Neben ihm ging Professor Hayakawa, Quell seiner Unruhe und, seit einer halben Stunde, auch Quell eines zaghaften Glaubens an eine akzeptable Zukunft. Sein Institut und die dort betriebene Forschung waren von Professor Hayakawa, dem einzigen Gutachter des National Council of Basic Research, überprüft worden. Hayakawa war kein Japaner, wie oft angenommen wurde, sondern Amerikaner, Kind japanischer Einwanderer. Er war ein weltberühmter Pathologe, und er hatte seine Kollegen dadurch überrascht, daß er eine Professur in Harvard mit einer Stelle als wissenschaftlicher Berater der einflußreichsten (lies: reichsten) Stiftung zur Finanzierung von Forschungsarbeiten vertauscht hatte. Aber schon bald war klargeworden, daß Hayakawa in seiner neuen Position mehr Macht und Einfluß auf die Pathologie und verwandte Gebiete hatte denn als Professor. Da in allen Erdteilen und fast allen Ländern immer weniger Mittel zur Grundlagenforschung bereitgestellt wurden, kam dem Geld der Stiftung entscheidende Bedeutung zu, und Hayakawas Unterstützung wurde zu einer immer notwendigeren Grundbedingung für die Forschungsinstitute. In diesem Jahr war es Bo Ekdal gelungen, das Interesse der Stiftung zu wecken, aber ein Entschluß würde erst fallen, nachdem Hayakawa eine »on-site-inspection« durchgeführt hatte, nachdem er also die Voraussetzungen des Institutes, das Geld richtig einzusetzen, beurteilt hatte.
Bo Ekdal brauchte das Geld. Im letzten Jahr war seine Forschung in eine produktive, spannende und teure Phase eingetreten. Er hatte Personal und Material finanziert, indem er Gelder von anderen Konten des Instituts umgeleitet hatte. Außerdem hatte er, als es nicht mehr zu vermeiden war, auf die Standardstrategie bei Liquiditätsproblemen zurückgegriffen. Er hatte aufgehört, Rechnungen zu bezahlen. Dieses Manöver ermöglichte es, aus dem Teufelskreis der Wissenschaft auszubrechen: ohne Ergebnisse keine Gelder und ohne Gelder keine Ergebnisse. Nun hatte er seine Ergebnisse, und wenn alles gutginge, würde er bald seiner Sekretärin den Stapel von Mahnschreiben mit dem kurzen Bescheid übergeben können: bitte bezahlen. Das Aushilfspersonal, das von all dem nichts ahnte, konnte dann feste Stellungen bekommen, und seine Forschungen konnten sich ungebremst von engen finanziellen Rahmen entfalten. Hayakawas Besuch war seit Monaten systematisch vorbereitet worden. Das Institut war geputzt, Routinehandgriffe waren überprüft worden, jede Laborassistentin hatte lernen müssen, auf englisch zu erklären, was sie tat und warum. Das Personal war eine große Hilfe gewesen, und das Arbeitsklima hatte sich verbessert, was Bo Ekdal für eine in Krisenzeiten typische Erscheinung hielt. Alles war bereit gewesen. Kein Staatsbesuch hätte besser geplant sein können. Doch vier Monate vor dem Besuch war Bo Ekdals engste Mitarbeiterin zu ihrer eigenen und zur Überraschung aller im Alter von 45 Jahren zum erstenmal schwanger geworden. Zwölf Tage vor dem Besuch wurde sie von vorzeitigen Wehen überrascht und mußte nun in der Frauenklinik unter strengster Bettruhe am Tropf hängen.
Zehn Tage vor dem Besuch hatte das neu kombinierte Grippevirus aus der Inneren Mongolei Stockholm und das Västra Krankenhaus erreicht. Viele waren erkrankt. Auch viele Gesunde meldeten sich krank, da das Risiko einer Entdeckung im Moment minimal war. Alles in allem erreichten die Arbeitsausfälle wegen Krankheit Rekordhöhen.
Vier Tage vor dem Besuch waren die Obduktionsassistenten aufgrund eines unbegreiflichen Solidaritätsstreiks, der sich um ein Schiff drehte, das in Göteborg nicht gelöscht werden konnte, aus dem Verkehr gezogen worden.
Zum erstenmal, seit man sich erinnern konnte, fehlte Affe, der Hausmeister, der zum für die Instrumente verantwortlichen ersten Obduktionsassistenten umbenannt worden war. Das führte zu einer leichten Desorientierung im Institut, so, als ob eines der auffälligsten Häuser oder Denkmäler der Stadt plötzlich verschwunden wäre. Im Pathologischen Institut war der Krankheitsausfall nicht besser oder schlimmer als sonst überall. Gut die Hälfte des Personals kam zur Arbeit, und Bo Ekdal hatte einen Krisenplan entworfen, nach dem die Arbeit, die er für die wichtigste hielt, verrichtet wurde; der Rest mußte warten.
Er beschloß, Obduktionen und Vorlesungen einzustellen und sich auf die Untersuchungen von Gewebeproben von Menschen zu beschränken, die noch lebten und denen die Untersuchungsergebnisse deshalb von Nutzen sein könnten. Professor Albinsson aus der Chirurgie, bekannt wegen seines vulkanischen Temperaments, rief an und verlangte, daß seine Forschungspatienten wie üblich obduziert werden sollten – der alte Witz von Operation gelungen, Patient tot, war eine recht realistische Beschreibung des Schicksals vieler seiner Patienten, und er mußte diese Fälle von denen unterscheiden können, wo es hieß: Operation mißlungen, Patient tot. Bo Ekdal hatte erklärt, warum das unmöglich war, der Chirurg hatte zuerst angeboten und dann gedroht, selber zu kommen und zu obduzieren. Bo Ekdal hatte abgelehnt und damit eine Explosion ausgelöst, von der er selber nur den Anfang gehört hatte, da er sofort den Hörer aufgelegt hatte. Augen und Ohrenzeugen hatten beschrieben, wie der Chirurg wie ein Berserker auf seiner Station gewütet hatte; Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, aber einige Topfblumen hatten ihr Leben lassen müssen.
Jetzt war der Besuch Hayakawas jedenfalls schon fast vorbei. Vor ihnen lag noch das Mittagessen, das wohl kaum zum Problem werden konnte. Sie gingen immer noch schweigend durch den Flur. Der Besuch war außerordentlich gut verlaufen, und Hayakawa hatte ihm schon mitgeteilt, daß er Bos Gesuch unterstützen würde. Die Ungewißheit und Unruhe, mit denen Bo so lange gelebt hatte und die in den letzten Wochen so quälende Ausmaße erreicht hatten, fielen schon von ihm ab. Hayakawa unterbrach Bos Grübeleien. »Und wann findet die Vorführung statt? Ich habe wohl erwähnt, daß ich um drei Uhr abgeholt werde?« Bo sah auf seine Uhr, und er hoffte, mit dieser Geste leicht zerstreut zu wirken. Die Uhr zeigte Viertel vor zwölf. »Um eins«, improvisierte er, während die Panik voll zurückkehrte, als ob sie nur auf den richtigen Moment gewartet hätte.
Die Vorführung! In all der Aufregung hatte er die Vorführung vergessen! Hayakawa schloß alle seine Besuche mit einer Vorführungsobduktion ab. Hayakawa, in seinem Auftreten eher Japaner als Amerikaner, durchlebte eine merkwürdige Verwandlung, wenn er vor Publikum stand. Er war so sensibel, eitel und oft auch arrogant wie irgendein Solokünstler oder eine Primadonna. In einigen Fällen hatte er mit Instrumenten, die er für unbrauchbar hielt, um sich geworfen. In einem anderen Fall hatte er auf dem Absatz kehrtgemacht und den Saal verlassen: Die Leiche war ihm nicht mager genug gewesen. In allen Fällen waren die Gelder eingefroren worden, auch wenn der eventuelle Zusammenhang zwischen beidem unklar war.
Hayakawas Vorführungen waren Anlaß verschiedener Spekulationen, Tratschereien und Psychologisierungsversuche, aber in einem Punkt waren sich alle einig: Er war ein glänzender und virtuoser Obduzent und außerdem ein ausgezeichneter Entertainer, was in diesem Fach schon seltener vorkam. Die am häufigsten auftretende Erklärung für den Grund seiner Vorführungen war, daß er ganz einfach beweisen wollte, daß er den Schreibtischjob nicht aufgrund mangelnder Begabung oder unzureichender Fähigkeiten erhalten hatte und daß er noch immer dazugehörte. Andere neigten eher zu der Ansicht, daß er Bewunderung brauchte, Applaus, daß seine Anspruchslosigkeit und sein reserviertes Auftreten mit Augenblicken von Expansivität und Selbstbehauptung abwechselten. Eine dritte Erklärung war, daß es ihm nicht gelungen war, sein japanisches und sein amerikanisches Wesen zu verschmelzen, und er deshalb auf diese Weise zwischen beiden pendelte.
Bo hatte jedenfalls noch nie gehört, daß irgendwer das alles vergessen haben könnte, daß jemand die Möglichkeit verpaßt hätte, diesem mächtigen Mann den Auftritt zu sichern. Ausgerechnet er hatte es vergessen. Um eins, hatte Bo mechanisch gesagt, als ob er einen Schlag abwehren müßte. Um eins. Gab es denn irgendeine Möglichkeit, innerhalb von eineinviertel Stunden eine Obduktion zu arrangieren? Dazu mußte er aber zuerst Hayakawa loswerden.
Sie erreichten die Kantine, die fast die ganze sechste Etage einnahm – man hatte Aussicht in alle Himmelsrichtungen außer nach Süden. Fünf Schlangen zogen sich bis zur Mitte der Kantine hin, zwei führten zum Stammessen, zwei zum leichten Imbiß und eine zur vegetarischen Mahlzeit. Hayakawa ließ sich nicht dadurch stören, daß die Speisekarte auf schwedisch war. Er betrachtete sie und stellte fest: »Sie haben eine vegetarische Alternative – das ist ausgezeichnet. Können wir die nehmen?« Der Mittagsbetrieb war auf seinem Höhepunkt, und Bo glaubte, noch nie ein solches Gedränge erlebt zu haben. Vielleicht war die Schlange am vegetarischen Stand kürzer, aber Bo hatte weder Zeit noch Ruhe, darauf zu achten, daß die schöne Chinesin ihnen Kichererbseneintopf mit Crème fraîche servierte. Bo blickte sich um. Er suchte nach einem passenden