Bo sah das Auto im Nebel verschwinden, er winkte und fragte sich dann, was er als nächstes zu tun habe. Beim Verdacht auf Mord oder ähnliches mußte man wohl Kontakt zur Polizei aufnehmen, aber wie verhält man sich, wenn das potentielle Mordopfer schon obduziert worden ist? Er konnte nicht einmal anfangen, daran zu denken, wie er erklären sollte, was passiert war, er hatte nicht mehr genügend Energie, um ein weiteres kleines Problem zu lösen, ganz zu schweigen von einem dieser Größenordnung.
Als er zur Pathologie zurückging, holte ihn auf dem Flur Ann Lilja ein. Sie hielt einen dicken Stapel Papiere in der Hand.
»Bitte sehr. Du wirst das hier wohl brauchen, nehme ich an.« Es war Gösta Perssons Krankenbericht.
»Hattest du Göstas Papiere?«
»Ja sicher, ich habe sie mir vor dem Mittagessen gerade durchgesehen, ich mußte nämlich den Totenschein ausstellen. Einen ganz falschen Totenschein, und ich bin gerade noch davor gerettet worden, den auszuschreiben. Vielen Dank.«
Sie war ausnahmsweise einmal ernst, und Bo fand ihre kurze Oberlippe und ihre füllige Unterlippe noch gemeißelter denn je. »Ich habe mich für deine Hilfe bei der Vorführung zu bedanken. Ich weiß nicht, was ohne dich passiert wäre. Aber wie in aller Welt konntest du dich fürs Mittagessen und dann auch noch für die Vorführung freimachen?«
Wieder lachte Ann: »Reiner Zufall. Ich wollte eigentlich meinen Schreibtisch aufräumen, mir gehen die Papiere bis hierhin«, sie zeigte ein Niveau dicht unter ihrer Nase, »und ich schaff’ sie einfach nie alle, ja, du weißt sicher, wie das ist.«
»Ich habe allerdings noch eine Frage: Weißt du, ob Gösta oder seine Angehörigen etwas gegen eine Obduktion gehabt hätten?«
»Ja oder nein, wie du willst. Ja, ich weiß, und nein, er hatte keine Einwände, sonst hätte er nicht an unserem Versuch teilgenommen.«
»Ann, bist du ganz sicher, daß du kein Engel bist? Oder eine griechische Göttin, die Menschengestalt angenommen hat, um mit uns gewöhnlichen Sterblichen ihre kleinen Scherze zu treiben?«
Wieder ein fast lautloses Lachen, einige Locken, die sich aus den Kämmen befreit hatten, die die Haare aus dem Gesicht hielten, und die das Licht einfingen, als sie den Kopf schüttelte.
»Ich bin ganz sicher, daß ich weder das eine noch das andere bin. Viel Glück mit der Polizei.«
Obwohl ihm ganz flau zumute war, ließ er sich mit der Polizei verbinden und wurde nach und nach zur Gewaltsektion durchgestellt, wo er so gut wie möglich mehreren verschiedenen Personen alles erklärte und jedesmal weitergereicht wurde. Am Ende kam er zu richtigen Stelle, mußte jedoch auf einen Rückruf warten. Nach weiteren sich in die Länge ziehenden Minuten wurde ihm mitgeteilt, daß sofort jemand von der Kriminalpolizei kommen würde. Er dachte kurz nach und bat dann seine Sekretärin, sich auf die Suche nach Bertram Schwieter zu machen, dem Unterarzt, der bei der Vorführung dabeigewesen war.
»Bertram, demnächst kommt jemand von der Polizei, um zu entscheiden, was mit der Leiche geschehen soll. Es hört sich blöd an, aber ich kann heute kein einziges Gespräch mehr durchhalten, ich glaube, ich sterbe, wenn ich jetzt nicht nach Hause fahren und schlafen kann. Du mußt mich vertreten, erzählen, was du weißt. Mehr hätten sie aus mir auch nicht herausholen können. Hier ist der Krankenbericht, den ich noch nicht gelesen habe, nutz deinen gesunden Menschenverstand, wenn du nicht weißt, wie du dich verhalten sollst, ich rede gern übermorgen mit der Polizei oder mit sonst wem, aber jetzt hau’ ich ab, mach’s gut.«
Bo Ekdal nahm ein Taxi nach Hause, zog den Telefonstecker heraus, entkleidete sich und fiel ins Bett. Seine Gedanken kreisten um diesen turbulenten Tag. Immerhin habe ich mich nicht mit der Grippe angesteckt! dachte er vor dem Einschlafen.
Da seine Kinder nicht mehr bei ihm wohnten und seine Frau ihn damals, als die Selbstverwirklichung in Mode kam, verlassen hatte, konnte er die vierzehn Stunden, die er brauchte, um wieder zu Kräften zu kommen, ungestört durchschlafen.
3
Um neun Uhr an diesem Morgen hatte Monika Pedersen, Streifenpolizistin, zwei Stunden geschlafen, als das Telefon sie weckte. Sie zog niemals den Stecker heraus, nicht einmal, wenn sie die Nacht durchgearbeitet hatte, und deshalb erreichte ihr Chef sie, nachdem er vorher erfolglos fünf andere Nummern probiert hatte.
»Hallo, Monika, hier ist Yngve Larsson. Gut, daß du zu Hause bist. Entschuldige die Störung, ich weiß ja, daß du Nachtschicht hattest. Bei der Kripo scheint es noch schlimmer auszusehen als bei uns. Ich habe dem Kommissar versprochen, ihm sofort zwei Leute zur Verstärkung abzustellen. Ich dachte, ich könnte euch schon bis neun Uhr dort haben, aber bis zehn kannst du es doch schaffen, wenn du dich beeilst. Was sagt du?«
»Das geht schon.« Monika hatte nie Probleme mit dem Wachwerden gehabt. »Ich fühle mich ziemlich fit. Wohin soll ich gehen?«
»Melde dich bei Kommissar Ek in der Gewaltsektion und grüß von mir.«
»Mach’ ich.« Sie zögerte einen Moment. »Danke«, fügte sie hinzu.
Ihr Partner im Streifendienst, Mikael Andreen, war drei Wochen zuvor eine Treppe hinuntergestoßen worden und hatte sich dabei das rechte Bein gebrochen. Jetzt steckte er vom Fuß bis zur Hüfte im Gips und würde noch mindestens für zwei Monate krank geschrieben sein. Mit Mikaels Vertretung, einem sturen Värmländer, der sich für einen richtig harten Burschen hielt, hatte Monika große Probleme. Sie hatte sich nicht beklagt, aber es war typisch für Yngve zu bemerken, daß sie nicht zusammenpaßten.
Monika streckte sich wohlig im Bett. Sie hatte immer schon plötzliche Veränderungen gemocht. Sie lachte. Sie freute sich auf die Arbeit bei der Kripo, und noch mehr darüber, ihrem neuen Partner zu entkommen. Sie hatte seine endlosen Vorträge darüber satt, was in der Gesellschaft nicht stimmte und warum nicht, was gemacht werden müßte und wie. Sie hatte es satt, daß er mit offenem Mund Kaugummi kaute. Sie hatte es satt zu sehen, wie er aus dem Auto stieg, als ob er Rambo wäre. Sie hatte es satt, wie er mit und über Frauen sprach. Jetzt würde sie dieses Problem nicht mit Yngve besprechen müssen und statt dessen in Kungsholmen arbeiten, dem Stadtteil, der schon seit ihrer Teenagerzeit mehr als jeder andere ihr Herz und ihre Phantasie gefangen hatte.
Sie verließ das Bett und blieb vor ihrem Kleiderschrank stehen. Der schien überhaupt nichts Brauchbares zu enthalten. Normalerweise arbeitete sie in Uniform. Groß war ihre Garderobe nicht. Schließlich entschied sie sich für eine schwarze Cordhose von schlechter Paßform, aber guter Qualität, eine graue Bluse im Yuppieschnitt (ihre einzige) und eine schwarze Strickjacke. Sie war mit dem Gesamteindruck unzufrieden, fand aber keine bessere Alternative. Nach einer im Stehen getrunkenen Tasse Kaffee warf sie ihre schwarze Lederjacke über und lief durch den dichten Nebel zur U-Bahn-Station.
Es war nicht weit bis dahin, aber sie mußte fast eine halbe Stunde warten, da wegen der Grippewelle mehrere Züge ausfielen. Als die Bahn endlich ankam, waren die Wagen überfüllt, aber Monika konnte sich trotzdem in einen der mittleren zwängen, obwohl niemand den Versuch unternahm, Platz zu schaffen.
Am Fridhemsplan lockerte sich das Gedränge ein wenig, aber sie war erleichtert, beim Rathaus auszusteigen. Sie holte tief Luft, streckte die Arme aus, wie um den freien Raum zurückzuerobern, und lief auf die Rolltreppe zu, die zum Polizeigebäude führte.
Jetzt sah sie verschwommen die vertraute Fassade des Polizeigebäudes, das ein Architekt in der festen Überzeugung entworfen hatte, daß ein Polizeigebäude etwas sei, auf das man stolz ist, das geschmückt und vorgezeigt werden muß.
Die großen Bronzetüren sahen schlichter aus, als sie sie in Erinnerung hatte.
Der Warteraum war voll, und eine Schlägerei lag in der Luft, aber das war nicht ihr Bier, darum sollten sich die Sicherheitskräfte im Sprechzimmer gleich nebenan kümmern. Sie zeigte ihren Dienstausweis und fragte nach Kommissar Ek. Ein Beamter wählte eine Nummer und mußte lange auf Antwort warten. Niemand interessierte sich für den Lärm im Warteraum. Dann nickte er Monika zu:
»Geh