Im Land der Nuria. Annina Safran. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annina Safran
Издательство: Bookwire
Серия: Die Saga von Eldrid
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783969870082
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Wie konnte sie es wagen, ihn, den mächtigen Kobolddrachen Nouk, zu wecken? Und warum hatte er das Gefühl gehabt, dass sie von seiner Erscheinung überrascht gewesen war? Sie hatte ihn geweckt. Was hatte sie erwartet? Nun gut. Er war nicht besonders groß für einen Drachen. Vielleicht hatte sie sich einen riesenhaften Drachen gewünscht und war nun enttäuscht. Umso besser. Dann waren seine Chancen größer, dass sie ihn schneller aus ihren Diensten entließ.

      Kobolddrachen mussten ihren Erweckern solange gehorchen, bis sie aus den Diensten entlassen oder zum Schlafen geschickt wurden. Dies galt für jede Form von Drachen in Eldrid. Kaum einer lebte ohne Herrn in dieser Welt, dazu waren sie viel zu gefürchtet und verliehen zusätzlich Macht. Denn nur sehr mächtige Wesen mit ebensolchen Schatten waren in der Lage, Drachen zu erwecken. Da es nicht viele davon gab, schützte dieses Prinzip diese mächtigen und gefährlichen Wesen vor dem Erwecken und Eldrid vor zu vielen Drachen.

      Es war erst das vierte Mal, dass Nouk geweckt worden war. Für einen Drachen war er noch recht jung. Er erzitterte bei dem Gedanken an den Schatten des Wesens, der ihn dieses Mal geweckt hatte. Er hatte die Magie des Schattens gespürt. Sowohl der Schatten als auch seine Herrin waren außergewöhnlich mächtig. Nouk schüttelte angewidert den Kopf. Wie lange würde er nun seiner Erweckerin dienen müssen? Was für ein Wesen war sie? Wie viele Jahrhunderte würde es dauern, bis sie endlich starb und er frei war oder wieder schlafen konnte? Er selbst war unsterblich, hatte ewig Zeit, seine Geduld jedoch währte nicht ewig. Nouk konnte die Wesen des Lichts nicht ausstehen, und selbstverständlich diente er ihnen nicht gerne. Glücklicherweise hatte der Kobolddrache schon bei seinem ersten Erwecker einen Weg gefunden, wie er relativ schnell wieder zu seiner Ruhe finden konnte: Er war ihm auf die Nerven gegangen. Der Drache hatte sich tollpatschig und dickköpfig gegeben, und das auf eine sehr ausdauernde Art und Weise. Am Ende hatte sein Erwecker ihn schlafen geschickt, nur um seine Ruhe zu haben. Genauso würde er jetzt wieder vorgehen. Nouk schnitt eine abfällige Grimasse.

      Unter ihm explodierte etwas. Erschrocken flatterte er heftig mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen. Einer seiner Köpfe schickte einen Feuerschwall in die Richtung der Explosion. Der Kobolddrache schüttelte den Hauptkopf in der Mitte. So etwas Unsinniges. Im Land der Nuria explodierte ständig irgendetwas auf dem Boden. Das gehörte zu diesem Teil von Eldrid dazu, aber das hatte der Kopf, der Feuer spucken konnte, offenbar kurzweilig vergessen. Er hatte zu lange geschlafen, um sich an solche Nebensächlichkeiten zu erinnern. Die beiden Nebenköpfe machten zudem nicht immer das, was der Hauptkopf und Denker des Kobolddrachens wollte. Eine Eigenart an sich selbst, die Nouk nicht sehr schätzte. Er hätte es bevorzugt, wenn alle drei Köpfe ihm gehorchen würden.

      Dann erblickte er etwas, das er noch nicht kannte. Ein riesiges Dorf voller schwarzer spitzer Zelte. Sie standen in Reih und Glied und erstreckten sich in Form eines Rechtecks über einen weiten Teil des Landes. Es waren unendlich viele Reihen, kaum zählbar, ebenso wie die Zelte. Wie symmetrisch angeordnet, ohne auch nur einen Fehler und ohne eine Mitte oder einen Platz, auf dem sich die Bewohner der Zelte hätten treffen können. Eine eher untypische Anordnung von Zelten eines Dorfes in Eldrid.

      Ein Zucken durchzog den Körper. Er musste seine Erweckerin aufsuchen. Mehr Zeit verblieb ihm nicht. Der Drang, ihr zu dienen, wurde immer stärker. Sein Nebenkopf schnitt eine Grimasse nach der anderen und schüttelte sich unentwegt. Nouk drehte noch ein paar Runden über das verdorbene Land, erblickte in der Ferne ein paar Nuria, die über die Ebene ritten, als wäre der Teufel hinter ihnen her, und schoss ein paar Feuerstrahlen in die Tiefe. Das Feuerspucken war noch nie seine Stärke gewesen, und nach all den Jahren des Schlafens war er etwas eingerostet. Er wollte dem mächtigen Schatten imponieren, wenn er gleich vor ihn trat. Also drehte er noch ein letztes Looping, bevor er sich auf den Punkt konzentrierte, an dem er Ludmilla und ihren Begleiter witterte.

      Siebtes Kapitel

       Der Dena-Spiegel

      Es war wie eine Sucht. Eine Sucht, die Margot Dena Jahrzehnte erfolgreich bekämpft und unterdrückt hatte, und dies, obwohl der Dena-Spiegel nie aufgehört hatte, sie zu rufen. In ihrem Kopf hallte seine Stimme ununterbrochen wider. Einem Zusammentreffen stand nun eigentlich nichts mehr im Wege, da niemand mehr im Haus war, der dies verhindern würde, aber sie traute sich nicht, ihm zu begegnen. Margot betrachtete ausgiebig die Tür, hinter der der Spiegel stand. Eine schmucklose weißlackierte Tür mit Kassetten, so wie es in alten Häusern oft üblich ist. Der kupferne Türgriff war blank poliert und glänzte matt. Oft saß sie ganze Tage davor, so dass sie sogar das Essen vergaß, aber was hatte sie schon zu tun, hier, in diesem Haus? Ihre Familie war längst ausgezogen, hatte sie sich selbst überlassen, und nur manchmal kam jemand vorbei und schaute nach dem Rechten. Eine Putzfrau, ein Gärtner, ein Nachbar. Keine dieser Personen kannte den wahren Grund für ihre Gefangenschaft. Es war niemandem je aufgefallen, dass sie schattenlos war. Wie auch? Welcher Mensch kam auf die Idee, auf den Schatten des anderen zu achten? Kein Erwachsener zumindest. Kinder dagegen schon eher, so dass ihre Familie bei Kindern stets vorsichtig gewesen war. Sie hatten es gemieden, dass Margot Kontakt mit ihnen hatte. Abgeschottet und versteckt fristete sie ihr Dasein in dem Haus ihrer Familie.

      Die Dena-Familie war eine wohlhabende Familie, die keine Kosten und Mühen scheute, um Margot zu versorgen. Es mangelte ihr an nichts. Das Stadthaus verfügte über einen kleinen Garten, der von hohen Mauern umgeben war. Darüber war ein Sonnensegel gespannt, um sie vor den neugierigen Augen der Nachbarn zu schützen. So kam es, dass Margot Dena ein Schattenleben führte. Ein Leben im Haus und Garten der Familie, ohne dieses je verlassen zu dürfen. Sie wurde streng bewacht, so dass jeder Fluchtversuch, den sie unternahm, ins Leere ging. Irgendwann fand sich das junge Mädchen damit ab und selbst das Vorspielen einer geistig Kranken und von Panikattacken Gezeichneten gelang ihr nach ein paar Jahren mühelos.

      Sie war eine Gefangene. Eine Gefangene der Dena-Familie, des Dena-Spiegels, den sie auch nicht mehr nutzen durfte. Eine Gefangene ihrer selbst. So vergingen viele Jahrzehnte, bis Margot älter wurde und ihre Familienmitglieder verstarben oder die Stadt verließen. Das Versorgungssystem, das über Jahrzehnte aufgebaut worden war, funktionierte weiterhin. Margot wurde immer seltsamer und zog sich mehr und mehr zurück. Sie fing an, mit sich selbst zu sprechen, und lehnte Besuche häufig ab. Es schien, als würde sie tatsächlich langsam verrückt werden. Sie wuselte den ganzen Tag durch das Haus und den Garten, wie eine Rastlose. Jedes Zimmer wurde kontrolliert, ab- und wiederaufgeschlossen, bis auf das eine. Das eine Zimmer, in dem der Spiegel stand. Der Dena-Spiegel. Dieses Zimmer hatten Margots Eltern verschließen lassen, und sie hatte es seit ihrer schattenlosen Rückkehr nie wieder betreten dürfen. Doch nun waren ihre Eltern verstorben, das Haus gehörte ihr allein, und es passte niemand mehr darauf auf, ob sie den Spiegel besuchte.

      Als Margot realisierte, dass sie niemand mehr hindern würde, den Spiegel zu besuchen, versetzte sie dies in Unruhe. Sie wuselte tagelang vor der Tür auf und ab und überlegte, wie sie in das Zimmer hineingelangen konnte. Den Schlüssel hatte man ihr nicht überlassen, ihre Eltern hatten ihn mit ins Grab genommen oder vernichtet. Wer wusste das schon? In all den Jahren war es Margot ein Rätsel gewesen, dass ihre Eltern den Spiegel nicht zerstört hatten, aber auch bei dieser Entscheidung war sie nicht hinzugezogen worden. Natürlich nicht. Sie war ja nur das Familienmitglied, das seinen Schatten in Eldrid verloren hatte. Ihre Familie hatte ihr keine Chance gelassen, ihn zurückzuholen. Margot wusste nicht, mit wem sie sich beraten hatten und welche Entscheidungen getroffen worden waren. Sie wusste nur eines: Der Spiegel stand hinter dieser Tür, und er war unversehrt.

      Eines Tages näherte sich Margot der Tür, mit einem Dietrich bewaffnet. In gebückter Haltung, die grauen Haare wirr ins Gesicht hängend. Sie hatte eine blaue Schürze über ihren mausgrauen Rock und ihre weiße Bluse gebunden, und an den Füßen trug sie abgewetzte Filzpantoffeln. Ihre Haare waren glatt und strähnig und gingen ihr bis zur Schulter. Die fehlende Bewegung hatte ihr im Alter einen runden Rücken verpasst, aber da sie ohnehin kaum Besuch hatte, störte sie das nicht. So stand sie da, hielt das Werkzeug fest umklammert und starrte die Tür an. Es dauerte eine ganze Weile, dann machte sie sich an der Tür zu schaffen. Ihr handwerkliches Geschick und ihre zittrigen Hände erlaubten es ihr nicht, die Tür zu öffnen. Wutentbrannt kroch sie durch die Flure des Hauses und sann nach einem Ausweg. Dieser kam schneller als