Bo Ekdal wurde es schwindelig. Vielleicht würde er jetzt in Ohnmacht fallen. Das wäre dann immerhin seine Rettung – nicht einmal Hayakawa würde wohl weitermachen, wenn sein Gastgeber bewußtlos auf dem Fußboden lag.
»Der Patient ist gestorben, nachdem er dreimal wegen Blutungen behandelt worden war, erstmals vor achtzehn Monaten mit blutenden Speiseröhrenvarizen, dann ein halbes Jahr später wegen eines blutenden Magengeschwürs und schließlich vor einem Monat.« Eine klare Frauenstimme, die Bo nicht sofort lokalisieren konnte, die sich jedoch als die von Ann Lilja entpuppte. Wundersamerweise schien Gösta auf ihrer Abteilung gelegen zu haben, und Bo fiel Professor Albinssons Kommentar ein: »Die Kleine ist tüchtig, und außerdem hat sie ein photographisches Gedächtnis.«
Hayakawa hatte die Leber gerade in Scheiben geschnitten, zeigte Gefäße und Gallengänge, die überraschend deutlich waren, und sprach über den Grund der Blutungen.
»Da stimmt was nicht, liebe Leute. Um so zu bluten, hätte die Leber in einem viel schlechteren Zustand sein müssen. Schauen Sie her!«
Er hob eine Leberscheibe hoch und ließ ein schmales Messer darüber hinweggleiten. Dahinter zeigte sich das gesunde Lebergewebe rotviolett und fleischig, während die zerstörten Adern eingesunken und starr dazwischen lagen.
»Hier gibt es zwar große Schäden, aber sie sind nicht groß genug, um daran zu verbluten.«
Hayakawa dachte laut nach: »Ob er wohl ein Bluter gewesen sein kann?«
Er blickte Ann Lilja an, die den Kopf schüttelte. Göstas Blut sei nicht in ausreichender Menge vorhanden gewesen, da er so viel geblutet habe, aber das vorhandene Blut sei immerhin bei allen drei Behandlungsrunden normal gewesen.
»Also stehen wir vor einem Mysterium. Der Mann ist verblutet, er hat diffus im Magen-Darm-Kanal geblutet. Das wissen wir immerhin. Er hat auch subkutan geblutet, deshalb die Blutergüsse, er hatte Blutungen in den Muskeln und in den inneren Organen. Aus irgendeinem Grund ist sein Blut nicht geronnen, aber dafür gibt es in seinem Körper keine Erklärung. Die Frage ist, wie das möglich sein kann. Haben wir nicht alle möglichen Erklärungen gesucht, die wir doch ablehnen mußten? Dann müssen wir wohl zu den weniger normalen Ursachen übergehen, die Wirklichkeit liegt ja vor uns, und wenn wir nicht an Voodoo oder andere Formen der Magie glauben, muß sie sich erklären lassen. Was meinen Sie? Was kann passiert sein?«
»Mißlungene Bluttransfusion?« kam ein Vorschlag aus den hinteren Reihen.
Hayakawa schüttelt den Kopf und fragte weiter: »Warum nicht?« Bertram Schwieter wartete, ob irgendein Student antwortete, das müßten sie können, aber nach einigen langen Sekunden antwortete er selber: »Falsche Symptome. Dann hätten sich die roten Blutkörperchen auflösen müssen, was nicht zu dieser Art von Blutungen führt.«
»Außerdem gibt es keine mißlungenen Bluttransfusionen, ich habe in der Blutzentrale gearbeitet, deshalb weiß ich das«, fügte ein bärtiger Student hinzu.
Hayakawa fuhr herum und musterte den Bärtigen.
»Vorsicht! Das ist ein gefährlicher Gedanke. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Einmal habe ich einen Rasenmäher zur Reparatur gebracht, der nicht funktionierte, und der Mechaniker sah ihn sich an und sagte: ›Diesen Fehler kann es bei diesem Gerät nicht geben‹. Er schenkte der Bedienungsanleitung größeren Glauben als seinen eigenen Augen, und davor müssen Sie sich hüten. Sie müssen darauf pfeifen, ob in den Büchern etwas anderes steht. Daß Ihre Blutzentrale unmöglich einen Fehler begehen kann, könnte ich möglicherweise als religiöse These akzeptieren, aber nicht als Wahrheit, die uns bei unserer Arbeit helfen kann. Aber welche weiteren Erklärungen für das Vorgefallene kann es geben?«
»Er hat vielleicht irgend etwas eingenommen, was die Blutgerinnungsfähigkeit herabsetzt?« schlug der Rothaarige vor, der seine normale Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte.
»Ach, und wie soll das möglich gewesen sein?«
»Selbstmord«, wurde in den hinteren Reihen zögernd vorgeschlagen.
Hayakawa zuckte leicht mit den Schultern. »Sie sind alle denkende Menschen, also muß Ihnen auch die Möglichkeit des Selbstmordes eingefallen sein. Aber nun sagen Sie mir, würde irgendwer unter Ihnen ein Mittel benutzen, das erst nach mehreren Tagen wirkt? Ein Mittel, das vielleicht mehrmals eingenommen werden muß?«
Diese rhetorische Frage blieb unbeantwortet.
»Aber ganz unmöglich ist das natürlich nicht. Welche Erklärungen könnten wir uns noch vorstellen?«
Das Publikum blieb stumm.
»Sagen Sie’s schon. Sie denken doch alle dasselbe, das sehe ich Ihnen an. Was meinen Sie?«
Er zeigte auf Bertram Schwieter, der antwortete: »Ein Unglücksfall, also unbeabsichtigte Vergiftung, oder Mord.«
»Genau! Sie sind wirklich phantastisch tüchtig! Da wir uns an die Pathologie halten müssen und keine Gerichtsmedizin betreiben wollen, machen wir hier wohl Schluß, aber ich möchte doch wissen, ob noch Unklarheiten bestehen. Fragen Sie also jetzt, in fünf Minuten ist es zu spät.«
Bo Ekdal hatte das Geld inzwischen schon so oft verschwinden sehen, daß er sich nicht mehr aufregen konnte. Er überlegte, daß er sein Bestes und noch etwas mehr getan hatte, daß das jedoch nicht ausreichte. Ein pathologisches Institut, das seine aus normalen Gründen Verstorbenen nicht von eventuellen Mordopfern unterscheiden kann, flößt kein Vertrauen ein, und noch schlimmer ist es, wenn die Krankenhausärzte nicht einmal bemerken, daß ihre Patienten ermordet werden. Wer würde schon mit einer solchen Klinik zusammenarbeiten wollen? Wer würde unter solchen Umständen dieser Klinik ein Vermögen anvertrauen? Bo wünschte sich abermals und nutzlos, von Anfang an eine andere Strategie gewählt zu haben. Er wünschte, er hätte die Wahrheit gesagt. Er hätte zum Beispiel Hayakawa bitten können, einige Wochen später zu kommen – warum mußte der Besuch ausgerechnet jetzt stattfinden? Warum hatte er nicht zuzugeben gewagt, daß er diese blöde Obduktion im ganzen Trubel vergessen hatte? Hätte Hayakawa das denn nicht verstehen können?
Aber nun war wohl alles vorüber, das Publikum verließ den Saal. Plötzlich stand Hayakawa vor ihm. Bo bereitete sich auf das Schlimmste vor, wurde zu seiner Überraschung jedoch zuerst in den Rücken, dann gegen den Oberarm gestupst.
»Lieber Professor! Ich habe lange nichts so Lustiges mehr erlebt! Magenblutungen bekomme ich jedesmal, und ich weiß das ja auch zu schätzen, aber das hier! Ein möglicher Mord! Was für ein denkwürdiger Tag für mich, und was haben Sie in Ihrem Krankenhaus für außerordentlich kompetente Ärzte! Dieser Besuch war das reinste Vergnügen, sowohl wissenschaftlich als auch sozial. Ich bin sehr, sehr dankbar für alles, was Sie für mich getan haben. Ich werde meinem Aufsichtsrat mitteilen, welchen guten Eindruck ich von Ihrer Tätigkeit gewonnen habe. Aber nun muß ich zurück ins Hotel, dieses Mal bin ich leicht verspätet.«
»Kann ich Sie ins Hotel fahren?« fragte Bo Ekdal unter Aufbringung seiner absolut letzten Kräfte.
»Danke, aber das ist nicht nötig, ein junger Mann von der Botschaft holt mich ab, er fährt mich erst zum Hotel und danach zum Flughafen.«
Bo begleitete Hayakawa zur Limousine, die ihn tatsächlich als langer,