Das Studium der Chemie gefiel dem Frühpubertierenden nicht gut, nicht schlecht. Klar, dass sein Vater darauf bestand, schließlich sollte er mal den Chemiegiganten übernehmen. Parallel schrieb sich Franco noch für Wirtschaftswissenschaften ein. Nach sehr kurzer, erfolgreicher Studienzeit in England stellte er sich die Frage: Was nun, superjunger Mann? Harvard? Hier konnte er zusätzlich seinen MBA (Master of Business Administration) machen und zeitgleich promovieren. Das passte ihm gut.
Zu jener Zeit, als Franco Mignello nach Boston ging, wurde er auch zum ersten Mal massiv mit Stella Henderson konfrontiert. Er kannte bis dahin nur oberflächlich ein paar von ihren Platten. Fand ihren Musikstil durchaus passabel, obwohl er selbst eine sehr viel härtere musikalische Gangart bevorzugte, aber er war weder in einem ihrer Konzerte gewesen, noch hatte er sich bewusst CDs von ihr reingezogen oder sich eingehend mit ihren Texten beschäftigt. Die Dame machte guten Mainstream-Rock, verkaufte einen ganzen Sack voll CDs und Platten. Nicht mehr, nicht weniger.
In Francos Dasein änderte sich alles mit einem gewaltigen Donnerschlag, der an die Entstehung des Universums erinnerte. Unverhofft und mit einer Kraft, die er bis dato nicht kannte, warf ihn der Donnerschlag schier um. Zu einseitig war er auf Studium und Arbeit fixiert, lebte in seiner engen, intellektuellen, wissenschaftlichen Welt. Sein Lebenselixier hieß bis zu dem für ihn historischen Augenblick der Konfrontation mit Stella Henderson: Wissbegierde, Lernen. Er hatte nie über Alternativen nachgedacht. Musik war professionelles Hobby. Das Größte und Schönste, was es auf Erden gab. Für ihn. Musik!
Stella Henderson gab auf dem Campus der Harvard Universität ein Clubkonzert, denn sie hatte dort selbst Politik studiert, bevor sie nach sechs Semestern und kurz vor dem ersten Examen das Studium abbrach, um Rocksängerin zu werden. Das Konzert veränderte Francos Leben radikal. Denn vor ihm, zum Greifen nahe, stand eine wunderbare junge Frau, so unglaublich schön und engelhaft, mit einer derart überwältigenden Ausstrahlung auf ihn, dass Franco zum ersten Mal in seinem Leben Liebe in sich brennen fühlte. Und zwar mit einer derartigen Wucht, als sei er mit seiner Achttausend-Watt-Stereo-Anlage unliebsam in Lichtgeschwindigkeit kollidiert und daraufhin Jahre durch das unermesslich weite All geflippt.
Franco Mignello, der fast alles zu haben schien, was der liebe Gott auf der Erde an Gutem vergeben kann: Intellekt, Musikalität, die Fähigkeit, Abläufe besser koordinieren zu können als die meisten anderen Menschen und ein geniales, kreatives Gedächtnis. Aber trotz alledem war er in seiner tiefsten Seele unglücklich. Denn er war alles andere als ein Adonis. Trotz seiner schönen, klassisch/römisch, edel aussehenden und stattlich gewachsenen, wundervollen Eltern, hatten die Gene bei ihm versagt, was das gute Aussehen anging. Wenn man Böses wollte, könnte man annehmen, dass sich ein grundsätzlicher, genetischer Fehler eingeschlichen hatte: Ein knochiges, kantiges Gesicht mit zu hoher Denkerstirn, die durch einen tiefen senkrechten Einschnitt an der Nasenwurzel quasi in zwei Hälften geteilt wurde. Etwas eingefallene Wangen auf zu hohen Wangenknochen und eine stupsige Nase in dem insgesamt blassen, fast albinohaft anmutenden Gesicht. Wenn nur das Gesicht nicht auch noch Milliarden von Sommersprossen besetzt hätten. Die Nase war knubbelig. Hässlich. Weiß und schief und viel zu breit. Ein eher trauriger Anblick. Der ganze Typ.
Aber seine Augen!
Die strahlten. Immer.
Tiefschwarz und wahnsinnig intensiv leuchtend und jeden Menschen offen und direkt anschauend, ließen sie eine große innere Stärke erkennen. Sein Standardblick war zugleich sehnsuchtsvoll/melancholisch, verhuscht, so dass Menschen, die nur flüchtig auf ihn schauten, das Strahlen, die große innere Kraft des Italieners nicht wahrnehmen konnten. Wenn man oberflächlich und zynisch war, würde man sagen, Franco hatte einen treuen Hundeblick. Doch was ist falsch an einem treuen Hundeblick? Lässt er nicht auch auf Reinheit und Unverdorbenheit des Individuums schließen?
Ebenso melancholisch wirkte der freundliche, aber zu klein geratene Mund. Ein winziges Etwas mit dicken Lippen. Ein lieber Kerl. Vielleicht. Doch zugleich bekam man Mitleid mit dem Menschen, der mit diesem Mund leben musste. Sein Gesicht ließ auf den ersten Blick wenige Schlüsse auf die Person zu, die hinter der hässlichen Fassade steckte. Wenn da nicht die imposante Denkerstirn und die leuchtenden Augen gewesen wären. Ungewöhnlich das rote, struppige und überaus spröde, wilde Haar, das sich gar nicht bändigen ließ und wenig Italienisches an dem Filius offenbarte. Franco trug es lang, zottelig – und eben wild. Die Widerspenstigkeit des roten Krautes verhinderte jedwede Frisur. Das grobe Kraut umgab den kantigen Kopf, wie man es bei einem verkappten Genie erwartete. Die kleinen, feingliedrigen und wohlgeformten, musikalischen Ohren, die wiederum in starkem Kontrast zu dem hageren, blassen Gesicht standen, konnte man durch die Zottelfrisur leider nicht sehen.
GOTT IST RICHTER UND VERZEIHER
UNSERER UNVOLLKOMMENHEIT.
Das stand groß und kraftvoll im Herzen von Francos Mutter geschrieben, denn sie war sich der äußerlichen Mängel ihres Sohnes nur zu genau bewusst. Ahnte, wie er sein Leben lang darunter leiden würde. Auch sie hatte Hazrat Inayat Khan gelesen, seit sie das kleine, blaue Büchlein >The Mysticism Of Sound< – verfasst Anfang des 20. Jahrhunderts – unter Francos Kopfkissen durch Zufall einmal entdeckt hatte. Etwas daraus war ihr besonders im Gedächtnis und ihrem Herzen haften geblieben:
„Die Gestalt des Menschen besteht aus zwei Teilen, wobei jeder seine besonderen Eigenschaften hat. Der Kopf ist der geistige Körper und der untere Teil der materielle Körper. Daher hat der Kopf, verglichen mit dem übrigen Körper, weit größere Bedeutung. Da der Kopf der einzig eindeutig unterscheidbare Teil des Menschen ist, können die Menschen einander am Kopf erkennen. Das Gesicht drückt das Wesen des Menschen aus und seine Lebensumstände, auch spricht es von seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Wenn man bei Franco die scheinbaren Makel des unausgewogenen Gesichtes zu lesen verstand, wusste man, wen man vor sich hatte, auch, wer er einst war, wer er heute ist und welchen Weg dieser besondere Mensch gehen wird. Allerdings verfügen die meisten Menschen nicht über die Gabe, im Gesicht eines anderen lesen zu können. Die Oberflächlichkeit unserer durch die elektronischen Medien geprägten Welt, die uns durch Chirurgenhand geschnitzte – angebliche – Schönheitsideale vorgibt, hat eine natürliche Blickweise und damit letztlich auch die Charaktere der Menschen verformt.
Genormt.
Geblendet.
Verblendet.
Franco Mignello hatte die Figur eines Modellathleten. Kein Gramm Fett. Eine natürliche, kräftige Muskulatur, für einen Mann schön zu nennende, gerade Beine, die in einen ´Knackarsch´ übergingen und breite Schultern. Schultern zum Anlehnen. Aber es fehlten ihm, um sich aufrecht an ihn anlehnen zu können, vielleicht fünfzehn oder mehr Zentimeter. Na ja, eher zwanzig, oder dreißig ... Will heißen, Franco war, den heutigen Durchschnitt des männlichen (Nach)Wuchses betrachtend, ein beträchtliches Stück zu kurz geraten. Vielleicht ein bisschen größer als der kleine große Prince mit seinen Einsfünfzig, aber weit, weit über zwanzig Zentimeter kleiner als seine große Liebe Stella, die optisch wahrlich im krassen Gegensatz zu Franco stand.
Und sein ganzes ´optisches Elend´, wie er es selbst realistisch erkannte, stand ihm ständig im Weg. Schon seit Kindestagen und jetzt erst recht. Jetzt, wo er einer echten Schönheit, einer Göttlichen begegnet war, die er so unsagbar intensiv liebte. Stella! Nach der er sich verzehrte und jeden Tag mehr und mehr in seiner Seele, seinem Herzen, seinem, für alle so unbegreiflichen, ICH verbrannte.
Franco Mignello trug trotz seiner äußerlichen Makel natürlichen Stolz in sich, denn er wusste, wer er war, was er konnte, welche Ausstrahlung von ihm ausging, kam er erst einmal zum Zuge. Die ihn umgebenden Menschen begegneten ihm im Allgemeinen mit großer Freundlichkeit und Hochachtung, nachdem sie nur wenige Sätze mit ihm gewechselt hatten. Denn wie er etwas sagte, hatte ein Charisma, das man nicht beschreiben kann. Das bei wenigen Menschen einfach vorhanden ist. Dann wuchs der unscheinbare, blasse junge Mann mit den großen Augen und dem struppigen roten Haar zu einem Großen heran. Seine Sprache – perfekter Rhythmus und wunderschöne Melodie in einem! Franco vereinte beide Elemente der Musik in fast vollkommenem Maße. Den Ton, die Mutter der Musik. Den Rhythmus, den Vater der Musik. Takt und Ebenmaß, Wohlklang und Harmonie.