner Festigkeit und Würde. »Unselig« konnte es nie gescholten werden, so nahe ihm zeitweilig der Untergang schien. Nach Dunkerque hat dieses Land allein den Kampf nicht nur fortgesetzt, es war sogar fähig, ihn entblößt und wehrlos dennoch zu bestehen. Seine eigene Rüstung im Verein mit den amerikanischen Waffenfabriken holte eilig auf. (Über dem drangvollen Augenblick vergaß man nicht, solider zu arbeiten als die Deutschen. Wie einen Maßanzug im Frieden.)

      Dies aber geschah, während jeden Tag, ein Jahr hindurch, die Existenz des Reiches und der Insel in Frage stand. Bis der Angreifer, weil er mußte, auch noch die Sowjetunion überfiel. Die deutsche Niederlage vor Moskau beendet für Britannien die Gefahr, vor der es jedem Land geschwindelt hätte. Über Sein oder Nichtsein hatte es selbst entschieden.

      Die Battle of Britain hat den Krieg gegen Deutschland entschieden. Aber erstens, wer sieht das zur gleichen Stunde. Am 9. September 1914 oder mehrere Tage später, da in Deutschland von einer Schlacht an der Marne nichts bekanntgemacht wurde, habe ich wohl erraten, nicht nachgeprüft, daß virtuell das Ende ausgehandelt sei. Nur daß ich dieser Grundtatsache zeitweilig beinahe vergaß in den folgenden Jahren der langwierig hingeschleppten Schlächtereien.

      Mit den gebotenen Abwandlungen vollzieht sich jetzt das gleiche. Deutschland ist eine Landmacht; es mußte in Stalingrad verunglücken, wenn es jemals begreifen soll, daß keine Landmacht die unbedingt stärkste bleibt, es gibt immer noch eine stärkere. Überdies aber soll Deutschland endlich lernen, daß eine Landmacht überhaupt nicht den Stoff hat, die Welt zu besiegen und zu behaupten. Im scheinbaren Besitz des Kontinents unter Ausschluß der verhängnisvollen Insel, hat Deutschland in Wirklichkeit nicht gesiegt, und herrschen wird es nie. Diesen Sinn ergibt die Luftschlacht über England vom Jahre 1940 für den Verlierer, gesetzt, er faßte ihn.

      Großbritannien muß damals ebenso ungeschickt gewesen sein, den Vorgang zu begreifen. Wie ging die Insel aus ihm hervor! Verwüstete Küsten, eine Hauptstadt, durchsetzt mit aufgerissenen Lücken, die Bevölkerung straßenweise ohne Obdach, zwischen Trümmern im Schmutz ihrer Bedürfnisse, in der Not ihrer Blöße. Die einzige Arbeit einer unermeßlichen Siedlung anständig gewöhnter Menschen war fortan das Nachgraben, Abräumen, das Suchen und Bergen der Gefallenen – der Kinder unter den Leibern ihrer Mütter. Wer hätte bei voller Arbeit, unterbrochen nur durch Flucht in die Unterstände, an Guernica gedacht.

      Guernica, eine spanische Kleinstadt, ist die erste, schwache Anspielung der Zerstörung von London. Dort fielen die Bomben auf eine Schule, nunmehr das Muster für die Schulen des Jahrhunderts: seither sind sie bestimmt, ihre Schüler unter sich zu begraben. Die Vorübung der fliegenden Landsknechte, ein eingefangener Kindermörder hatte sie schlicht und glaubwürdig erklärt. »Der deutsche Soldat denkt nicht. Er gehorcht.« Das war richtig für die spanische Kleinstadt, über die sie herfielen, sie wußten selbst nicht wieso.

      Während ihrer Luftschlacht um England, das kann beschworen werden, hat jeder einzelne das Hochgefühl seiner Berufung genossen. Die Erwähltheit seiner Herrenrasse war noch das wenigste. Sogar eine Jahrtausendgestalt, den Liebling der Weltgeschichte, ihren Hitler, konnten die beflügelten Knechte nicht dauernd im Auge behalten. Immer gegenwärtig war England, erkennbar des Nachts an den Bränden, tagsüber in dem Wabern von Haß, den sie gleichfalls hinunterspien. »Umgürte dich mit dem ganzen Stolze deines Englands.« Endlich hilft das nicht mehr. Endlich muß der Brite kriechen. Aus mit dem vornehmen Gönner, für den die Wilden kämpften, und das Geld des Weltalls floß gratis hierher, in dasselbe Land, das jetzt raucht und wo sie kriechen.

      Die Knechte sind glückselig erinnert worden an ihre eigene Kriecherei vor dem Übermut