„Ihr schirmt mich gegen diese Halunken von der Marine ab“, sagte er. „Ihr achtet darauf, daß keiner von ihnen etwas gegen uns unternimmt. Wir verlassen jetzt dieses Schiff des Satans und gehen unserer Wege. Keiner wird uns daran hindern. Keiner behelligt uns, ich schwöre es euch.“
Er schickte sich an, das Achterdeck wieder zu verlassen und zur Kuhl hinunterzusteigen. Dort war eine Schanzkleidpforte offen, von der eine Stelling zur Pier führte. Der Weg in die Freiheit – und die Sonne leuchtete über Remedios. Es war ein freundlicher Tag, warm und feucht, und Don Antonio hatte mit einemmal das Gefühl, neu geboren worden zu sein.
Er dirigierte den Ersten Offizier der „San José“ vor sich her und benutzte ihn wie einen Schutzschild. Die Lakaien deckten ihn, zwei schritten voraus, die beiden anderen hielten sich hinter ihm. Keiner konnte gegen sie vorgehen, allen waren die Hände gebunden.
Don Garcia Cubera zeigte sich immer noch nicht. Er war in der Kommandantur verschwunden, und dort schien niemand auf das aufmerksam geworden zu sein, was an Bord des Flaggschiffes vor sich ging. Auch die Ausguckposten der auf der Reede ankernden Galeonen und Karavellen bemerkten nichts. Alles schien wie verhext zu sein.
Don Garcia Cubera hätte nur einen Blick aus dem Fenster der Kommandantur zu werfen brauchen, und er hätte den Dicken samt der Geisel und den vier Lakaien gesehen, die eben Anstalten trafen, das Schiff zu verlassen. Aber er tat es nicht, und so schien sich Don Antonios Vorhersage zu erfüllen: Die Flucht gelang, der korrupte Gouverneur ging von Bord.
8.
Der Erste Offizier ging gebückt. Er war durch die stechenden Schmerzen in seinem Hinterkopf benommen und behindert. Nie hätte er gedacht, daß ein Pistolenkolbenhieb derartige Qualen verursachte. Aber das hing eben davon ab, wohin jemand mit dem Knauf seiner Waffe schlug. Der Kopf war ein höchst empfindlicher Körperteil; man konnte sterben, wenn man einen Hieb gegen die Schläfe erhielt oder ein entsprechend harter Gegenstand den Schädel traf.
Aber sein Widerstand war noch nicht ganz gebrochen. Seine Gedanken überschlugen sich, während er vor Don Antonio de Quintanilla her ging und den Niedergang zur Kuhl hinunterstieg.
Wut kochte in ihm, heimlich ballte er seine Hände zu Fäusten. Es erschien ihm ungeheuerlich, er konnte noch immer nicht begreifen, daß er sich von dem Fettwanst Don Antonio hatte übertölpeln lassen. Die Szene war ein einziger Hohn, eine Farce, eine Klamotte – und doch wahr. Don Antonio verließ mit seinem Hofstaat die „San José“, und er, der Erste Offizier, würde sich dafür zu verantworten haben.
Don Antonios ganzes Verhalten, der Klang seiner Stimme und die Art, wie er mit der Pistole umging, ließen darauf schließen, daß er bereit war, bis zum Äußersten zu gehen. Er war in die Enge getrieben worden, Cubera hatte ihn praktisch des versuchten Mordes oder der Anstiftung dazu überführt. Der Prozeß, den man gegen ihn führen würde, stand Don Antonio drohend vor Augen. Deshalb befand er sich in der Situation eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Entsprechend war sein Handeln: Vom Haß und von der Verzweiflung getrieben, war er in der Lage, seine Lakaien mitten zwischen die Besatzung feuern zu lassen.
Äußerste Vorsicht war geboten, und doch wußte der Erste, daß er unverzüglich handeln mußte, wenn er noch etwas erreichen wollte. Je mehr sie sich von der „San José“ entfernten, desto geringer wurden die Aussichten, noch etwas unternehmen zu können. Hier hatte er noch die Offiziere und die Mannschaft hinter sich, aber wenn Don Antonio ihn in die Gassen von Remedios entführte, war er ihm endgültig ausgeliefert.
Warum übernahm Don Antonio jetzt, da er die Macht dazu hatte, nicht das Kommando über das Flaggschiff? Er hatte das Achterdeck bereits erobert, und mit der Unterstützung durch seine Diener konnte er die komplette Mannschaft dazu zwingen, sofort auszulaufen und nach Havanna zurückzukehren.
Aber der Geschmack an der Seefahrt schien ihm gründlich vergangen zu sein. Außerdem mußte er damit rechnen, daß die Besatzung der „San José“ nach dem ersten Schock über seinen Ausbruch reagierte und sich gegen ihn auflehnte. Zu groß war der Zorn, den diese Männer gegen ihn hegten. Er wußte das Risiko, das er einging, sehr wohl abzuschätzen, und nach reiflicher Überlegung in seiner „Gefängniskammer“ war er zu dem Schluß gelangt, daß es besser war, von Bord zu gehen und den Landweg zu wählen.
Der Erste Offizier schritt, von Don Antonio vorangetrieben, über die Kuhl auf die offene Schanzkleidpforte zu. Die beiden vor ihm gehenden Lakaien verhielten jetzt und wandten sich zu Don Antonio um.
„Bleibt da stehen“, sagte er. „Wartet, bis wir vorbei sind, und behaltet diese Hundesöhne im Auge. Der erste, der sich rührt und etwas unternimmt, kriegt eine Kugel.“
Der Erste Offizier sagte: „Don Antonio, ich appelliere noch einmal an Ihr Gewissen.“
„Habe ich nicht gesagt, daß du das Maul halten sollst?“
„Ja.“ Die Gedanken des Ersten überschlugen sich. Sollte er handeln, wenn er auf der Stelling war? Konnte er sich nicht zur Seite und zwischen der Pier und dem Schiff ins Wasser werfen?
Eine riskante Sache, aber besser als gar nichts. Er mußte es versuchen. Don Antonio konnte auch dann noch auf ihn schießen, wenn er bereits im Wasser schwamm – aber war andererseits nicht auch das Wagnis groß, sich von ihm verschleppen zu lassen? Mußte er nicht damit rechnen, daß der Dicke ihn vor lauter Rach- und Vergeltungssucht umbrachte, sobald er ihn als Geisel nicht mehr brauchte?
„Ja“, sagte er noch einmal. „Aber – begreifen Sie denn nicht? Sie werden für diese Tat zur Verantwortung gezogen, sobald Sie wieder in Havanna sind. Sie finden keine ruhige Minute mehr, und …“
„Schweig!“ schrie Don Antonio mit schriller Stimme. „Ich will nichts mehr hören! Kein Wort mehr!“
Genau in diesem Moment betrat der Erste die Stelling. Er zögerte jetzt nicht mehr. Jäh warf er sich nach rechts und stürzte in das Hafenwasser hinunter. Im Fallen spürte er wieder einen unbändigen Schmerz im Hinterkopf, der ihm die Sinne zu rauben drohte. Ihm war übel. Das Wasser raste auf ihn zu, es schien plötzlich pechschwarz zu sein.
Aber als die Fluten ihn aufnahmen und über ihm zusammenschlugen, fühlte er sich wie erlöst. Die Kühle des Wassers erfrischte ihn und verlieh ihm neue Energien. Der Schmerz ließ nach. Alles schien sich zu ändern. Nur undeutlich, wie gedämpft, nahm er noch das Krachen des Pistolenschusses wahr, dann begann er, unter Wasser zu schwimmen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Es sah aus, als sei der Erste Offizier, immer noch benommen durch den Hieb, den Don Antonio ihm auf dem Achterdeck verpaßt hatte, auf der Stelling ausgeglitten. Aber Don Antonio reagierte sofort, als er die Gestalt des Mannes nach rechts wegsinken sah. Er riß die Pistole hoch. Sein Finger krümmte sich um den vorderen der beiden Abzüge. Der Hahn schnappte nach vorn, das Rad drehte sich, die Funken sprühten, und donnernd brach der Schuß.
Ein langer Feuerblitz stach in die Morgenluft, und die Kugel raste dorthin, wo der Erste eben noch gestanden hatte. Unten, zwischen der Pier und der Bordwand, war ein Klatschen zu vernehmen. Die Kugel fuhr ins Leere, flog zu den Hafenanlagen und bohrte sich mit einem dumpfen Laut in die Wand eines Schuppens.
Bewegung geriet in die Mannschaft der „San José“. Die Lakaien hoben ihre Pistolen, aber sie schienen jetzt verunsichert zu sein.
„Schnell weg!“ zischte Don Antonio ihnen zu. Dann ergriff er die Flucht nach vorn. Er rannte über die Stelling, schien zu wanken, hielt sich jetzt aber doch sicher auf seinen kurzen Beinen. Die Stelling schwankte unter ihm, er schien darauf zu hüpfen. Mit wenigen Schritten erreichte er die Pier. Die Lakaien folgten ihm. Sie stürmten an Land und liefen hinter ihm her auf die Häuser zu.
„Hinterher!“ rief der Zweite Offizier der „San José“. Der Dritte Offizier lief unterdessen zum Schanzkleid des Achterdecks, beugte sich darüber und hielt nach dem Ersten Ausschau, der immer noch verschwunden war.
In diesem Augenblick prallte die Tür der Hafenkommandantur auf. Der Schuß