Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885743
Скачать книгу
ni vu ni connu, würde Mr. Churchill in seinen französischen Ansprachen sagen. Er sagt überall das gerade Gegenteil. Für ihn und für ganz England ist die Sowjetunion der anerkannte Staat des Zeitalters, ja, der einzige, der es überschreitet, es weiterführt.

      Sie sprechen: »Das Bündnis Großbritanniens mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Sie verkünden: »Nach dem Krieg wird es in diesem Land keine Drohnen mehr geben.« Der Premierminister selbst hat die verurteilten Drohnen nach ihren Schichten aufgeführt: die ganz alten (seine eigene, adelige Klasse), die bürgerlichen Reichen, die frischen Profitmacher. Sie alle sind unstatthaft in einem Volk, das Unermeßliches getragen und unwahrscheinlich neu gehandelt hat. Ein Volk wie dieses kann nicht länger mit den alten Tricks der sozialen Ungleichheit übervorteilt werden.

      Das wäre erstens praktisch untunlich. Ein Volk, das sich für den Krieg mitnichten gebrauchen ließ, sondern seinen selbstgefaßten, nüchternen Beschluß vollzog, wird nach allem Ermessen nicht mehr unbestraft benachteiligt.

      (»Nach allem Ermessen« ist leider ungenau. Völker so gut wie Individuen haben Anwandlungen von Willensschwäche. Gewöhnliche Kriege hinterließen endlich die entwaffneten Kämpfer mit Verdiensten bedeckt wie ein General mit Orden, aber dennoch gehorsamer oder gleichgültiger als vordem. Wie wird das erst mit dem »totalen« Krieg kommen. Er hat nicht den bewaffneten Teil des Volkes, das ganze Volk hat er erfaßt, mitgenommen, ermüdet. Gerade hierfür hatten die deutschen Erfinder des totalen Krieges ihn bestimmt. Ihre Intelligenz ist übrigens unzulänglich. Nur wo es darauf ankommt, das Volk zu verringern, reicht sie.)

      Praktisch verfehlt bliebe es darum doch, ein Volk, das gekämpft hat wie das britische, um den Preis zu prellen. Die Bestrafung der Unredlichen wäre nur vertagt: Eine Demokratie mit der alten Erfahrung der britischen weiß es. Sie mogelt wie die anderen Demokratien. Sie hat, bis zu diesem Krieg, ihre faschistischen Bestandteile groß werden lassen. Die deutschen Schlauköpfe zählten sogar nach ausgebrochener Katastrophe auf ihre Zuhälter in England: sie schickten ihren Heß hin. Er hätte, stände es noch immer wie einst, Großbritannien gegen das deutsche Verbrechen abstumpfen, wenn nicht dafür gewinnen sollen.

      Er hat gar nichts gewonnen und durfte höchstens klagen, daß er noch immer nicht fein genug speiste, – als der mittlere Engländer schon die Reste seiner Mahlzeit in Papier wickelte und aus dem Restaurant nach Haus trug. Die ehemalige Nummer 2 der Nazielite ist von ihren britischen Freunden peinlich verleugnet worden: niemand will ihn gekannt haben. Was er beichten möchte, ist erlogen oder ist zufällig echt, auf keinen Fall interessiert es.

      Seinen Auftrag, zu intrigieren, hat er inzwischen selbst als kindisch erkannt: dies sind die Jahre, die alles verwandeln. Als dieser Heß vorgab, er wäre geflüchtet, log er. Jetzt fände der geborene Ägypter ein längeres Verweilen in Deutschland tatsächlich unerwünscht.

      Faschistische Sympathien können in England schlechterdings nicht einbekannt werden. Bei der Fügsamkeit des menschlichen Gemütes und solcher Gemüter, heißt dies auch schon: sie sind abgelegt. Geduldet wird der Antikommunismus. Aber jemand muß der Mann sein, sich vor die Brust zu schlagen und den Ton des herausfordernden Bekenntnisses zu gebrauchen. Auch darf er nicht vergessen, die Sowjetunion zu schonen.

      Man redet dann: »Einem russischen Kommunisten würde ich ausweichen. Neben einem britischen Kommunisten möchte ich nicht einmal begraben sein.« (Engländer werden anrüchig durch Meinungen, die den Russen eben noch hingehen.) Die mannhafte Stimme gehört einer Dame, von britischer Herkunft ist sie wohl nicht. Damit wäre erklärt, daß sie den Verdacht der Unmoral nicht scheut. Britisch ist es, unter allen Umständen seinen Frieden mit der Moral zu machen. Neue Zugeständnisse, die für vernünftig und unausweichlich erkannt werden – so die Anerkennung eines mehr oder weniger kommunistischen Staates und seiner universalen Auswirkung –, werden in England moralisch gewertet. Wenigstens bekommen auch die sonst Unkundigen den überzeugenden Eindruck.

      Es bleibe dahingestellt, ob vielmehr ein neu geoffenbartes Sittengesetz das Früheste ist. Vielleicht lag es zugrunde und wartete nur, bis die Schule des praktischen Lebens es tauglich erwies und ans Licht zog. Nehmen wir für alle Fälle an, daß zuerst die russischen Erfolge kamen, dann die Einsicht: ein Staat und Volk wie diese können nicht länger bemakelt bleiben. Es ist keine Schande, Kommunist zu sein, da Einrichtungen und eine Auffassung vom Leben, die kommunistisch heißen, in zwanzig Jahren ein Land groß und siegreich machen. Dem Siege vorbestimmt ist die proletarische Revolution – ist immer die echte Revolution. Stalingrad gleicht Valmy.

      Hinzugerechnet die Schicksalsgemeinschaft. Denn die große britische Verwandlung vollzog sich unmittelbar, bevor auch die Sowjetunion um ihr Leben kämpfen mußte – um die Nation selbst, wie Großbritannien. Aus einem Mittler und Gönner von vornehmer Statur wird der nackte Mensch, verkrümmt von lange ungewohnten Anstrengungen: nicht wahr, da erkennt man den Proletarier, errät seine Seele.

      Einer schien für immer gesichert, die edle Langsamkeit der Entschlüsse, eine praktische Vernunft ohnegleichen saßen ihm wie angeboren. Schneller als es sich sagen läßt, wird er ein großer Dulder, spannt sich an, kehrt um, bis er der erstaunlichste Abenteurer, ein Don Quichotte gar ist. Nicht wahr, das eröffnet Einblicke in das Wesen der Sowjetunion.

      »Unser Bündnis mit Rußland wird den Krieg überdauern.« Nicht nur, weil beide auf der gleichen Seite kämpfen. Erst recht, weil sie mit verwandter Seele gekämpft haben und, ob sie wollten oder nicht, einander die Nächsten wurden. Wo ist das Jahr 1940, als England, zu spät, der französischen Republik die Vereinigung der beiden Reiche anbot! Großbritannien und die Sowjetunion, nur sie enthalten alle Kräfte, deren Europa bedarf, gesetzt, es sollte nochmals leben. Verantwortet wird das neue Europa von ihnen allein.

      Großbritannien und die Sowjetunion haben niemals daran gedacht, einander nachzuahmen. Wollten sie es, wäre viel zu überwinden, ein konventioneller Abstand, noch größer als der praktische. Das Bewundernswerte ist, wie sie ohne Absicht, ohne Vorbild, dennoch zu gleichen Vollendungen gelangen. Nicht allein ist die britische Auffassung der Freiheit nunmehr abgewandelt in Richtung der Gleichheit – (ohne daß sie erreicht wird; wörtlich besitzt auch die Sowjetunion sie nicht). Sondern die andere Parallele, unerwartet, aber tief vorbereitet, tritt zutage. Die Sowjetunion errichtet wahrhaftig ein zweites Commonwealth.

      Das sieht unmöglich, es sieht wie eine im voraus verlorene Wette aus. Jede der sechzehn Republiken soll ihre eigene auswärtige Politik haben; Polen würde mit der Ukraine zu tun bekommen, anstatt mit Moskau. Übrigens ist es dahin so weit wie zum britischen Kommunismus. Man begnüge sich mit der Neigung und dem Bekenntnis. Die Logik der Dinge wird begriffen, lange vor ihrer Verwirklichung. Offenbar verwandelt keine zentralisierte Autokratie sich über Nacht in eine Föderation. Das britische Reich hat mehr als hundert Jahre gebraucht.

      Die Selbständigkeit der Sowjetrepubliken ist in ihrer Verfassung vorgesehen – nicht nur für ihre auswärtigen Angelegenheiten, sogar für ihre militärischen. Wenn beides schon heute durchgeführt wäre, könnte die Union diesen Krieg nicht bestehen. Damit wäre nicht bewiesen, daß der Vorsatz unernst ist. Aus der anerkannten Gleichheit der Menschenarten ergeben sich Rechte – auch Rechte, die in der Zukunft liegen, worauf es ankommt: den Punkt eins zu erreichen, wo die Selbstbestimmung der Republiken die Union nicht unsicherer macht, sondern sie befestigt. Das britische Commonwealth ist freiwillig und verbürgt einem Viertel der Erde seinen inneren Frieden.

      Die Briten haben niemals befürchtet, Hitler werde mit der Sowjetunion fertig werden, weder in sechs Wochen noch überhaupt. Wer sowohl Antifaschist als auch Antikommunist war – aber Demokratie ist das noch nicht, sie setzt sich nicht aus Antis zusammen –, hat allenfalls gewünscht, Nazis und Rote möchten einander aufreiben und unschädlich machen. Das war alles, was man tun konnte, um die innere Annäherung an Rußland zu durchkreuzen. Es ist wenig. Unvergleichlich kühner handelte zu derselben Zeit die Moral.

      Das Buch des Dean of Canterbury über die Sowjetunion, so bedeutend es ist, fällt doch nur unter die Symptome. Die wiedergeborene Moral schreit dermaßen zum Himmel, daß einer der höchsten Priester des Landes, wo sie das meiste gelten, nicht anders kann, als einstimmen. Es war aber sein Traum von je, so sprechen zu dürfen, von dem Heiland als seinem Zeitgenossen, von den Verheißungen des Heilands an die Armen, nur an sie,