Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885743
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Gerade er verzichtet am wenigsten auf den Rang eines Intellektuellen. Eher noch ließe er seinen Marschallstitel fallen. Der einzige jetzt authentische Realismus deckt sich mit dem Ausbruch von Wahrheitsliebe, der dieses Zeitalter bewegt.

      Die beiden Revolutionen sind eine

      Vorerst hat der Ausbruch von Wahrheitsliebe 200 Millionen Menschen durchaus verändert, er hat sie befähigt für Siege, die nicht zuerst militärisch waren. Die Sowjetunion kann den Krieg gewinnen, weil sie vorher so viel Wahrheit besaß. Nicht ohnmächtige Wahrheit, sondern lebendige – das wirkliche Leben eingerichtet nach bester Erkenntnis, mit dem besten Willen für die Menschen.

      Das Phänomen der ausbrechenden Wahrheitsliebe wiederholt sich an jeder größten Zeitwende. Die Französische Revolution war ursprünglich der russischen wesensgleich. Nicht ganz früh erklärte sich, daß nur eine andere Klasse, statt der vorigen, zur Macht kam. Gewiß war es unmöglich, vor allen seither gemachten Erfahrungen zu wissen, was Freiheit heißt, solange es Besitzende und andere gibt. Übrigens besaß noch niemand die nationalen Grundwerte, außer dem Land, und das wurde aufgeteilt.

      Der Abstand der Französischen Revolution von der russischen ist allein zeitlich bedingt, niemals durch die verschieden bemessene Wahrheitsliebe, durch anders verstandene Menschenpflicht. Menschenpflicht und Wahrheitsliebe sind dasselbe, und es gibt sie nur in einerlei Gestalt.

      Die Französische Revolution hatte die Menschenrechte statuiert. Sie wirklich zu besitzen blieb jedem einzelnen überlassen. Der Ruhm des Jahres 1789 ist die Befreiung der menschlichen Persönlichkeit. Sie darf endlich so groß sein wie sie ist, so mächtig wie sie werden kann. Der Auszeichnung – und dem Abstand, sind keine Schranken gesetzt. Es ist erlaubt, unsterblich oder wenigstens reich, bald wird es erlaubt sein, Kaiser zu werden.

      Die Gleichheit bleibt unter diesen Umständen eine gedachte Voraussetzung. Beim Absprung ins Leben seien alle gleich. Aber setze dich durch, wenn du in Wirklichkeit benachteiligt, wenn du arm geboren, in Unwissenheit gelassen und womöglich von dunkler Hautfarbe bist! Schon die Verpflichtung auf eine einzige Sprache, die jeder mitbekommen haben muß, um sie in der Art aller zu gebrauchen, macht manche zu Unterlegenen.

      Eine neue Revolution wird sich sozialistisch nennen, weil sie vor allem, oberhalb jeder praktischen Einzelheit, auf die menschliche Gleichheit gerichtet ist. Unentschieden bleibt, ob Natur die Gleichheit begünstigt. Die Gesellschaft könnte sie schließlich verwirklichen. Sobald sie ihn braucht, stellt der gute Wille sich ein. Gefühlvoll wird er nicht zuerst sein. Was überwiegt nach langen Zeiten der sozialen Ungerechtigkeiten, ist der entschlossene Überdruß an ihnen insgesamt. Ihre Gesamtheit – ist die Ungleichheit. Oft von Natur bestimmt, noch öfter an den Zufall der Macht gebunden, die Ungleichheit ist nicht mehr erträglich, die Gesellschaft will sie begrenzen.

      Als erste hebt der revolutionäre Staat die Ungleichheit der Arten auf. Die Sowjetunion begreift die kaukasische und andere Rassen ein: aber Unterschiede gelten nicht mehr. Die höchstentwickelten Arten – höchstentwickelt nur nach westlichem Maß – sind nicht beispielhaft von Amts wegen, geschweige bevorrechtet. Sechzehn Republiken, jede mit einer homogenen Bevölkerung, bekommen gleiches Gesetz, jede ihre angepaßte Verfassung. Sie behalten ihre Sprachen, die russische wird nur gelehrt, nicht übergeordnet.

      Nun ist tatsächlich erwiesen, daß lauter Ungleiche, staatlich bisher durch bloße Gewohnheit verbunden, auch mit eigener Zustimmung ihre Pflichten tragen, wenn jeder die Rechte der anderen besitzt. Das Vaterland selbst wird mehr als eine auferlegte Schuld. Es übertrifft den sentimentalen Gegenstand, der es sonst gewesen war. Es wird deutlich wie der Acker vor dem Haus. Es wird daher verteidigt, überzeugt, unbedingt, als ob es der eigene Acker wäre. Dies ist das Vaterland nach Aufhebung der Ungleichheit. (»Das Leben für den Zaren« – und Stalingrad.)

      Als die Französische Revolution die Gleichheit nur voraussetzte – schon der Gedanke der Gleichheit machte die Nation unbesieglich. Wie erst, wenn eine andere Nation ihre Gleichheit – die schwierige Gleichheit der Arten – durchsetzt und verwirklicht! Hier steht Gleichheit nicht im tatsächlichen Widerspruch zur Freiheit: sie ist ihr Anfang, der wirksamste Versuch ihrer Erfüllung. Den Beweis durch das Gegenteil gibt der Feind, der dieses Land überfallen wird. Der deutsche Feind hat aus der Ungleichheit der Arten seine Waffe gemacht.

      Der eigentliche menschliche Gegensatz ist hier Deutschland, das Objekt einer Rassenpsychose, die Sowjetunion, das Versuchsfeld für die Gleichheit der Arten. Das ist der Punkt. Die Gleichheit der Arten fordert von selbst die Gleichheit der Klassen und Individuen. Sie verbietet einen übertriebenen Unterschied des Besitzes und der persönlichen Pflege, wie sie den Vorrang einer Rasse leugnet. Kommunismus, so verstanden, existiert auf höherer Ebene als nur wirtschaftlich. Er ist ein technisches Mittel der wahrhaft gemeinten Gleichheit der Menschen.

      Der Feind, diese Deutschen, wie sie jetzt sein müssen, erklären den Sozialismus der Sowjetunion für erniedrigend, das Merkmal angeborener Knechtschaft. Gleichwohl liegt er für die Sowjetunion auf dem Weg ihrer – mehr als ökonomischen – Befreiung. Durch Gleichheit zur Freiheit – wird dort erprobt. Der Versuch scheint wenigstens weitherziger als der enge deutsche.

      Ein Volk von zusammengesetzten Beständen, altdeutschen, slawischen, keltisch-römischen, jüdischen – mit geringen nordeuropäischen Spuren, will nicht nur Rasse haben. Schon damit sagt es zuviel. Aber überdies Herrenrasse, das Herrenvolk schlechthin, – da hört verschiedenes auf. Die Kraft, wahr mit sich selbst zu sein, hört auf. Der Mut, seiner eigenen Geschichte ins Gesicht zu blicken. Es zeugt nicht gerade von deutscher Herrlichkeit.

      Wer die Deutschen achten wollte, Goethe unter vielen anderen, nahm sie einzeln, mit ihren Gaben, die sie bewährt haben, einzeln, nicht als nationale Gesamtheit und allzuoft trotz dem Unvermögen der Nation, gegen ihren Widerstand. Jeder Deutsche von Rang hat unter den Deutschen gelitten. Wenn er Ansehen der Welt eroberte, war es Not; er zwang sein Land, ihn zu achten. Das geht auch nicht mehr, seitdem die Deutschen das Herrenvolk sind. Sie sind es ausdrücklich geworden, um niemand und nichts mehr achten zu müssen.

      Was sie ihren Antibolschewismus genannt, womit sie überall die geängstigten Eigentümer betrogen haben, war niemals die Sorge um den Besitz – der anderen.

      Der genaue Ursprung des Antibolschewismus ist so wenig in der Wirtschaft zu suchen wie die Herkunft des Kommunismus. Sondern die Widersacher eines Ausgleichs zwischen arm und reich widersetzen sich zuerst der menschlichen Gleichheit: Ein Aufstand gegen Natur und Gesellschaft. Wenigstens für Unterschiede, wie Menschen sie machen, hat die Natur ihre souveräne Nichtachtung. Die Gesellschaft aber, wenn sie nicht ausgleicht, wofür bestände sie. Besser offene Anarchie.

      Niemandem muß gesagt werden, daß die vollendete menschliche Gleichheit nicht vorkommt. Frei geboren zu sein, ist auch nur der Begriff, den die Sterblichen von sich haben. Es ist ihr unsterblicher Begriff. Wenn das Leben ihn jemals wirklich erfüllte, hätten sie zu leben vielleicht keinen Grund mehr?

      Es ist lebensfördernd, frei und gleich sein zu wollen – das eine um des anderen willen. Feindseligkeit gegen das Leben verrät sich, wo die Gleichheit der Arten, Klassen, Individuen schlechtweg verboten ist. Mit ihr fiele auch die Freiheit, soviel davon wirklich errungen ist, soviel noch aussteht.

      Um die Gleichheit unmöglich zu machen, widerruft man tatsächlich die ganze Freiheit. Der Antibolschewismus erklärt sich gegen die Französische Revolution, als hätte sie die Sowjets erfunden. Der Konvent ist kein geringerer Schrecken für die Schicht von Bürgern, die sich inzwischen bereichert haben; er ist kein schlechterer Vorwand für den antibolschewistischen Betrüger. Der Betrüger kennt ihren Point névralgique – kein Kunststück, der schmerzhafte Punkt ist nicht von heute.

      Die Furcht vor dem Volk hat die besitzende Schicht in Frankreich selbst bis zum Haß ihrer eigenen Revolution getrieben, – ohne die Revolution bestände sie gar nicht. Um ihren Besitz zu retten, hat sie ihre Herkunft, endlich sogar ihr Land verraten, wie man sah. Wie man nicht zum erstenmal sah. Schon der bürgerliche Haß gegen die Pariser Kommune von 1871 ging bis zur Zusammenarbeit mit den bewaffneten Fremden im Land. Die Kollaboranten der Jahre 1940 bis 1944 haben Vorläufer und rühmen sich einer Tradition.

      Damit