„Die Grand Cays sind ja nicht weit“, sagte der Erste Offizier.
„Die Boote an Bord hieven, auch die Jolle der Engländer!“ befahl Don Gregorio de la Cuesta. „Wir segeln sofort weiter und sehen nach, was es mit diesem Eiland auf sich hat.“ Noch einmal wandte er sich an O’Leary und fragte ihn, indem er die Fäuste in die Seiten stemmte: „Wart ihr wirklich auf einer Insel?“
„Ich schwöre es.“
„Ich rate dir dazu, die Wahrheit zu sagen. Woher habt ihr die Goldkisten?“
„Wir haben sie in der Jolle gefunden, die angetrieben ist“, erwiderte O’Leary.
De la Cuesta drehte sich um und enterte aufs Achterdeck. „Ich werde ausreichend Gelegenheit haben, das alles gründlich zu überprüfen“, sagte er. „Und gnade dir Gott, wenn du gelogen hast, Kerl.“
„Keiner findet zwei Kisten mit Goldbarren, einfach so“, sagte der Profos. „Das gibt es nicht. Soll ich noch mal zuschlagen, Señor?“
„Nein, jetzt nicht“, erwiderte de la Cuesta. „Die Gefangenen werden in das Kabelgatt gesperrt und bewacht. Wenn sie sich aufsässig benehmen, werden sie in Ketten gelegt.“
Sofort wurden die Befehle ausgeführt. Die Seeleute hievten die Boote hoch und schwenkten sie binnenbords, dann wurden sie auf dem Hauptdeck festgezurrt. Die Jolle der „Dragon“ wurde noch einmal einer genauen Prüfung unterzogen, aber mehr „verdächtiges, belastendes Material“ als die beiden Goldkisten entdeckten die Spanier nicht.
Die Seesoldaten unter der Leitung eines Teniente führten die Gefangenen ab. Dumpf polterten die Schritte auf dem unteren Deck des Schiffes, und mit einem Knall fiel das Schott des Kabelgatts hinter ihnen zu.
O’Leary stand mit etwas gesenktem Schädel da und musterte Thomas Lionel aus schmalen, bösartig funkelnden Augen. Thomas Lionel wich vor ihm zurück.
„Nein“, sagte er mit bebender Stimme. „Diesmal kannst du mir nicht die Schuld geben. Ich – du hast ja auch gequatscht, als dieser Bulle dich gepiesackt hat.“
„Ja. Aber nur, weil du dein Maul nicht halten konntest.“
„Es wäre auch so geschehen“, sagte einer der anderen Männer. „Unsere Tarnung wäre so und so aufgeflogen, O’Leary, sieh das doch ein. Wir hätten uns nicht lange einfach taubstumm stellen können.“
„Und jetzt sitzen wir in der Scheiße“, sagte der Bootsmann. „Und zwar bis zum Hals.“
„Laß deine Wut nicht an uns aus“, sagte Simon Llewellyn. Vorsichtshalber nahm er schon mal eine abwehrbereite Haltung ein.
Aber O’Leary winkte ab und ließ sich auf eine Taurolle sinken. „Ihr könnt mir den Buckel runterrutschen. Überlegen wir lieber, wie wir hier rauskommen.“ Er sprach jetzt leise, denn er befürchtete, daß Brandez, der Dolmetscher, am Schott lauschte.
Das war tatsächlich der Fall. Doch Brandez konnte nicht mehr verstehen, was sie jetzt beredeten. Sie schmiedeten Fluchtpläne, aber sie sahen selbst ein, daß es keinen Sinn mehr hatte. Wenn die Spanier sie nicht gnädigerweise wieder freiließen, hatten sie keine Chance mehr.
Sie waren hoffnungslos festgenagelt. Vom wilden, freien Leben der Freibeuter konnten sie vorläufig nur noch träumen.
Mit vollem Preß segelten die beiden spanischen Kriegsgaleonen, und schon kurz vor Mittag hatten sie die östlichsten Inseln der Grand Cays erreicht. De la Cuesta brauchte nicht lange zu suchen, bald hatte sein Ausguck das Eiland entdeckt, in dessen Nordbucht die Masten zweier versenkter Galeonen aus dem Wasser aufragten. Es waren die traurigen Überreste der „Orion“ und der „Dragon“.
De la Cuesta ließ die Segel ins Gei hängen und beidrehen, dann verständigte er sich kurz mit dem Kommandanten der zweiten Kriegsgaleone, um die nächsten Schritte, die es zu unternehmen galt, zu koordinieren. Die Schiffe lagen sehr nah beieinander, de la Cuesta konnte in normalem Tonfall mit dem anderen Kapitän sprechen.
„Haben Sie das gesehen?“ fragte er. „An Land befinden sich Menschen.“
„Eben sind sie verschwunden“, sagte der andere Kommandant.
„Sie haben die Flucht vor uns ergriffen“, sagte de la Cuesta. „Es sind Engländer. Ich bin ziemlich sicher, daß wir zwei der Kriegsgaleonen vor uns haben, die vor einer Woche St. Augustine passiert haben.“
„Ja, das bin ich auch.“
„Was hier gespielt wird, kriegen wir gleich heraus“, sagte de la Cuesta grimmig. „Ich versichere es Ihnen.“
„Was haben Sie vor?“
„Ich vernehme noch einmal die Gefangenen. Dann setzen wir mit einem Boot zum Ufer der Bucht über und verhandeln mit den Engländern.“
„Ein guter Gedanke, Don Gregorio.“ Der zweite Kommandant hatte weder Einwände noch bessere Vorschläge. Außerdem war de la Cuesta als der Dienstältere ohnehin der Mann, der die Entscheidungen traf.
De la Cuesta gab die Anweisung, die Gefangenen aus dem Kabelgatt zu holen. Sie wurden von den Seesoldaten auf das Hauptdeck geführt und mit Musketen bewacht.
O’Leary und seine Kerle hatten sehr wohl den Wortwechsel von Bord zu Bord der Schiffe vernommen, doch sie wußten nicht, um was es dabei gegangen war. Jetzt sahen sie, daß sie sich unmittelbar vor der Nordbucht der Insel befanden – und ihnen wurde blümerant zumute.
Am Ufer hatten unterdessen Tottenham, Corbett, Gretton, Bush, Ross und die anderen alles stehen und liegen lassen, denn rechtzeitig genug hatte ein Posten das Auftauchen der spanischen Galeonen gemeldet. Die Männer kauerten im Dickicht, hielten ihre Schußwaffen in den Händen und spähten zu den Schiffen hinüber.
„Dons“, sagte Gretton. „Ausgerechnet. Die haben uns zu unserem Glück noch gefehlt. Erst hat die Korsarin mit dem Zweidecker uns zusammengeschossen, jetzt tauchen diese Spanier auf und geben uns den Rest.“
„Warten wir erst mal ab, was sie wollen“, sagte Corbett. „Vielleicht können wir uns auf unsere Notlage berufen und sogar Unterstützung von ihnen erbitten.“
„Nach sittlichen und moralischen Prinzipien sollte bei Schiffbruch Hilfe geleistet werden“, sagte Tottenham, der stets auf Vorschriften bedachte Mann. „Aber leider gibt es keine Vereinbarungen darüber, und nirgends ist das schriftlich festgehalten. Es hängt von der Auffassung und vom Charakter eines Schiffsführers ab, wie er sich verhält. Und das dort, Gentlemen, sind spanische Kriegsgaleonen.“
„Sehr gut armierte sogar“, sagte Gretton. „Ich frage mich, woher die kommen.“
„Das ist jetzt unwichtig“, sagte Corbett. „Eins ist sicher: Sie haben uns mit Sicherheit als Engländer erkannt, denn die Flögel der gesunkenen Schiffe geben Auskunft über unsere Herkunft. Ich schätze, daß sie gleich in die Bucht eindringen und als erstes unsere Hütten zusammenschießen.“
„Sie glauben also auch nicht an, Nachsicht?“ fragte Gretton.
„Ehrlich gesagt, nein.“
Mit wachsender Besorgnis beobachteten sie weiterhin die Schiffe. Sie waren nur froh darüber, daß sie ihre Jollen noch rechtzeitig genug ins Landesinnere geschleppt hatten. Diesen Befehl hatte Tottenham gegeben, sobald der Ausguckposten die heransegelnden Schiffe gemeldet hatte.
Tottenham hatte sich in diesen letzten Sekunden geändert. Er war entschlußfreudiger und mutiger geworden. Seit ihm Männer wie Sir Henry, Monk und Stewart nicht mehr zusetzten, hatte er sich wieder auf seine Pflichten und sein Können als Kommandant eines Kriegsschiffes besonnen. Er war wieder Herr der Lage.
Stewart war immer noch gefesselt, war jedoch aus der Hütte, die als Gefängnis diente, geholt worden. Er hockte nicht weit von den Männern entfernt am Boden und wurde von zwei Seesoldaten mit Musketen bewacht.
Während die Männer der „Orion“