Ludmillas Griff wurde automatisch wieder fester, und der Drache würgte und keuchte. »Lassen wir das«, befahl Ludmilla.
Einer der Nebenköpfe des kleinen Drachen nickte ergeben. »Du kannst mich jetzt loslassen, denn du bist meine Herrin. Ich unterstehe dir und deinem Willen und muss deine Befehle ausführen, bis du mich aus deinen Diensten entlässt.«
»Ah«, entfuhr es Ludmilla. »Gut zu wissen und jetzt, da du hier bist und mir dienen musst, sollten wir uns überlegen, wozu du uns nutzen könntest.«
Mit einer sehr langsamen und zögernden Bewegung ließ sie den Hals des Wesens los. Nouk schüttelte sich, spannte die Flügel auf und zu und setzte sich dann gehorsam neben seine Herrin.
»Mir würde da schon etwas einfallen«, tönte Eneas’ hohe Stimme über ihren Köpfen. Er schnaufte dabei.
Ludmilla lächelte erleichtert. Sie mochte es nicht, wenn sie sich aufteilten. Landos Verschwinden über dem Moor von Fenris saß ihr immer noch wie ein tiefsitzender Schreck in den Knochen. Und zu Eneas hatte sie eine tiefe Freundschaft entwickelt. Sie traute ihm mehr, als sie es je bei Uri vermocht hatte, und auch mehr als Lando, der zu viele Geheimnisse hatte und zu wenig aussprach.
»Und das wäre?«, fragte sie.
»Er soll für uns das Schattendorf auskundschaften. Ich komme da nämlich nicht rein.« Sein riesiger durchsichtiger Körper wurde sichtbar, und er ließ sich auf den Boden nieder. Kleine Funken sprangen von ihm ab, während er interessiert den Kobolddrachen betrachtete.
»Ein Kobolddrache?«, wandte er sich an Lando.
»Du kennst die Legenden also auch?«
Eneas nickte. »Im Land der gleißenden Farben sind Kobolddrachen eine Geschichte, die den Kindern erzählt wird. In erster Linie erzählen wir sie, damit sie dem Land der Nuria nicht zu nahe kommen. Hier leben nämlich die Kobolddrachen, nicht wahr?«
Er funkelte Nouk an.
Dieser starrte fasziniert zurück. »Ein Unsichtbarer. Das sind ja mal interessante Freunde. Dabei brauchst du mit solch einem mächtigen Schatten gar keine Begleitung. Und dann suchst du dir ausgerechnet einen Formwandler und einen Unsichtbaren aus?« Der grimassenschneidende Kopf pfiff durch die Zähne.
»Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht«, konterte sie. »Also, du hast gehört, was Eneas gesagt hat. Du sollst das Schattendorf für uns auskundschaften.«
Nouk warf Eneas und Lando einen verachtenden Blick zu und nickte mit seinem Hauptkopf. Noch bevor Ludmilla etwas ergänzen konnte, erhob er sich in die Lüfte und verschwand in der Schwärze des Himmels. Er ließ eine kleine Stichflamme über ihren Köpfen explodieren und lachte laut, als die drei zusammenzuckten.
Zehntes Kapitel
Bodans Flucht
Bodan wurde durch ein dumpfes Brummen geweckt, das immer lauter wurde. Vorsichtig öffnete er die Augen und sah sich verwirrt um. Gegenüber der Stelle, an der er lag, landete ein großer Schwarm Feen, die etwas zu tragen schienen. Der Spiegelwächter stöhnte auf, als er sich bewegte. Seine Glieder schmerzten ihn genauso wie vorher. Langsam richtete er sich auf und lehnte sich an die Felswand, an der er eingeschlafen war. Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, kam Desmond auf ihn zu geeilt.
»Du bist wach.« Er zog ein Gefäß aus seiner Hosentasche und führte es an Bodans Lippen. »Trink, mein Lieber, trink«, flüsterte er.
Bodan wollte die Flüssigkeit erst nicht schlucken und versuchte, den Kopf abzuwenden. Er wollte Desmond erklären, dass er davon nichts brauche und er es für sich aufbewahren solle, aber dann berührte die Flüssigkeit seine Lippen, und es schmeckte nach purem Gold. Nach gleißendem Licht. Und es beflügelte ihn regelrecht. Als hätte er plötzlich wieder Magie. Seine Schmerzen ließen nach, und Kraft durchströmte ihn. Bodan konnte gar nicht genug bekommen von dieser Flüssigkeit. Er umklammerte das Gefäß voller Gier, bis Desmond es ihm vorsichtig aus den Händen nahm. Er spürte seinen festen Griff nicht, die Bestimmtheit, mit der er seine Finger von der Flasche löste, und selbst seinen eigenen Widerstand nahm er nicht wahr. Er war wie im Rausch. Während Desmond sich vor ihn kniete und ihn sanft gegen die Felswand drückte, blickte er kurz an sich hinunter in der Hoffnung, seinen Schatten zu sehen. Diese Flüssigkeit hatte ihn zu Kräften kommen lassen, ihm jedoch nicht den Schatten zurückgebracht. Es musste ein Zaubertrank sein. Ein sehr starker offenbar.
»Durchatmen, Bodan«, flüsterte Desmond. »Du brauchst diese Kraft, damit wir hier rauskommen.« Seine dunklen Augen funkelten bei diesen Worten.
Bodan starrte ihn an, als hätte er nicht richtig verstanden. »Hier raus? Wie?«
Desmond lächelte. »Vertrau mir, Bodan. Wir schaffen das. Ich habe einen Plan.«
Der Spiegelwächter versuchte zurückzulächeln, wobei der Rausch des Tranks anhielt, so dass er übertrieben grinste. Seine Gedanken überschlugen sich. Wie sollten sie es aus dem Krater herausschaffen? Ganz ohne Magie? Er blickte an dem Menschen hinunter, der vor ihm hockte, und dachte: Desmond hatte einen Schatten, und dieser war mächtig. Wenn er seine Magie einsetzte, dann hätten sie eine Chance. Aber da war nichts. Es war dunkel an der Stelle, an der sie saßen, jedoch auch im Dämmerlicht hätte dort auf dem Boden ein Schatten neben Desmond liegen müssen.
»Hast du deinen Schatten verloren?«, keuchte Bodan.
Desmond lächelte ihn an. »Das ist nicht schlimm. Wir brauchen keine Schatten, um von hier zu verschwinden.« Er sah ihm fest in die Augen und drückte seine Hand. »Wir schaffen das. Du musst mir vertrauen, bitte. Lieber alter Bodan. Mein Spiegelwächter, Spiegelwächter der Solas-Familie. Du hast uns immer gute Dienste erwiesen und unseren Spiegel bewacht. Es wird Zeit, dass wir etwas von deiner Güte und Großzügigkeit zurückzahlen. Lass mich dir helfen.«
»Dein Schatten«, stammelte Bodan.
Desmond schüttelte nur sanft den Kopf. »Bist du soweit? Können wir gehen?«
Bodan nickte und stand auf. Er hätte fast einen Luftsprung gemacht, so energiegeladen fühlte er sich. Desmond bahnte sich einen Weg durch die arbeitenden Städter, Bodan folgte ihm dicht auf den Fersen. Niemand beachtete sie. Anfangs nickte er noch entschuldigend, wenn er sich vorbeidrücken musste, aber die Städter schienen ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es war, als wären die beiden unsichtbar. Auch die Berggeister schienen es nicht zu bemerken, dass sie die spiralförmigen Ebenen des Kraters hinaufspazierten, während die Gefangenen schufteten. Jeder ging seiner angedachten Tätigkeit nach. Die einen mehr zur Zufriedenheit der Bewacher, die anderen weniger. Es herrschte ein reges Treiben, das Gemurmel und die Arbeiten verursachten einen enormen Lärm, gemischt von dem emsigen Brummen der Feen, die das Licht erzeugten. Und genau dazwischen bewegten sich Desmond und Bodan wie Tänzer zwischen Pendeln, die an Seilen von der Decke baumelten, und denen sie versuchten auszuweichen.
So erklommen sie Stück für Stück, Ebene für Ebene, den Krater, und je höher sie kamen, desto weniger Arbeiter begegneten ihnen. Die Berggeister ließen nun tiefer im Krater arbeiten, so dass die oberen Ebenen fast leer waren. Bald konnten die beiden nebeneinanderher laufen. Bodan war immer noch ganz beschwingt von dem Trank, den Desmond ihm gegeben hatte.
»Was war das, was du mir da gegeben hast, Desmond? Es schmeckte so fremd, und auch diese Wirkung habe ich bisher noch nicht erlebt.«
Desmond lächelte. »Das hat mir eine Hexenmeisterin, die im Land der gleißenden Farben lebt, geschenkt. Sie war eine Seherin und meinte, dass mich das Elixier irgendwann einmal retten würde, unabhängig davon, ob ich Magie hätte oder nicht.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Ich habe das damals nicht verstanden. Ich hatte meinen Schatten noch.« Er seufzte. »Hätte sie mir doch mehr über ihre Vision erzählt. Wir hätten es vielleicht verhindern können.«
»Also