Es dauerte Sekunden, die wie Ewigkeiten währten, bis das Schott einen Spaltbreit geöffnet wurde. Die Augen des Kutschers spähten durch den Spalt.
„Darf ich nach ihm sehen?“ fragte der Erste Offizier der „Isabella“ kaum hörbar.
Der Kutscher antwortete nicht sofort. Die Entscheidung schien ihm schwerzufallen.
„Tritt ein, Ben“, flüsterte er schließlich. „Aber bitte …“ Er legte mahnend den Zeigefinger auf die Lippen.
Ben Brighton schlüpfte geräuschlos in die Kammer und verharrte gleich neben dem Schott, nachdem der Kutscher es behutsam hinter ihm geschlossen hatte. Ben kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Es dauerte einen Moment, bis er sich nach dem grellen Sonnenlicht an das Halbdunkel gewöhnt hatte.
Der Anblick verursachte ein Würgen in seiner Kehle.
Mit Gurten hatten sie den Seewolf auf seinem Lager festgezurrt.
Der Kutscher bemerkte den entsetzten Gesichtsausdruck des Ersten.
„Das mußte leider sein“, flüsterte er. „Zu seinem eigenen Schutz, verstehst du? Als heute vormittag das Fieber einsetzte, fing er an, sich hin und her zu wälzen und mit den Gliedern zu zucken. Wir mußten das natürlich verhindern.“
Ben Brighton nickte und schluckte trocken. Hasard war auch jetzt noch unruhig, man sah es an seinem Kopf, der sich fortwährend bewegte. Sein Gesicht war fahl und schweißüberströmt. Die Zwillinge und Mac Pellew waren bei ihm und legten ihm immer wieder nasse Leinentücher über die Stirn.
Ben wandte sich zur Seite und sah den Kutscher voller Besorgnis an.
„Wann wird er wieder bei Bewußtsein sein? Kannst du das nicht wenigstens vorhersagen?“
Der stets so ernst aussehende Mann schüttelte müde den Kopf.
„Ich kann überhaupt nichts sagen, Ben. Mac und ich haben ihm einen Sud eingetrichtert, der zum einen das Fieber dämpft und zum anderen die Abwehrkräfte des Körpers mobilisiert oder zumindest stärkt.“
„Abwehrkräfte gegen was?“
Der Kutscher senkte den Kopf und preßte die Lippen aufeinander.
„Gegen eine Blutvergiftung“, sagte er tonlos und so leise, daß Ben Mühe hatte, es zu verstehen. „Ja, Ben, das ist es, womit wir rechnen müssen. Ich kann niemandem auch nur die leiseste Hoffnung machen. Nicht einmal seinen Söhnen.“
Ben Brighton blickte auf die beiden Jungen, die in dieser Stunde wie Erwachsene aussahen. Nichts Kindliches war mehr an ihnen, die Sorge um den Vater, so schien es, hatte sie älter werden lassen.
Wortlos legte der Erste dem Kutscher die Hand auf die Schulter. Es war ein Zeichen stummer Anerkennung und eines Dankes, der nicht ausgesprochen werden mußte. Alle vier, die hier in der Krankenkammer ausharrten, taten das menschenmögliche. Im übrigen konnten sie wie alle an Bord auch nur warten und hoffen und beten.
Ben Brighton wandte sich ab, denn hier war er überflüssig. Er fühlte sich genauso hundeelend wie alle anderen Männer an Bord, denen er gleich darauf einen geflüsterten Lagebericht gab. Selbst Ed Carberry, das Urvieh mit dem Narbengesicht, konnte nur fassungslos den Kopf schütteln.
Eine Blutvergiftung bedeutete das Ende für Hasard. Das brauchte ihnen niemand ausdrücklich zu sagen.
Ferris Tucker holte tief Luft, um einen Fluch auszustoßen. Im letzten Moment besann er sich und knirschte lediglich mit den Zähnen. Selbst dieses Geräusch trug ihm empörte Blicke von den anderen ein.
Im nächsten Atemzug gefror ihnen das Blut in den Adern.
Heiseres Gebrüll ertönte plötzlich aus dem Vorschiff.
Keiner der Arwenacks brauchte herumzurätseln, wer das war.
John Killigrew, das alte Miststück, randalierte in der Vorpiek – nicht einmal weit von der Krankenkammer entfernt.
Edwin Carberry war als erster auf den Beinen. Ben Brighton und die anderen folgten ihm dichtauf. Unter normalen Umständen hätten sie vermutlich über sich selbst gelacht, wie sie mit seltsam verkrampften Bewegungen über die Planken schlichen. Aber zur Zeit war ihnen nach allem anderen zumute, nur nicht nach Lachen.
Und immer noch grölte der alte Halunke, was das Zeug hielt.
Wutentbrannt riß Ed Carberry das Schott zur Vorpiek auf. Ferris Tucker und Luke Morgan hielten es fest und ließen es zur Seite gleiten, damit kein Poltern verursacht wurde.
Das Gebrüll dröhnte ihnen jetzt mit voller Lautstärke entgegen.
„Hunger! Durst! Verdammt noch mal, ihr Schweine, gebt mir endlich was zu …“
Ein dumpfer Schlag ließ den Alten verstummen.
Ed Carberry langte mit seiner Pranke noch zweimal hin und verharrte dann schnaufend vor dem Bewußtlosen.
„Dreckskerl“, knurrte er und beugte sich über die Pütz, die noch zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. „Wenn du denkst, daß du dich hier mit Bier oder Schnaps vollaufen lassen kannst, hast du dich aber mächtig getäuscht.“ Auch der Brotkanten, den man dem Gefangenen gegeben hatte, lag noch unberührt.
Ferris Tucker brachte bereits einen Lappen.
„Stopf ihm das Maul“, sagte der hünenhafte Schiffszimmermann grob. „Verdammt noch mal, wenn dieser Strolch dafür verantwortlich ist, daß Hasard …“ Er sprach nicht weiter, doch alle dachten das gleiche.
Unter keinen Umständen durfte geschehen, daß ausgerechnet der alte Killigrew mit seinem Gebrüll den Zustand des Seewolfs verschlimmerte.
Ed Carberry knebelte den Alten sorgfältig. Anschließend fesselten sie ihn so gründlich, daß er sich nicht mehr rühren konnte.
Ein unnötiges Risiko war ausgeschaltet.
Mit hängenden Schultern kehrten die Männer auf das Hauptdeck zurück. Grund zum Aufatmen gab es noch immer nicht.
Am späten Nachmittag dieses schicksalsschweren 23. August 1594 lief die „Caribian Queen“ in die Südbucht der Insel ein.
Sobald sie freies Blickfeld über die Wasserfläche der Bucht hatte, hob Siri-Tong das Spektiv. Auf den Decks der „Isabella“ war keine Bewegung zu erkennen. Ben Brighton lehnte an der Heckbalustrade des Achterdecks. Auf der Back war niemand zu sehen, auf der Kuhl nur die Köpfe der Männer, die dort auf Taurollen hockten. Ansonsten verwehrte die Verschanzung den Blick.
Die Rote Korsarin spürte, wie sich eine trockene Masse in ihrer Kehle bildete – etwas, das sie trotz aller Anstrengung nicht herunterschlucken konnte. Um die Lage an Bord der „Isabella“ zu erkennen, brauchte sie nicht zweimal hinzusehen. Es stand kritisch um den Seewolf, keine Frage.
Noch im Eingang der Bucht gab die Rote Korsarin ihre Befehle. Da ihr und der Crew nicht das gewohnte Begrüßungsgebrüll entgegentönte, war eindeutig, daß völlige Ruhe zu herrschen hatte. Sie beauftragte Barba, dafür zu sorgen, daß jeder einzelne Mann an Bord des Zweideckers nachdrücklich instruiert wurde. Keiner durfte auch nur einen Muckser von sich geben. Wenn jetzt noch Befehle erteilt werden mußten, dann hatte das per Zeichensprache zu geschehen. Für eine so gut eingespielte Crew wie die der Roten Korsarin waren Befehle ohnehin überwiegend schmückendes Beiwerk.
So glitt die „Caribian Queen“ nahezu lautlos wie ein Geisterschiff in die Bucht. Nur das Knarren von Tauwerk, das Schlagen des Tuchs beim Aufgeien und das Knirschen des Ankerspills ließen sich nicht vermeiden.
In einer guten Kabellänge Entfernung von der „Isabella“ ging der Zweidecker vor Anker. Ein Beiboot wurde abgefiert, und sechs Bootsgasten begannen, so behutsam und so kraftvoll wie möglich zu pullen. Siri-Tong, die auf der Achterducht saß und die Ruderpinne hielt, bemühte sich, ihre Unrast zu verbergen. Doch es war überflüssig, denn die Männer empfanden die gleiche Sorge um den Seewolf wie sie auch.
Gemeinsam