Ein Zeitalter wird besichtig. Heinrich Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726885743
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empört sich einer gegen die übermächtigen Lügen des Zeitalters, er überbietet sie in feindlicher Absicht, macht angestrengt seinen ehrgeizigen Weg, und der endet am Richtplatz. Aber Julien Sorel hatte als innere Stütze den General Bonaparte, – er war da gewesen, nicht nur für seinen Augenblick der hochgespannten Wahrheiten: sie müssen immer wieder siegen. Als Stendhal, vordem kaiserlicher Offizier, das Buch schrieb, entblößte er, höchst nüchtern, den Zustand seiner jüngeren Zeitgenossen, sofern sie Geist und Herz besaßen. Für seinen Teil hatte er gehabt, was sie unbekannt beklagten. Bis zuletzt fühlte er sich als den Gefährten des Siegers der Freiheit. Ihn sollte nichts anfechten.

      Er trug den Kopf hoch, legte ein ungedrucktes Werk nach dem anderen fort und sagte auf das Jahr genau voraus, wann man sie lesen werde. Er war nicht mehr dabei. Seine Berechnungen beruhen zweifellos auf der Kenntnis Frankreichs, seiner Zukunft, sie gehen nur dieses Land an. Unerforschlich blieb ihm, daß ein anderes, entferntes Reich den Sinn und Gehalt seiner revolutionären Jugendtage erneuern werde, und daß ihm dort, erst dort die unbemessene Zahl von Lesern bestimmt sei.

      Die armen deutschen Romantiker, die Gabe voraus zu wissen haben sie sich nicht beigelegt; sie zogen ein Halbdunkel vor, sogar über ihre Lage bei Lebzeiten. Die Weltflucht ist bedingt durch ein fragwürdiges Gewissen. Preußische Offiziere sind unter diesen Schriftstellern. Sie und ihre Generation hätten gegen Napoleon, wenn sie ihn schon zum Teufel wünschten, nicht ein Wesen veranstalten dürfen, als erfüllten sie die höchsten sittlichen Gebote. Die waren wohl eher auf seiner Seite, und als praktischer Vorwand, ihn zu bekämpfen, konnte nur dienen, daß er ein Fremder war. Der Erfolg seiner Feinde hatte sie enttäuscht: jeder öffentlich Denkende muß es empfunden haben – in höherem Grad als die sich still verhalten.

      Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann. Das kommt nur vor, wo, mit oder ohne Nötigung, falsch gehandelt wurde. Eine Mannschaft von Romanciers, die soziale Tatsachen darstellt, kann meinen, die nächste équipe werde für ihre Zeit dasselbe tun. Hundert Jahre ist dies wahr gewesen, in Frankreich wie in Rußland. Aber Zaubermärchen, altdeutsche Maskierung, künstliche Verzückung, ein grundloser Tiefsinn, wer soll das fortsetzen. Diese Dichter schreiben wie die letzten Menschen.

      Goethe, der große Liebhaber des Lebens, mochte die ganze Gesellschaft nicht. Er nannte sie krank. Sie standen aber für ein Land, das nicht gesund war, es auch nie wieder ganz geworden ist. Ihrerseits haben sie Goethe wenig verkannt; die Hauptsache, sein hohes und einfaches Lebensgefühl, überzeugte die meisten. Es ergriff ohne Zweifel den Lebensfähigsten, E. T. A. Hoffmann: verstreut in seinen Werken sind Liebeserklärungen an Goethe, – der keine Kenntnis davon nahm. Nach den ersten von Hoffmanns Erzählungen hat er zu Eckermann gesprochen: In den gewöhnlichen Alltag das Wunderbare einzuführen überrasche, und für einmal möge es hingehen, aber nicht oft. Der arme Hoffmann starb zu früh, um hiervon noch zu erfahren.

      Der wirkliche Zustand Deutschlands erklärt sich offen, wenn ich von den Schöngeistern übergehe zu den Philosophen und Gymnasten. Politik kommt nicht in Betracht; in eine Sackgasse verrannt, ist man mit der Frage, wie es unmittelbar weitergehen soll, fertig. Als Ersatz hat man Geschichte. Zur Tröstung züchtet man einen verhängnisvollen Fanatismus nationaler Geltung. Je gedrückter die Nation bei sich zu Haus ist, um so gewisser muß ihr Beruf in der Welt ohne Grenzen sein.

      Weltherrschaft – der deutsche Traum hat angefangen mit Leuten, die den großen Kaiser, als es seine Bestimmung war, denn auch besiegt hatten, sie selbst aber konnte jeder Profos durchprügeln. Die Anfänger der deutschen Weltherrschaft verkleideten sich altdeutsch, schlugen die Bauchwelle und kamen oft auf Festung. Den überkommenen Mächten im Staat waren Umwälzungen verdächtig, auch wenn sie auf erweiterte Grenzen Deutschlands abzielten und nur in großen Worten vollzogen wurden. Die Herrscher witterten richtig. Weltherrschaft – war ihre Konkurrenz. Wer von ihr schwärmte, die Turner, die Denker, meinte auch, meinte vor allem die versäumte deutsche Freiheit. Ehrenhalber und um der Wahrheit willen sei es vermerkt.

      Der königliche Rat am Kammergericht Berlin, Hoffmann, auf seinem anderen Gebiet als der »Gespensterhoffmann« namhaft, rettete einen der »Demagogen« – so hießen sie –, den sein König, der König der nicht gegebenen Verfassung, durchaus fangen wollte. Desgleichen stand es um Arndt, Jahn, Fichte, deren ausgelassenes Deutschtum heute überall beweisen muß, daß die Deutschen von jeher wie Hitler waren. Ihre übelsten Sätze werden jetzt den feindlichen Völkern zu lesen gegeben; sie haben gegen das Deutschland aller Zeiten eine gewagte Propaganda gemacht.

      Auch das Bekenntnis zur Freiheit wäre zu finden bei diesen Patrioten, die national ausschweiften und um so eher als Demagogen büßen mußten. Aber wenn von vergessenen menschlichen Zeugnissen eines wieder auftaucht, noch dazu weit draußen, wo man es nie gekannt hatte, dann ist es das übelste, und die Völker sind im Krieg. Sätze von Ernst Moritz Arndt, die jetzt englisch zu lesen sind, würden allerdings »Mein Kampf« zieren. Gewiß, die Anfänger der deutschen Weltherrschaft nehmen das Buch und seinen Verfasser vorweg, schon 1815. Wer weiß indessen, wenn sie zu wählen gehabt hätten? Laßt die Welt sich selbst, macht vielmehr aus eurem Land das Bestmögliche! Die Wahl war nicht gegeben.

      Die Nachahmung

      Die natürlichen Rachegefühle der Deutschen hätten seit dem Sturz ihres Feindes befriedigt sein können. Indessen, das befreite Vaterland bekam als wesentlichen Inhalt eine Knechtschaft, hoffnungslos, unvergleichlich zäher, als wäre die Eroberung des Bodens nie gerächt worden. Unlogisch, aber menschlich, wuchs, anstatt des vergeblichen Bestrebens frei zu sein, eine unbemessene Rache sinnlos weiter. Zum »Erbfeind« wurde Frankreich ernannt. (Napoleon hatte nicht nur für Frankreich gehandelt, um das Reich Karls des Großen ging es ihm.) Der Rhein war nie so deutsch gewesen wie nunmehr ohne Straßburg. »Nous l'avons eu votre Rhin allemand«, antwortete Musset.

      Eine Rache, die nicht gekühlt ist, erhält sich aus eigener Kraft, das Andenken des Beleidigers wurde endlich unentbehrlich. Man vertauscht es mit den eigenen frommen Wünschen. Wäre das Frankreich des Kaisers das Deutschland – wessen? – gewesen! Gleich wird aus dem verhaßten Abenteuer ein hoher Beruf. So geht es, wenn Rache sich in Nachahmung umsetzt.

      Die Rache war nicht auf einmal zu stillen. Hundertdreißig Jahre einer immer mehr ausschweifenden Nachahmung des Eroberers haben zum Schluß auch niemandem wohlgetan. Die deutschen Heere stehen seither das vierte Mal in Frankreich, das dritte Mal in Paris. Nach dem zertrümmerten Deutschland werden sie heimkehren. Wenn dies ein Trost wäre: Europa ist vorläufig aufgelöst, anstatt geordnet und verbündet.

      Der Veranstalter eines universalen Debakel ist Deutschland, mit seinen mißverstandenen napoleonischen Kriegen – ohne Napoleon, ohne Revolution, ohne das Gewissen einer echten Revolution. Mit nichts als Menschenhaß angreifen, siegen, sich schlagen lassen, sich anklammern und inmitten des eigenen Zusammenbruchs zäh und krampfhaft schaden, noch immer schaden, aber gegen sich selbst den Haß bis über die Wolken häufen, als genügte es nicht, daß er schon hoch wie die Alpen war: das ist der letzte Zustand des letzten deutschen Krieges. Der Führer der Deutschen entrüstet sich nun, daß man wage Deutschland »einzukreisen«, – Deutschland, das die Hoffnung Europas »war«. Eine Hoffnung, die nie bestand, ist gestrichen.

      Hier wird zusammengefaßt und ohne Schwanken behauptet: Von den Lehren des Phänomens Napoleon war nur die kriegerische für Unfreie brauchbar. Konnte er so viele Armeen schlagen, alle die Länder unterwerfen, dann auch wir, dann wir erst recht! Aber mehr. Nöppel (der Name des preußischen Hofes für seinen Gast, die Lippen der zarten Königin Luise sprachen ihn hinter seinem Rücken so aus; ihm ins Gesicht hieß er Sire und mon cousin) – Nöppel hat es fertiggebracht, zwanzig Jahre sich überall herumzuschlagen, und allein sein Frankreich blieb bis kurz vor dem Ende vom Krieg unberührt.

      Das hat er gut gemacht, das wird festgehalten. Kein Patriot, der nicht wenigstens diese einzige Erfahrung aufbewahrt und überliefert hätte: Die Entscheidungsschlachten des Weltbeherrschers haben deutschen Boden zerstampft und gerötet. Seine Laufbahn war Deutschland, seine Siege und zuletzt noch seine Niederlage sind bezahlt mit deutschen Städten, Feldern, Menschen. Nie wieder! Dieses Niewieder ist unbedingt, ohne den Schatten eines Zweifels ist es die Hinterlassenschaft der »Franzosenzeit« in Deutschland.

      Daraus