Dünner als Blut - Schweden-Krimi. Åsa Nilsonne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Åsa Nilsonne
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Monika Pedersen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726445107
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bis Bo sein Patientenarmband las: Abraham Roskowski. Eine Obduktion war aus religiösen Gründen unmöglich, wenn Abrahams Bekenntnis das war, was sein Name annehmen ließ.

      Und wenn nun auch die nächste Leiche sich als unbrauchbar erwies? Es war halb eins, also konnten noch immer neue kommen, aber auf diese Möglichkeit wollte Bo sich nicht verlassen. Er trat an den letzten Rolltisch heran, hob die Decke und blieb bestürzt stehen. Dort lag ein schmächtiger Mann von vielleicht fünfzig mit kindlichem Gesicht und schütteren blonden Haaren. Seltsamerweise war er noch vollständig bekleidet. Bo betrachtete mißtrauisch Schlips, Hemd, Jacke, als werde er zum Zeugen eines ungewöhnlich geschmacklosen Scherzes. Er dachte einen Moment lang über mögliche Erklärungen nach. Ob der Mann zu Hause gestorben und in die falsche Institution gebracht worden war? Dann hätte er doch in die Gerichtsmedizin gehört. War er in der Notaufnahme gestorben, ehe sie ihm die Jacke hatten ausziehen können? Auf dem Rolltisch lagen keine Papiere, aber dann sah Bo das Patientenarmband am dünnen Handgelenk des Mannes. Dann hatte wohl trotz allem alles seine Ordnung. Er mußte eingewiesen und vorschriftsmäßig behandelt worden sein, war aber trotzdem gestorben und hier gelandet. Die Kleider konnte Bo sich nicht erklären, aber das spielte keine Rolle. Er überprüfte den Namen: Gösta Persson. Er überlegte einige Sekunden lang, ob es die richtige Leiche sei – er wußte nichts über Göstas Haltung zu einer eventuellen Obduktion, er hatte keine Ahnung, wie Göstas Familie darüber dachte. Göstas Obduktion brach die meisten Regeln, geschriebene wie ungeschriebene, die Bos Leben sonst leiteten, und er wollte sich alles gut überlegen. Das Risiko dieser Handlung war schwer zu berechnen. Bestenfalls würde niemand Fragen stellen. Schlimmstenfalls konnte Bo angezeigt und vor die Ethikkommission geladen werden. Andererseits mußte er davon ausgehen, daß seine wissenschaftliche Karriere beendet war, wenn er von Hayakawa kein Geld bekam. Bo war kein Spieler, er war niemals Risiken eingegangen, schon gar nicht aus Lust am Risiko. Im Gegenteil, er strebte nach Ordnung und Kalkulierbarkeit in seinem Leben, während die Forschung die Rolle des Unvorhersehbaren einnahm. Sie ließ ihn jeden Arbeitstag voller Erwartung angehen. Die Forschung gab ihm das Gefühl der Existenzberechtigung auf diesem bereits überbevölkerten Planeten. Er konnte es sich nicht leisten, die Forschung zu verlieren.

      Mit energischen Schritten schob Bo Göstas Leichnam in den Obduktionssaal, wo Affe sich schon um Beleuchtung, Stühle und – zu Bos Überraschung – auch um eine Videokamera gekümmert hatte, die wie ein großer schwarzer Vogel auf dem Stativ hockte.

      »Woher hast du die denn?« fragte er.

      »So eine haben vor anderthalb Jahren alle Institute bekommen, und seither steht sie bei mir herum – niemand hat sich dafür interessiert, aber jetzt kommt sie doch wie gerufen, oder?«

      »Affe, du bist ein Genie!«

      Auch Affe war ein wenig verwirrt, als er sah, daß Gösta vollständig angezogen war. Für einen Moment glaubte er, Bo habe einen Passanten erschlagen. Dann aber zuckte er mit den Schultern. Wie zwei Verschwörer zogen sie Gösta, dessen Körper etliche Blutergüsse aufwies, aus. Bo hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, darüber konnte Hayakawa sich den Kopf zerbrechen. Sie stopften die Kleider in zwei schmale weiße Plastikbehälter, die sie neben Mantel und Schuhe in das Unterfach des Rolltisches stellten. Dann hoben sie Gösta auf den Obduktionstisch. Bo trat einen Schritt zurück und versuchte, alles mit Hayakawas Augen zu sehen. Er fand alles gediegen und wohl organisiert. Er rief seine Sekretärin an, um sich nach den Studenten zu erkundigen. Sie hatte bei den meisten Stationen Glück gehabt, einige hatten sich geweigert, aber an die zwanzig Studenten würden sich wohl einfinden.

      Zu seiner Überraschung kam Hayakawa ihm im Flur entgegen. »Ich wollte gern etwas früher kommen, um mir die Instrumente anzusehen.«

      Daran hätte er denken müssen. Hayakawa, wie andere Schauspieler, mußte sich natürlich mit der Bühne, den Requisiten und vielleicht sogar mit der Akustik des Raumes vertraut machen. Hayakawa begrüßte Affe, kontrollierte die Aufstellung der Stühle, verschob zwei von ihnen um einige Zentimeter, warf einen raschen, aber eindringlichen Blick auf Gösta und nickte. »Ausgezeichnet.«

      Affe zeigte ihm das Instrumentenbuffet. Hayakawa griff aufs Geratewohl zu einigen Scheren, probierte sie aus und legte sie mit leichtem Nicken zurück. Damit begnügte er sich, offenbar überzeugt davon, daß alles in brauchbarem Zustand war. Affe und Bo wechselten Blicke – Erleichterung, Stolz, Triumph.

      Hayakawa suchte sich rasch die Instrumente zusammen, die er verwenden wollte, und legte sie auf den Instrumententisch. Dann setzte er sich auf einen der hinteren Stühle und schien in eine Form von Meditation zu versinken. Er wollte ganz offenbar nicht gestört werden. Bo ging hinaus. Er wollte versuchen, Gösta Perssons Krankenbericht aufzutreiben.

      Göstas Krankenbericht lag nicht an Ort und Stelle, im Gegensatz zu dem von Abraham Roskowski. Zuoberst lag eine Obduktionsanweisung, was nur bedeuten konnte, daß Abraham und seine Familie mit einer Obduktion einverstanden waren. Verdammt. Bo hatte keine Zeit, sich Vorwürfe zu machen, weil er nicht zuerst nach den Krankenberichten und dann erst nach der Leiche gesucht hatte. Ob er in der letzten Minute noch die Leichen tauschen könnte? Nein, es war zu spät, es war überhaupt zu spät für alles andere, er konnte nur noch nach unten rennen und das Schauspiel beginnen lassen.

      2

      Hayakawa hatte den Saal verlassen, als sich die ersten Zuschauer einfanden, denn die Vorstellung mußte schließlich mit dem Einzug des Hauptdarstellers anfangen, unterstellte Bo. Der fiel auch äußerst professionell aus: Hayakawa blieb kurz in der Türöffnung stehen, so daß sein Publikum ihn bemerken mußte. Er blickte erwartungsvoll in die Runde aus Studenten und jungen Pathologen, die sich im letzten Moment hatten freimachen können. Als der Kontakt hergestellt war, schritt er majestätisch zum Obduktionstisch, legte seine Hand, die in dem dünnen Gummihandschuh hellgrau und künstlich aussah, auf Göstas weißgelben Brustkorb und fragte lächelnd eine Studentin ganz hinten: »Können Sie gut genug sehen?« Sie nickte. Hayakawa zögerte einen Moment, dann fragte er einen großen rothaarigen jungen Mann, der kurz vor der Ohnmacht zu stehen schien: »Und Sie? Sie sollten vielleicht ein wenig näher kommen und sich setzen?«

      Charisma.

      Bo spürte, wie sogar die Studenten, die die Pathologie längst hinter sich gelassen hatten (und die deshalb wirklich in Ohnmacht fallen konnten – man gewöhnt sich in wenigen Wochen an Obduktionen, wird aber ebenso rasch wieder entwöhnt), von der Stimmung ergriffen wurden, die Hayakawa herbeizauberte. Aus dem Augenwinkel sah Bo Ann Lilja hereinkommen, leise und vorsichtig, und Hayakawa begrüßte sie mit einer kleinen, aber ausdrucksvollen Geste. Bo fragte sich, wie sie sich hatte freimachen können, aber diese Überlegung wurde von Hayakawa gestoppt, der zu erzählen begann, wer er sei, was ihn nach Stockholm geführt habe und wie sehr er von Bo Ekdals Arbeit beeindruckt sei. Dann richtete er seinen Blick auf Gösta.

      »Ehe wir anfangen, möchte ich Ihnen die Frage stellen, die fast nur Pathologen korrekt beantworten können. Wie hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit, daß wir zur selben Diagnose kommen wie der behandelnde Arzt des Patienten? Mit anderen Worten, wir erhalten durch die Obduktion das endgültige Ergebnis, aber wieviel wußte man schon vorher? Möchte jemand das schätzen? Oder fragen wir lieber Ihren Professor?«

      Bo sprach gern über seine Arbeit. »An die fünfundsiebzig Prozent. In jedem vierten Fall stellt sich heraus, daß der Patient aufgrund einer fehlerhaften oder unvollständigen Diagnose behandelt worden ist.«

      Hayakawa nickte.

      »Vergessen Sie das nicht, wenn Sie erst eigene Verantwortung tragen. Aber nun wollen wir uns den Mann ansehen, den wir hier vor uns haben. Wir fangen wie üblich mit der äußerlichen Leichenschau an. Wissen Sie, daß es Pathologen gibt, die davon träumen, die äußeren Zeichen so klar deuten zu können, daß sie nicht mehr weitergehen müssen? Manche glauben, daß dem Körper alles von außen anzusehen ist, wenn wir nur die subtilen Veränderungen, die den inneren Krankheitsprozeß widerspiegeln, entdecken und lesen können. Was sehen wir nun hier? Wie weit, glauben Sie, können wir kommen, wenn wir sehr, sehr neugierig sind und sorgfältig und vorsichtig vorgehen bei unserer Untersuchung? Wollen wir es versuchen? Wir beginnen mit seinem Alter, möchte jemand einen Versuch machen?«

      Bo