DU GEHÖRST IHNEN.. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия: 666 - Perfektion des Bösen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969020050
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aus ihm heraus. Dass er bei all dem überaus schüchtern war, konnte auf den ersten und zweiten Blick niemand erkennen. Das kaschierte er in der Öffentlichkeit, so gut er konnte. Nur seine Mutter, die einzige Frau, der er sich bislang einigermaßen hatte öffnen können, bemerkte mit ihrem untrüglichen Instinkt seine große Schüchternheit als er vierzehn Jahre alt war und sein erstes sinnliches Erlebnis hätte genießen können, wenn, ja, wenn er denn gewollt hätte.

      Die aufregende Tochter der entfernten Verwandten, die die Mignellos damals im Tessin besuchte, acht Jahre älter als Franco und im Umgang mit Männern schon sehr erfahren, schaffte es trotz sparsamer Kleidung, aufreizender Posen und anzüglicher Gespräche nicht, Franco auch nur zu einem kleinen, klitzekleinen Miniflirt zu bewegen. Auf der einen Seite war es Mutter Sophia recht, denn Franco war ja erst vierzehn, aber gemessen an seiner geistigen und körperlichen Reife hätte er durchaus schon verheiratet sein können. Eine Frage des Kulturkreises. Zumindest einen Flirt mit einer derart attraktiven Anverwandten hätte er genießen sollen. Das wünschte sich die liebende Mama. Trotz aller Anstrengungen, die das attraktive Fräulein aus gutem Hause unternahm, zeigte der verdammt blässlich aussehende und unscheinbare Knabe mit der großen Ausstrahlung nicht das geringste Interesse an der jungen Dame. Für den Filius nicht mal theoretisch, geschweige denn praktisch ... Seit der Zeit beobachtete Mutter Sophia mit einiger Sorge dessen merkwürdige Zurückhaltung dem anderen Geschlecht gegenüber. Denn, das hatte ihr Franco gleich am ersten Abend des weiblichen Besuches gesagt, er fand Mercedes „durchaus anziehend.“ Trotzdem gab es für Franco an dem langen Wochenende im schönen Tessin keine Veranlassung, die heiße junge Lady näher in Augenschein zu nehmen und er wich jedem Versuch körperlicher Berührung durch Mercedes nervös, fast hektisch/angewidert, so hatte es den Anschein, aus. Die Sorge seiner eleganten Mutter wuchs mit jedem weiteren Lebensjahr des Sohnes mehr. Die Mädchen blieben von Franco verschont. Komplett. Das andere Geschlecht existierte nicht. Was immer das heißen mochte. Zwischen den besorgten Eltern wurde das Thema regelmäßig und mit großer innerer Anteilnahme und Erregung diskutiert. Denn schließlich war Franco der einzige Sprössling und der Konzern brauchte, wenn er in den Händen der Mignellos bleiben sollte, irgendwann einmal kompetenten Nachwuchs. Mit Argusaugen beobachteten sie ihren geliebten Sohn. Er war doch nicht etwa schwul ...?

      Niente!

      Von dem Tag des Konzertes an, das Superstar Stella Henderson mit ihrer Band in Harvard gab, war Franco wie verwandelt und dachte plötzlich an Frauen.

      An eine Frau: Stella. Sie war in sein Leben gerast. Mit irrsinniger Intensität und Lautstärke, einem hundertsechsundfünfziger Wahnsinns-Beat. Trash-Metal vom Steilsten für seine Seele. Alles musste er über sie erfahren, alles wollte, ach, musste er über Nacht von ihr wissen! Nein, nicht, dass er sie bespitzeln wollte, das ging ihm gegen den Strich. Aber die Wissbegierde in ihm, jedes Detail über diese Frau zu erfahren, um nichts falsch zu machen, sollte er einmal die Chance einer ganz privaten Begegnung mit ihr bekommen, ließ ihn erfinderisch werden. Wie wohl jeder ernsthaft durch Verliebtsein Geschädigte seinen individuellen, persönlichen Zugang zu dem anderen Menschen finden möchte. Was Verliebte schon zu allen Zeiten erstaunlich clever werden ließ.

      Zuerst kaufte er sich alle CDs von ihr, ihre DVDs, die Video-Clips, die er auf YouTube fand. Ihre zwei Filme, die sie gedreht hatte und die ebenfalls auf DVD erschienen waren, sah er sich in den ersten Wochen täglich an. Stella, Stella, Stella. Seine zerbrechliche Seele, sein wacher Verstand, sein großes Herz – alles in ihm kreiste nur noch um Stella. Es ist Liebe, die den Puls beständig auf zweihundertzwanzig hält, die das Atmen erschwert, die Knie weich werden lässt; die Schweißausbrüche am laufenden Band provoziert. Stella – seine Liebe zu ihr vernebelte in jenen Tagen und Wochen seinen Verstand total.

      Er kannte jede Zeile der über siebzig Songs, die Stella Henderson bis heute geschrieben hatte. Setzte sich mit ihnen auseinander, drang dadurch in eine Welt ein, die ihm bis dahin ziemlich fremd gewesen war. Denn Stellas Texte waren mystisch, voll von Metaphern. Zum Teil sehr melancholisch, zumindest in seinem Verständnis ihrer Lyrik. Und sie waren auf eine verschlüsselte Art erotisch, manchmal vulgär mit primitiven, obszönen Worten, wie er empfand. Vieles ließ ihn erröten. Aber interpretierte er die ordinären Zeilen nicht viel tiefer, sinnlicher, als sie sie vielleicht meinte?

      Lag es an der schlichten amerikanisch/englischen Sprache? Französisch, auch Italienisch und Deutsch ließen mehr Freiraum, Fantasie und Interpretationsmöglichkeiten zu. Nicht zu reden von den blumigen arabischen Sprachen. Als er ihre Texte ins Italienische und Französische übertrug, wurden sie farbiger, ausdrucksstärker. Die Übersetzungen nahmen dem Obszönen die Härte, ohne das Erotische zu verdecken, das ihm durchaus gefiel und das Gefühle in ihm weckte, die er vorher nicht in sich verspürt hatte.

      Franco glaubte, dass hinter allem Vulgären/Primitivem mancher Texte ein tieferer Sinn stand. Stehen musste. Dass Stella aus einer ihr vielleicht gar nicht bewussten Verletztheit heraus, für die Franco in den ersten Wochen und Monaten des Beschäftigens mit der Person Stella Henderson keine Erklärung fand, einfach nur grob, aufreizend und provozierend sein wollte. Vielleicht wollte sie Menschen, bestimmte Personen, mit ihren Texten verletzen. Oder sah er in seiner Verliebtheit alles falsch? Denn wenn ein Mädchen Politik studiert, noch dazu sechs Semester an der Harvard University, musste es nicht nur ziemlich intelligent sein, sondern sich bei der Wahl des Studienzweiges auch etwas gedacht haben.

      Die Auseinandersetzung mit Stellas Musik und ihrem Leben machte ihn noch neugieriger auf den Menschen Stella Henderson. Jeder Künstler gibt sehr viel von seinem Innersten frei. Musiker, Sänger, Schauspieler, die den direkten Kontakt mit einem Publikum haben, noch viel mehr als Maler, Schriftsteller, Bildhauer. Die können sich hinter ihrer Arbeit verstecken. Bleiben, wenn sie wollen, unsichtbar. Bis zu einem hohen Maße anonym. Der Musiker nicht. Er ist Prediger. Exhibitionist. Das auf jeden Fall. Wer den exhibitionistischen Drang des sich Darstellens in sich spürt, wer den inneren Klang seines Ichs unbedingt nach außen tragen muss, gibt dem Zwang früher oder später nach. Das gehört zu seiner persönlichen Lebensform des unglücklich/glücklichen Seins. Künstler, speziell Bühnenschaffende, sind dadurch zutiefst verletzbar. Mehr als andere. Weil sie die Öffentlichkeit, wildfremde Menschen in ihr Inneres sehen lassen. Immer.

      Franco las jeden Bericht, jedes Interview, kaufte sich jede Zeitung, jedes Magazin, das ein Foto von ihr druckte. Hing wie ein Süchtiger im Internet. Und es waren, wie er feststellen musste, unzählige Berichte, Fotos, Halbwahrheiten, Lügen, Posen. Ja, Posen. Dann fing er an, sich für ihre Familie zu interessieren. Franco wollte vorbereitet sein. Denn er war sich bei aller Schüchternheit und selbst auferlegter Zurückhaltung hundertprozentig sicher, dass er Stella Henderson eines Tages heiraten würde. Komme, was da wolle. Er konnte den Tag der Hochzeit gar nicht genug herbeisehnen.

      Stella war seit jener schicksalhaften Begegnung das Wichtigste in seinem jungen Leben. Jetzt machte das Spielen in einer der Bands der Universität Sinn. War es anfangs nur reiner Zeitvertreib und die Lust, sich hin und wieder auszutoben, wenn er bei den Proben anderer Gruppen auf dem Campus mal vorbeischaute, kreisten jetzt seine Gedanken ständig um Stella. Hier, an dem Ort, wo auch sie begonnen hatte, Musikerin zu werden. Er fühlte sich von nun an seelisch mit ihr verbunden.

      Durch das starke Band der Musik.

      Studium, Doktorarbeit, die Einflussnahme auf den Konzern seines Vaters waren wichtig, aber über allem thronte Stella. In Windeseile hatte sich Franco aus Musikern der anderen Gruppen der Uni eine eigene Band zusammengestellt. Er musste Musik einfach leben. Abende mit dem Höllenlärm der Jungs waren für ihn pure Entspannung. Sie spielten neben eigenem Material etliche Cover-Versions von Smashing Pumpkins, Aerosmith, Led Zeppelin, Wolfmother und Tito & Tarantula – nur weitaus schneller, kantiger, härter, rauer. Zwischen Sludge und Progressive. In die Musik versunken, schaltete er gänzlich ab, träumte nur noch von Stella, während er die Sticks auf sein dw-drums peitschte und seinen persönlichen Rhythmus zum Rhythmus der Musik seiner Band machte.

      Vielleicht sollte er doch alles hinschmeißen und sich als Drummer in Stellas Band bewerben?

      Zwiespältige Gefühle brachten ihn immer wieder ein wenig aus dem Ruder: Die Musik war seine große Leidenschaft. Jetzt noch mehr, seit er brennende, intensiv lodernde Liebe in sich trug.

      Fast noch magischer als die berufliche