Es war indessen zu erwarten gewesen, daß Cubera aus den nächtlichen Aktionen des geheimnisvollen Gegners seine Lehre ziehen würde. Das war nun geschehen. Zwar bestand der Verband letzten Endes – trotz der Ergänzung durch die Karavelle – nicht mehr aus zehn, sondern nur noch aus neun Schiffen. Doch diese Verringerung der Kampfkraft wurde durch die Schaluppen zweifellos ausgeglichen.
Bei Wind aus Nordost war der Verband auf die freie See hinausgekreuzt und dann außerhalb der Cayo-Fragoso-Inseln auf Südostkurs gegangen.
Mit ausreichendem Sicherheitsabstand hatte Don Juan die Verfolgung aufgenommen. Er hatte zunächst weit nach Luv ausgeholt und dann nach Einbruch der Dunkelheit die beabsichtigte Position eingenommen. Über Steuerbordbug segelnd, stand die Schebecke vorlich und in Luv des Verbandes auf Parallelkurs, rauschte also an seiner vorderen Backbordflanke dahin.
Ständig rechnete Don Juan damit, daß die drei Schaluppen an eben jener Flanke plötzlich wenden und nach Norden hochstoßen würden. Erst bei einer solchen Reaktion konnte er sicher sein, daß man den Fühlungshalter bemerkt hatte. So aber blieb er weiter im Ungewissen. Denn vor dem schwachen Schimmer der Schiffslaternen waren die schattenhaften Umrisse der Schaluppen zu erkennen, wie sie unbeirrbar den Kurs des Verbandes einhielten.
Nichtsdestoweniger war sich Don Juan darüber im klaren, daß er auf jeden Fall zuerst mit den Schaluppen aneinandergeraten würde.
Er wandte sich für einen Moment ab und ließ seinen Blick über die völlig verdunkelten Decks der Schebecke gleiten. Als bewegungslose Silhouetten harrten die elf Männer seiner Crew auf der Kuhl aus. Während des Nachmittags hatten sie die Geschütze und Handfeuerwaffen überprüft und gereinigt, und die Munitionsvorräte waren gesichtet und geordnet worden. Jetzt waren sämtliche Drehbassen geladen. Der Dreimaster war bereit, dem Verband erneut einen spürbaren Biß in die verwundbare Ferse zu verpassen.
Don Juan ging auf Ramón Vigil zu, der mit unerschütterlicher Ruhe am Ruder stand, und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Wir werden nicht mehr lange warten, Ramón. Aber diesmal wird es eine härtere Nuß, fürchte ich.“
Der Bootsmann wandte den Kopf und lachte verhalten. Seine Zähne blitzten in der Dunkelheit.
„Keine Sorge“, sagte er voller Zuversicht, „wenn dieser Fettsack von Gouverneur jemals die Schlangen-Insel erreichen sollte, wird er vorher tausend Tode gestorben sein.“
Don Juan mußte grinsen.
„Woher willst du wissen, daß er ein ängstlicher Mensch ist?“
„Ist doch klar.“ Ramón Vigil blies verächtlich die Luft durch die Nase. „Nach allem, was Sie mir von dem Kerl erzählt haben, kann er nur ein feiger Hund sein. Ich frage mich nur, warum er sich an Bord des Flaggschiffs begeben hat.“
„Du meinst, er sollte eigentlich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen lassen?“
„So ungefähr.“
„Nun“, entgegnete Don Juan lächelnd. „Dann würde er aber Gefahr laufen, daß diese anderen mit den heißen Kastanien verschwinden, bevor er sie überhaupt zu sehen kriegt.“ Er klopfte dem Bootsmann abermals auf die Schulter und trat wieder an das Steuerbordschanzkleid des Achterdecks.
Soviel war inzwischen sicher: Dem sehr ehrenwerten Don Antonio de Quintanilla ging es nur in zweiter Linie darum, den angeblich schlimmsten Feind der spanischen Krone, Philip Hasard Killigrew, zu besiegen. An erster Stelle der Überlegungen stand für den geldgierigen Gouverneur die Tatsache, daß auf der Schlangen-Insel offenbar immense Schatzvorräte lagerten. Mit seinen Wurstfingern wollte er tief hineingreifen und sich zu unermeßlichem Reichtum verhelfen.
Don Juan wandte seine Gedanken den vordergründigen Zielen zu, während er abermals zu den Schiffen des Kampfverbandes spähte. Fest stand, daß die Gefahr, um ein Vielfaches höher war, wenn er in dieser Nacht einen erneuten Angriff unternahm. Und die bisherigen Angriffe? Hatten sie trotz aller Erfolge ihren Zweck erfüllt?
Man mußte daran zweifeln.
Seine und die Absicht Arne von Manteuffels war es gewesen, den Verband durch eine hohe Zahl von Ausfällen und Schäden zur Umkehr zu zwingen und dadurch ein sinnloses Blutvergießen zu vermeiden. Don Juan mußte sich eingestehen, daß er mit seinen nächtlichen Aktionen diesem Ziel um nichts näher gerückt war. Statt dessen hielt dieser Schurke von einem Gouverneur mit verbissener Sturheit seinen Kurs, der ihn zur Schlangen-Insel und dem dort erhofften Reichtum führen sollte.
Von den wahren Gründen für diese vermeintliche Sturheit ahnte Don Juan allerdings nichts. So war es nicht etwa der Gouverneur, der die Befehle an Bord der „San José“ gab. Seit dem Mordversuch an Capitán Cubera und seit dem Fluchtversuch in Remedios befand sich Don Antonio de Quintanilla in verschärftem Arrest in einer der Achterdeckskammern; des Flaggschiffs. Bereits zuvor war es Cubera gewesen, der sich aus militärischen Erwägungen heraus entschlossen hatte, das Unternehmen auf jeden Fall durchzuführen.
Wären Don Juan de Alcazar die Zusammenhänge bekannt gewesen, hätte er eine völlig andere Entscheidung getroffen. Als Generalkapitän, ausgestattet mit Sondervollmachten der spanischen Krone, wäre er berechtigt gewesen, Cubera Befehle zu erteilen und ihn zurückzupfeifen. Während Don Juans Flucht in Havanna hatte sich zwar der Gouverneur die Sondervollmachten unter den Nagel gerissen, doch es wäre sicherlich auch ohne dieses Dokument möglich gewesen, die Weisungsbefugnisse durchzusetzen. Aber nach dem Stand der Dinge ließ sich der verhängnisvolle Lauf des Geschehens nicht mehr abwenden.
Das Gefühl, unter zunehmendem Zeitdruck zu stehen, hatte sich für Don Juan in den letzten Stunden immer mehr verstärkt. Noch gemeinsam mit Arne hatte er berechnet, wann die Schiffe des Bundes der Korsaren in See gehen konnten, um dem Feind entgegenzusegeln. Voraussetzung dafür war der Erhalt der Brieftaubennachricht gewesen, die den Seewolf und seine Gefährten über das Auslaufen des Verbandes aus Havanna unterrichtete. Wenn die Berechnungen stimmten, mußten die Schiffe des Bundes am Nachmittag des 19. Juli ankerauf gegangen sein und sich seither auf Westkurs befinden.
Der Wind aus Nordosten war günstig. Nach Don Juans. Berechnung der Marschgeschwindigkeit mußte sich der Verband des Seewolfs bereits dem Alten Bahama-Kanal genähert oder ihn erreicht haben. Im günstigsten Fall stand der Verband mittlerweile auf der Höhe von Lobos Cay, wo Don Juan seine erste Begegnung mit Philip Hasard Killigrew gehabt hatte.
Die Erinnerung daran drängte sich machtvoll in sein Bewußtsein und ließ sich nicht auf Anhieb wegwischen. Seinerzeit hatte er dem Mann Auge in Auge gegenübergestanden, der nach dem Willen der spanischen Krone eigentlich sein Todfeind sein sollte. Doch aus dem Duell heraus war er gemeinsam mit Killigrew in eine tödliche Bedrohung durch blutrünstige Marodeure geraten.
Kurz darauf hatte Don Juan erleben müssen, wie ihm der Engländer zum ersten Male das Leben rettete. Und es war nicht bei diesem einen Mal geblieben. Wie auch sein Vetter Arne von Manteuffel, hatte sich Philip Hasard Killigrew als ein fairer Gegner erwiesen – als das, was die Briten einen vollendeten Gentleman nannten.
Mehr und mehr hatte Don Juan erkennen müssen, daß er aus einem ähnlichen Holz geschnitzt war wie jener angebliche gefährliche Pirat. Und die jüngsten Ereignisse in Havanna hatten ihn dazu veranlaßt, sich nach der Offenbarung durch Arne auf die Seite des Bundes der Korsaren zu schlagen.
2.
Der hochgewachsene Spanier zwang sich, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Wenn er aus seinen Berechnungen die richtige Folgerung zog, dann würden der spanische Kampfverband und die Schiffe des Bundes der Korsaren aller Wahrscheinlichkeit nach am frühen Morgen oder in den Vormittagsstunden des nächsten Tages aufeinanderprallen.
Es blieben also nur noch die Stunden der Dunkelheit, um etwas zu unternehmen. Auf Biegen oder Brechen mußte etwas geschehen, wenn es doch noch einen Aufschub geben sollte. Mehr denn je war Don Juan de Alcazar entschlossen, seinen Beitrag zu leisten, damit ein Blutvergießen größten Ausmaßes vermieden würde. Er mußte es einfach wagen,