Musik war Francos Leben. Das seiner Seele. Töne, Harmonien. Rhythmus. Ohne Musik hätte das Leben keinen Sinn; Musik – die höchste und schönste Form des Ausdrucks im Leben und in der Kunst.
„Bewegung ist das Merkmal des Lebens, und das Gesetz der Bewegung ist Rhythmus. Takt und Ebenmaß. Rhythmus ist in Bewegung gehülltes Leben, und in jeder seiner Erscheinungsweisen zieht er offensichtlich die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich ... Rhythmus ruft eine Ekstase hervor, die man nicht erklären und mit keiner anderen Quelle der Berauschung vergleichen kann. Darum ist der Tanz bei allen Völkern, zivilisierten und unzivilisierten, die faszinierendste Art der Unterhaltung und Erholung und hat sowohl Heilige als auch Sünder entzückt.“
Franco liebt die Erklärungen des großen Musikphilosophen Hazrat Inayat Khan. Der – längst verstorbene – Inder war ein Teil von ihm geworden. Francos unbändiges Verlangen nach Rhythmus, nach Ausdruck durch Rhythmus, brachte ihn frühzeitig zum Schlagzeugspiel. Und die intensive Beschäftigung mit Musik war das, was er für seine widerspenstige, sich aufbäumende Seele brauchte. Für seine Logik war Rockmusik, anfangs, die einzig akzeptable Ausdrucksform dank ihrer rhythmischen Kraft, der Betonung innerhalb eines Taktes auf die Zwei und Vier. Er hatte sich ganz klar für das formende, pulsierende, harte, prägnante Rhythmusgebäude, das die Rockmusik zu dem machte, was sie ist, entschieden. Und die frische, junge Rockmusik entsprach seinem wirklichen Lebensalter auf ganz natürliche Weise am besten. Doch das Schicksal, in Form seiner über alles geliebten Familie, hatte anderes mit ihm vor. Franco war sich dessen bewusst. Und so nahm er sein persönliches Karma gelassen an.
»Franco«, hörte er immer und immer wieder die Stimme seiner Mutter Sophia, »du bist der Einzige. Nur du wirst unsere Familie weiterführen können und einst Vater die immense Last, die er mit dem Konzern auf seinen Schultern trägt, abnehmen können.«
Franco war großbürgerlich, weltoffen aufgewachsen. Die Mignellos waren eine ehrbare Familie, die ihre Aufgabe im Geben, im Lieben und Dienen sah, nicht im Geldraffen. Bei den Mignellos hatte jedes Familienmitglied gleiche Rechte und Pflichten. Alles geschah unaufgeregt und auf natürliche, zwanglose Weise. Franco lernte automatisch, was Liebe heißt, was menschliche Wärme, Taktgefühl, Anstand, Höflichkeit, Ehrlichkeit und Herzensgüte bedeuten. Der finanzielle Reichtum der Familie war überall zu spüren, aber er wurde nicht aufdringlich zur Schau gestellt. Geld war lediglich Mittel zum Zweck; Ergebnis durchdachten Schaffens, das erst durch Menschlichkeit und Warmherzigkeit zu Großem gewachsen war.
Ihr Stadtpalais in Verona, ein etwa 2.700 Quadratmeter großer Bau aus der Blütezeit der Architektur der Renaissance von einem der Schüler Palladios Anfang des siebzehnten Jahrhunderts errichtet, stand im wahrsten Sinne des Wortes für ´echt´. Keine Vase, die nicht ihren Ursprung in der Glanzzeit des Venedigs der großen Dogen des Mittelalters hatte; kein Gemälde, kein Blatt, keine Skizze, ob von Matthias Grünewald – Francos Lieblingsmaler –, von Leonardo da Vinci oder Diego Velásquez, das nicht mit Sachverstand und erlesenem Geschmack zusammengetragen worden war, um die kulturellen Werte vor der Gier der Spekulanten zu schützen. Für die Mignellos war das Umgebensein von Kunst selbstverständlich. Und dass die gesammelten Werke Ausstellungen in aller Welt ohne großes Brimborium zur Verfügung gestellt wurden. Sammeln hieß für die Mignellos bewahren, pflegen und weiterreichen. Das war ihre Wertsteigerung.
Von Franco, dem einzigen Kind, wussten die Eltern recht schnell, dass er zu Außergewöhnlichem fähig sein würde. Fast alles, was Franco anfasste, gelang ihm. Der sympathische Junge war für vieles, so schien es, äußerst begabt. Im elterlichen Palais bewohnte Franco, den sie mit einem Augenzwinkern unter sich „Zweistein“ nannten, den Ostflügel. Voller Stolz und einem Schuss Selbstironie nahmen sie an, ihr kindliches Genie würde dem kleinen großen Physiker nachstreben und Franco würde ein zweiter Einstein in der Naturwissenschaft werden. Oder ein Geist, der umkippt, von dem man später einmal sagen würde, er wäre verrückt. Sein ICH wäre dann, den Normen unserer Gesellschaft gemäß, in eine andere Ebene ver-rückt worden. Eltern fühlen das sehr deutlich. Keine Frage nach dem Wieso und Warum. Intuition.
Von seinem Studierzimmer aus hatte Franco einen herrlichen Blick über große Teile der wunderschönen Altstadt von Verona. Er sah bis zur Arena, in der er mit seiner britischen Heavy Metal Band auch gerne aufgetreten wäre. Aber bis heute gab die Stadt die Arena für ein Konzert mit seiner Band, die wegen Francos Mangel an Zeit seit Monaten dahinvegetierte, nicht frei.
Zu dem etwa 100 Quadratmeter großen Studierzimmer mit seiner sechs Meter hohen Decke und den gut erhaltenen Fresken hatte Franco auch heute noch einen besonderen Bezug. Riesige Bücherregale hüllten den Raum quasi ein, gaben ihm Halt und Schutz zugleich. Florentinische Intarsienarbeiten, imposante Etruskervasen, die aus Vulci stammten, wo im fünften und sechsten Jahrhundert die größten Meister der Töpferkunst zu Hause waren, vervollständigten das für einen Knaben ungewöhnliche Wohnambiente. Die Vasen schmückten, symmetrisch angeordnet, die acht Fenster der Ost- und Südseite und brachten im Licht der Morgensonne eine unglaubliche Gelassenheit, Ruhe und Harmonie in den Raum. Im Mittelpunkt der Acht-Fenster-Harmonie stand eine Bronze- Chimaera, ebenfalls aus der Zeit der Etrusker. Zwei zarte Skulpturen aus der Hand Michelangelos, die in der Abenddämmerung zusätzliches und wahrhaft göttliches Licht von Goldlüstern erhielten, rundeten das Bild des Raumes ab.
Einziger Affront in der für einen Menschen seines Alters viel zu gediegenen Atmosphäre: eine gigantische HiFi-Anlage in einem extrem coolen High-Tech-Design. Sie zerstörte den eleganten Raum, in dessen Mittelpunkt ein überdimensionierter Schreibtisch stand. Franco hatte sich die Anlage selbst zusammengestellt. Verwendete als wichtige Bauteile nur Massenburg-Verstärker, die wegen ihrer fantastischen Qualität in den exquisit ausgestatteten professionellen Tonstudios zum Einsatz kamen. Daran waren vier CD-Player in ebenfalls avantgardistischem Plexiglas-Design angedockt, sowie zwei Plattenspieler für die viel offener, wärmer klingenden LPs, die eine Renaissance erfahren. Na und die Boxen! Sie integrierten sich erst recht nicht in das elegante Umfeld des Raumes, waren sie doch ´nur´ zweieinhalb Meter hoch, wogen pro Stück um die sechshundert Kilo und waren aus einer Mischung aus weißem Sandstein und dunklen Teakhölzern birmanischer Herkunft gefertigt. Jede der vier Boxen, die die US-Firma Wilson Audio speziell für ihn konstruiert hatte, vertrug eine angesprochene Leistung von zweitausend Watt und sie brachten, zusammen mit speziell in den Boden eingearbeiteten Sub-Woofern, in Francos Studierzimmer einen THX-Sound, der der Carnegiehall in New York zur Ehre gereicht hätte.
Und was hörte der Knabe, während er studierte? Rockmusik! Laut. So laut, dass die anderen Flügel des Palazzos zu vibrieren schienen, obwohl Vater Arno Mignello, nachdem er eingesehen hatte, dass der Lärm dem Jungen beim Lernen nicht schadete, ihn in seiner Leidenschaft zur Musik – und der Welt der Wissenschaft – beflügelte, aufwändige akustische Trennmauern zwischen dem Ostflügel und dem Rest des Hauses hatte einbauen lassen ... Denn nach seinen kurzzeitigen Affären mit Chopin, Mahler und Rachmaninow kam für Franco erbarmungslos die Zeit der Rockmusik. Und je länger er sich in seine Rock-Sessions eingehört hatte, umso härter wurden die Sounds. Wenn er mal zu Hause in Verona war, hörte er in letzter Zeit wieder häufig VAST. Die unglaubliche Musik eines ihm seelenverwandten Kaliforniers, Jon Crosby, die auch nach über zehn Jahren ihre Qualität behielt; die in ihrer Mischung aus wagnerischer Mystik, griegscher Weite und düsteren Moll-Stimmungen, brachialen Gitarrensounds, harten Drums und sanften Geigen zwischen den musikalischen Welten hin- und herwogte. Es war eine gefährlich-schöne und intensive Mixtur, die einfach passte. Samt Gregorianik, Nonnengesang und Dudelsack. Weltmusik vom Kräftigsten, für seine exquisite Soundanlage wie geschaffen; die Jahrhunderte der Musik und Geisteskultur miteinander verbindend, was einen großen Sog auf Franco ausübte. Den Sound mischte er mit Puddle of Mudd, Stone Temple Pilots, Linkin Park, Rival Sons. Wolfmother, Motörhead, Baroness oder Mastodon. Ein schräger Mix. Und dass Franco Mignello auch noch in der Welt der Computer zu Hause war, verwunderte nicht. Apple-Equipment, wohin man schaute. Aufgerüstet und schneller als mancher Großrechner der Geheimdienste ...
Die Aufnahme in Oxford war Formsache. Die feinste britische Universität, wenn man nicht Cambridge – mit der weitaus jüngeren Historie – den Vorzug gab. Das Gründungsdatum Oxfords datiert aus dem Jahr 1133, zu der Zeit, als der aus Paris kommende Theologe Robert Pullen zu dozieren anfing. Manche Quellen geben das Gründungsjahr der Universität mit