»Wie willst du sie auskundschaften? Es sind Schatten, da können wir nicht einfach reinspazieren«, murmelte Ludmilla, während sie nachdenklich die Umgebung betrachtete. Ein Schleier, der sich über die Landschaft gelegt hatte wie der der Nacht, lichtete sich. Und da erkannte sie es. Wohin ihr Auge reichte: Zelte. Mehr Zelte und immer mehr gab das wenige Licht, das aufkam, preis. Das Schattendorf war riesig. Größer als das Dorf der schattenlosen Wesen, so schätze sie.
Irritiert sah sie zu Lando, der erwiderte: »Das hatte ich auch nicht vor.«
»Sieh nur«, wisperte sie. »Das sind so viele. Zu viele.« Ihr stockte der Atem. »Wie kann das sein? Die Schattenwolke ist riesig, und zusätzlich gibt es all diese lebendigen Schatten?« Immer wieder schüttelte sie dabei den Kopf. »Denkt ihr, dass in jedem dieser Zelte ein lebendiger Schatten lebt?«
Eneas schlug sich die Hand vor den Mund. »Das wissen wir nicht mit Sicherheit«, flüsterte er kaum hörbar. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.«
Ludmilla erschauderte, während sie ungläubig auf das Dorf starrte. Instinktiv zog sie die Kapuze ihres Hoodies höher und suchte angestrengt die Landschaft ab. Wie weit reichten die Zelte? Was kam danach? Verzweiflung machte sich in ihr breit. Wenn es so viele lebendige Schatten gab, die nur darauf warteten, Schatten zu stehlen, dann würde es bald keine Wesen des Lichts mehr geben. Dagegen musste sie etwas tun. Sie konnten nicht tatenlos rumstehen und dabei zusehen, wie sich diese Schatten vermehrten. Es musste eine Lösung geben.
Gerade, als sich Ludmilla zu ihren Begleitern umwandte, meinte sie, ein sanftes Glühen am Horizont zu erkennen. Dort war nicht alles schwarz und grau, sondern es schimmerte rötlich. Wie noch nicht erloschene Asche. Es war mehr rot als golden, was sie an Fenris erinnerte. Dem dunklen Teil von Eldrid. Hier leuchtete nichts golden. Nichts war einladend an dieser Landschaft. Für einen kurzen Moment dachte sie an das Glitzern der Wälder, das goldene Leuchten der Nacht und die farbenprächtige Stadt Fluar. Doch dann wurde sie von Lando aus ihren Gedanken gerissen.
»Warum brauchen sie Zelte?«, murmelte er.
»Es sind Schatten, die mit Wesen verbunden waren«, flüsterte Ludmilla. »Sie wollen vielleicht genauso leben.«
»Die Frage ist nur, was machen die hier?«
Eneas brummte unschlüssig. »Ich habe keine Ahnung, Lando, aber du hattest recht. Es gibt es, das Schattendorf, und es ist riesig.« Ein kleiner Funkenregen sprang von seinem Körper.
»Wisst ihr eigentlich, wo wir hier sind?«, fragte sie zaghaft.
Lando hob die Schultern und betrachtete die Landschaft. Soweit das Augen blicken konnte, bedeckten glatte schwarze Steine den Boden. Es war ein Meer aus unterschiedlich hohen und blank polierten Steinen, das hohe Wellen schlug. Oder wie eine endlose Buckelpiste im Gebirge. Er hob die Hand vor die Augen, als würde ihn etwas blenden, und starrte über die Ebene.
»Eneas«, sprach er langsam. »Siehst du das?«
Lando deutete auf den Horizont, an dessen Ende Ludmilla das Glühen entdeckt hatte. Eneas folgte seinem Finger und kniff die Augen zusammen. Ein Unsichtbarer mit einem langgezogenen Schädel und runden Augen wie Murmeln sah schon merkwürdig aus. Ludmilla bewunderte jedes Mal aufs Neue, wie sich sein Gesicht durch eine Grimasse veränderte. Diese mit zu Schlitzen verengten Augen hatte etwas von einer Comicfigur. Sie überraschte sich selbst dabei, dass sie darüber nicht lachen musste. Vielleicht hatte sie sich an die verschiedenen Anblicke gewöhnt? Oder sie respektierte ihn zu sehr, als dass sie sich über ihn lustig machen könnte.
»Wenn es das ist, was ich vermute, dann sind wir im Land der Nuria gelandet.« In Eneas’ Stimme schwang Unsicherheit mit.
»Nuria?« Sie wandte sich an Lando. »Das Land der Nuria? Davon habe ich noch nie gehört.«
Lando lächelte sie belustigt an. »Das ist ein Gebiet, das nicht gerne bereist wird und von dem die Wesen von Eldrid nicht viel erzählen. Die Nuria sind keine Wesen des Lichts, auch wenn sie Schatten haben. Sie bezeichnen sich als Wesen des Feuers.« Er lachte kurz und hart auf. »Die Nuria bestehen im Wesentlichen aus Feuer und ihre Pferde auch. Stell dir einen Menschen auf einem Pferd vor, der von einer glühenden Feuerflamme eingehüllt ist. Beide haben Kontur, brennen gleichzeitig. Beispielsweise stehen die Haare der Nuria in Flammen, ebenso wie der Schweif und die Mähne des Pferdes, dabei verbrennen sie jedoch nicht. Sie sind eins mit dem Feuer. Genauso verhält es sich mit dem Land. Das Feuer breitet sich überall aus, so dass alles aus brennendem Material besteht oder bereits verbrannt ist. Schau dir die Landschaft genauer an: Die Kugeln, die den Boden bedecken, sind aus geschmolzenem Stein, den das Feuer glattpoliert hat wie Stahl. Die Nuria würden am liebsten alles niederbrennen. Zum Glück gibt es Ilios, das sie davon abhält, denn sie hassen das Licht und insbesondere das Sphärische.«
»Ilios? Der sphärische Teil von Eldrid?«
Eneas nickte. »Zwischen dem Land der Nuria und Ilios liegt das Gebiet der Unsichtbaren. Es ist genauso lichtdurchflutet wie Ilios, ändert aber ständig seine Farben. Es wird das Land der gleißenden Farben genannt, obwohl es eigentlich Glintir heißt.« Stolz sprach aus seiner Stimme, der sofort wieder verflog, als er fortfuhr: »Da, wo unser Land rötlich wird, hat sich das Feuer festgesetzt, und die Nuria sind entstanden. Sie scheuen das Licht, so dass sie unsere Grenze nicht überschreiten. Als hätten sie Angst zu verbrennen, jedoch haben sie es bis heute nicht aufgegeben, es zu versuchen.«
»Was zu versuchen?«, fragte Ludmilla.
Er sah sie mit traurigen Augen an. »Die Grenze zu überschreiten. Wir, die Unsichtbaren, schützen unsere Grenze zu den Nuria mit einem besonderen Zauber, den die Sphärischen uns gelehrt haben. Sie versuchen, den Bann zu brechen. Viele Unsichtbare sind durch ihre Feuerpfeile verletzt worden, manche sogar gestorben, aber der Zauber hält stand, und so sind sie in ihrem Land gefangen.«
»Gefangen? Befindet sich das Land der Nuria in der Mitte des Landes der gleißenden Farben oder grenzt es an andere Länder, die ihre Grenzen genauso schützen?« Die Fragen sprudelten ungebremst aus Ludmilla heraus. Sie wollte diese Welt unbedingt verstehen.
»Ich hatte ganz vergessen, wie neugierig du bist«, lachte Lando leise.
Eneas lachte nicht. »Das Land der Nuria ist ein riesiges Gebiet. Es hat schon mehrere Länder von Eldrid mit seinem Feuer aufgefressen. Es reicht bis zu den Grenzen von Glintir, und auf der anderen Seite ist das Meer.«
»In Eldrid gibt es ein Meer?«, platze es aus Ludmilla heraus.
»Ja, nicht nur hinter dem Land der Nuria, auch andere Gebiete grenzen ans Meer.«
»Also ist Eldrid eine Insel.«
Die Wesen blickten sie verständnislos an.
»Oder ein Kontinent?«, fügte sie unsicher hinzu.
»Eldrid besteht aus vielen verschiedenen Ländern. Auch jenseits des Meeres gibt es Land, und dieses Land gehört zu Eldrid. Jedoch kenne ich kein Wesen, das so weit gereist ist«, gestand Eneas. »Wir, die Wesen des Lichts, sind davon überzeugt, dass es dieses Land jenseits des Meeres gibt.«
»Dann wisst ihr es nicht mit Sicherheit?«
»Eldrid ist eine Welt, kein Kontinent«, zischte Eneas, als hätte Ludmilla ihn persönlich angegriffen, und von seinem Körper lösten sich Funken. Lando warf ihr einen warnenden Blick zu, während er Eneas’ Unterarm tätschelte, so dass sein Funkenregen sofort erlosch.
Sie ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern bohrte weiter: »Gibt es eine Karte? Von Eldrid?«
Lando schüttelte langsam den Kopf. »Wir wissen, wo sich die Länder befinden. Wir benötigen keine Karte.« Er sprach dies fast abfällig aus.
»Ich kann mich an Karten immer gut orientieren«,