Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
Скачать книгу

      Tech reichte ihr ein frisches Taschentuch.

      Sie griff danach und tupfte die Tränen weg. „Ich bin jetzt über sechzig Jahre alt und das ist das Schlimmste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Furchtbar. Einfach nur furchtbar. Einen Menschen so … aufzufinden.“

      Ein paar Sekunden vergingen.

      Zwar wollte Tech so schnell wie möglich alle Informationen, aber er wollte sie nicht um jeden Preis. Schließlich sagte er: „Sagen Sie bitte, was geschehen ist.“

      „Also, das war so“, setzte Frieda an, „ich bin zu Frau Strickners Haus gegangen, weil ich ihr einen selbst gebackenen Christstollen bringen wollte. Das mache ich jedes Jahr. Das Licht im Haus brannte, ich habe geklingelt, aber sie hat nicht aufgemacht, und da dachte ich: Da stimmt was nicht. Deshalb habe ich durchs Wohnzimmerfenster geschaut und habe gesehen … Ich bin sofort wieder hierher gelaufen und habe die Polizei gerufen. Da war es genau 19:56 Uhr.“

      „Wie kommt es, dass Sie sich bei der Uhrzeit so sicher sind?“, wollte Tech wissen.

      „Das bin ich immer, auf die Minute genau. Ich schaue ständig auf die Uhr.“ Frieda machte eine Bewegung mit der Hand. „Man kann das wohl einen Tick nennen. Ich wusste, wie spät es war, als ich mein Haus verließ – 19:45 Uhr - und ich sah wieder auf die Uhr, als ich nach dem Telefonhörer griff. 19:56 Uhr.“

      „Und Sie haben sofort gesehen, dass Frau Strickner tot war?“

      „Nun, da konnte es wohl keinen Zweifel geben.“ Frieda schluckte schwer. „Sie lag auf dem Rücken. Um ihren Kopf herum war Blut. Es war einfach nur schrecklich.“ Wieder tupfte sie ihre Augen ab.

      „Haben Sie sonst noch etwas bemerkt, als Sie ins Wohnzimmer schauten?“

      „Nein.“ Frieda schüttelte den Kopf. „Eine Kaffeetasse lag zerdeppert auf dem Boden, so als ob sie gerade daraus getrunken hätte, als sie … Mehr ist mir nicht aufgefallen. Nein.“

      Tech überlegte einen Moment, dann fragte er weiter: „Waren Sie mit Frau Strickner befreundet?“

      „Nein, das kann man so nicht sagen.“

      „Aber Sie haben sie gut genug gekannt, um ihr einen Kuchen zu bringen.“

      „Das mache ich, wie gesagt, jedes Jahr zu Weihnachten. Weil man das eben so macht. Aber mehr …“ Noch einmal schüttelte Frieda den Kopf. „Ich kannte sie nicht besser als jeder andere hier in der Nachbarschaft auch. Sie lebte sehr zurückgezogen, blieb gern für sich.“ Schnell hob sie die Hände in die Höhe. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Strickner war eine sehr nette und freundliche Frau, sie grüßte immer und wir wechselten auch stets ein paar Worte miteinander, wenn wir uns auf der Straße trafen. Mehr war aber nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch irgendeinen gesellschaftlichen Umgang pflegte, seit ihr Mann gestorben ist.“

      „Wann ist er denn gestorben?“, wollte Tech wissen.

      „Vor elf Jahren. Er hat sich erhängt.“

      „Wirklich?“

      „Ja, das war eine tragische Geschichte.“ Frieda runzelte die Stirn. „Frau Strickner hat diesen Verlust gar nicht gut verkraftet und sich danach immer weiter zurückgezogen.“

      Tech überlegte wieder einen Moment, dann fragte er weiter: „Wann haben Sie sie das letzte Mal lebend gesehen?“

      Frieda leckte sich über die Lippen. „Gestern Abend. Um 17:13 Uhr. Ich kam gerade vom Friseur. Da das Wetter so schlecht war, hatte ich mir ein Taxi genommen und mich nach Hause bringen lassen.“

      „Heute haben Sie sie den ganzen Tag über nicht gesehen?“

      „Nein.“

      „Und als Sie sie gestern gesehen haben, haben Sie da mit ihr gesprochen?“

      „Nur ‚Guten Abend‘, mehr nicht. Allerdings habe ich heute, am späten Nachmittag – 16:14 Uhr -, beobachtet, wie ein Mann an ihrer Tür klingelte. Ich habe es von meinem Fenster aus gesehen.“

      „Was für ein Mann?“

      „Ich kenne ihn nicht persönlich, aber er war schon öfter bei Frau Strickner. Nicht sehr regelmäßig und nicht sehr oft, aber sein Wagen stand schon ein paar Mal vor ihrem Haus. Vermutlich fiel es mir nur deshalb auf, weil sie ja ansonsten, wie ich bereits sagte, kaum Kontakt zu anderen Menschen hatte.“

      „Wissen Sie, was für einen Wagen der Mann fuhr?“

      „Ich kenne mich nicht so gut aus mit Automarken.“

      Schade, dachte Tech.

      „Aber ich habe mir das Kennzeichen gemerkt.“

      Tech sah auf und spürte, wie eine Art Rauschen durch seinen Körper ging.

      „Ich konnte es mir ganz leicht merken. H wie Hannover. FB wie Frieda Behnke. 100.“ Frieda lächelte schüchtern.

      „Ich danke Ihnen, Frau Behnke“, sagte Tech. „Sie haben mir wirklich sehr geholfen.“

      4. KAPITEL

      Steganografie

      Hannover

      21:16 Uhr

      Julia und Eva befanden sich inzwischen wieder in der Innenstadt. Umgeben von wirbelndem, wallendem Weiß, konnten sie gerade noch die Umrisse einer kleinen Trinkhalle erkennen, die sich auf der anderen Straßenseite befand, deren Konturen sich aber mit jedem Augenblick weiter aufzulösen schienen.

      „Tee!“, stieß Eva aus. „Köstlicher, heißer Tee!“

      „Wir sollten nicht übermütig werden“, sagte Julia.

      „Ich bitte dich, Julia! Ich bin durchgefroren bis auf die Knochen. Gönn mir wenigstens einen heißen Tee. Jetzt.“

      „In der Pension haben wir es auch warm und dort können wir auch Tee trinken.“

      „Bis wir die Pension erreicht haben, bin ich ganz bestimmt erfroren. Ich fühle mich, als wäre ich mitten in einen Film über die Apokalypse geraten.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, überquerte Eva bereits die Straße.

      Julia sah sich gezwungen, ihr zu folgen.

      Schnaufend eilte Eva in die Trinkhalle und auf eine Theke mit Holzplatte zu. „Was muss ein Mädchen tun, um hier einen heißen Tee zu bekommen?“, fragte sie. „Und ich meine, einen richtig heißen Tee.“

      Der Mann hinter der Theke, ein hochgewachsener Typ, dessen blonde Haare vom Kopf abstanden, als hätte er gerade in eine Steckdose gefasst, und an dessen Pullover ein Schild steckte, auf dem „Bertram“ stand, lächelte. „Heißer Tee mit Rum, wie wäre es damit?“

      „Das klingt wunderbar.“

      „Und Sie?“, wandte Bertram sich an Julia.

      „Für mich auch.“

      Er nickte und machte sich daran, einen Wasserkocher einzuschalten. „Da haben Sie sich aber einen beschissenen Tag für einen Spaziergang ausgesucht“, sagte er und deutete mit dem Daumen auf einen kleinen Fernseher, der auf der rechten Seite unterhalb der Decke befestigt war. Der Nachrichtensprecher, der nicht eine Falte im Gesicht hatte, wurde gerade von einer detailgetreuen Karte Deutschlands abgelöst, über die eine animierte weiße Masse ruckelte.

      „Dieses beschissene Wetter wird uns noch ein paar Tage zu schaffen machen“, fügte Bertram hinzu. „Weshalb ich heute eigentlich gar nicht öffnen wollte. Sie beide sind die einzigen Gäste, die ich heute Abend hatte. Über die Feiertage lasse ich den Laden am besten geschlossen.“ Er seufzte leise. „Kommt sowieso keiner.“ Noch einmal seufzte er, dieses Mal etwas lauter. „Muss ich Weihnachten eben mit meiner Frau verbringen.“

      „Sie müssen?“ Eva lächelte. „Klingt, als wäre es eine Tortur.“

      Das ließ Bertram auflachen. „Und ob es das ist. Sie