Dünner als Blut - Schweden-Krimi. Åsa Nilsonne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Åsa Nilsonne
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Monika Pedersen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726445107
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Behandlungsdauer, den Ergebnissen der Laboruntersuchungen. Bo fragte sich abermals, warum er nicht von Anfang an reinen Tisch gemacht hatte. Ein Wissenschaftler muß doch ganz besonders darauf achten, niemals zu lügen, und sei es auch nur ganz indirekt. Das Alter, ja. Das war das einzige, was Bo über Gösta wußte, abgesehen von Namen und Adresse, die auch auf dem Armband standen. So weit würde alles gutgehen, aber was dann?

      Hayakawa diskutierte Göstas Alter mit den Studenten. Er sprach über Falten am Ohr, Zähne, Hautelastizität. »Wir tippen auf achtundvierzig Jahre«, sagte er schließlich und wandte sich Bo zu. Er sah aus wie der Zauberer mit dem Kaninchen aus dem Zylinder, so sicher war er sich seiner Sache.

      Bo lachte resigniert. »Um zwei Tage falsch geraten, Professor, er war bei seinem Tod 47 Jahre, elf Monate und 29 Tage alt.«

      Hayakawa verbeugte sich leicht, und einige Studenten fragten sich, ob ein kurzer Applaus erwartet werde. Hayakawa fuhr fort: »Bei der Betrachtung des Allgemeinzustands ist es wichtig, nicht blind das Augenfälligste anzustarren. Wir sollten uns fragen, wie es ihm wohl gegangen ist, wie er gelebt hat, wie wir seinen Tod mit seinem Leben in Verbindung bringen können.«

      Hayakawa zeigte, führte vor, hob Hautfalten hoch, untersuchte das Innere der Augenlider, klopfte auf die Bauchdecke und sprach währenddessen darüber, daß der Mann vermutlich über einen langen Zeitraum hinweg schlecht gegessen habe, daß er wenig Bewegung hatte, daß seine Hoden etwas kleiner waren als erwartet, daß alles zusammen dem typischen Bild des chronischen Alkoholikers ähnelte.

      »Darüber hinaus gibt es noch etwas, was bemerkenswert und ungewöhnlich ist, und worüber Sie sicher schon kurz nachgedacht haben. Nämlich?«

      »Er hat Blutergüsse«, meinte schließlich eine junge Frau in der ersten Reihe.

      »Richtig. Und ich glaube zu wissen, warum Sie zögern: Sie fragen sich, ob Sie normale Leichenflecken sehen oder ob es sich um Blutergüsse handelt, die er sich vor seinem Tode zugezogen hat. Leichenflecken, wie Sie wissen, beruhen auf der Schwerkraft, sie befinden sich immer an den untersten Körperteilen. In Krankenhäusern werden die Toten immer auf den Rücken gelegt, ich weiß nicht warum, aber ich kann Ihnen versichern, daß das überall auf der Welt der Fall ist. Deshalb finden wir Leichenflecken auf dem Rücken und den Unterseiten von Armen und Beinen. Sehen Sie, hier sind sie. Was passiert übrigens, wenn man eine Leiche mit entwickelten Leichenflecken umdreht?«

      Bertram Schwieter, der junge Aushilfspathologe, der nicht wußte, ob seine Aushilfsstelle verlängert werden würde, ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, auf seinen Professor einen guten Eindruck zu machen, und antwortete: »Wenn es innerhalb von sechs Stunden nach dem Todesfall geschieht, dann wandern die Flecken, sonst bleiben sie, wo sie sind.«

      »Und wann sind sie zuerst zu sehen?«

      »Ungefähr zwei Stunden nach dem Tod.«

      »Ganz recht! Aber um zu unseren Blutergüssen zurückzukehren, denn darum handelt es sich hier ja, so sehen Sie, daß sie durchaus keine Ähnlichkeit mit Leichenflecken haben, was Farbe und Verbreitung angeht. Was ist hier passiert, was sollen wir glauben? Alle Blutergüsse weisen dieselbe Farbe auf, mit Ausnahme eines viel älteren, hier an der linken Wade. Wieso bekommt man überhaupt Blutergüsse? Nun, weil das Blut aus dem Gefäßsystem austritt, und wie geschieht das? Gewalt gegen den Körper, so daß die Gefäße zerreißen, oder irgendein Problem mit dem Blut selber, wodurch geringe Blutungen, die eigentlich von selber aufhören sollten, einfach weiter Blut ins Gewebe entlassen. Woher sollen wir wissen, womit wir es hier zu tun haben? Sehen Sie hier einen Betrunkenen, der stürzt, der gegen Möbel rennt, der vielleicht von jemandem, dem es ebenso elend geht wie ihm selber, einen Schlag in den Magen verpaßt bekommt? Wonach müssen wir jetzt suchen, was meinen Sie?«

      »Nach Hautverletzungen.«

      Der Rothaarige, der geantwortet hatte, durfte nun selber nachsehen. Er beugte sich über Gösta und untersuchte die Haut an zwei Blutergüssen am Rumpf und drei an den Beinen.

      »Die Haut wirkt völlig unverletzt.«

      »Gibt es Grund zu der Annahme, daß er ganz nackt war?«

      »Sicher, ja, die Kleider können seine Haut geschützt haben. Dann sollte ich mir wohl lieber Hände und Gesicht ansehen.«

      »Sicher. Aber wenn wir uns Hände und Gesicht ansehen, dann finden wir keinen Hinweis auf eine Schlägerei, keinen Hinweis darauf, daß er so oft und auf die Weise gefallen ist, die nötig wäre, um die seltsamen Flecken zu ergeben, die seinen ganzen Körper bedecken. Seltsamerweise haben wir sogar einen in der rechten Achselhöhle und mehrere auf der Innenseite des Oberschenkels. Warum ist das so seltsam?«

      Die Frage wurde einer Studentin gestellt, die tief errötete und ihren Blick senkte.

      Hayakawa nickte also ihrem Nachbarn aufmunternd zu, und der antwortete: »Wahrscheinlich, weil man sich durch Stürze oder bei Prügeleien da normalerweise nicht verletzt.«

      Hayakawa schien entzückt zu sein.

      »Exakt. Wenn wir nun nicht annehmen, daß er gefallen ist, können wir uns dann vorstellen, daß er aus anderen Gründen geblutet hat?«

      »Leberversagen«, schlug ein großer, yuppiehafter Student vor. »Natürlich. Seine kleinen Hoden weisen auf eine schlechte Leberfunktion hin. Sie wissen sicher noch, daß die Leber die kleine Menge von weiblichen Sexualhormonen abbaut, die es bei Männern gibt, aber wenn die Leber nicht mehr mitmacht, steigen die Werte im Blut, weswegen die Hoden langsam verschwinden. Die Leber produziert schließlich auch einen Teil der Stoffe, durch die das Blut gerinnt; wenn die Leber nicht funktioniert, dann funktioniert auch das Blut nicht. Und was denken wir nun über die Todesursache? In einem Mundwinkel und, soviel wir sehen können, auch in der Mundhöhle finden wir Reste von eingetrocknetem Blut. Außerdem sind Magenblutungen meine Spezialität, eine Spur, die nun auch nicht zu verachten ist. Wollen wir beschließen, daß wir zu dem Ergebnis gekommen sind, daß der Mann Alkoholiker war, daß er an einer Magenblutung gestorben ist und daß sein Blut nicht richtig geronnen ist, was dann zur Todesursache beigetragen haben muß?«

      Diese Frage brauchte nicht beantwortet zu werden, und Hayakawa fuhr fort: »Jetzt wollen wir sehen, ob wir der Wahrheit näher kommen, wenn wir einen Blick auf sein Inneres werfen.« Er griff zum auserwählten Skalpell, trat dicht an Göstas Körper heran und machte einen langen Schnitt, der unter der rechten Wange ansetzte, sich mit einem kleinen Bogen um den Nabel bis zur Taille fortsetzte und bei den Schamhaaren endete. Es war eine einzige Bewegung, geschmeidig und exakt, ein schöner Anblick.

      »Schauen Sie, schon jetzt sehen wir, daß er nicht nur Blutergüsse hatte, die von außen zu sehen waren, sondern daß auch hier und dort innere Blutungen aufgetreten sind, wenn auch nicht unmittelbar unter den Blutergüssen, was ebenfalls dagegen spricht, daß er in eine Schlägerei verwickelt war«, er blickte augenzwinkernd auf, »aber das wußten wir ja schon, oder?«

      Hayakawa richtete sich auf und schaute auf die Uhr. Halb zwei. »Das geht ja gut. Wonach sollen wir jetzt suchen? Woran sollen wir denken?«

      »Verletzungen der Speiseröhre«, schlugen zwei Studenten gleichzeitig vor.

      »Warum das?« Die beiden wollten gleichzeitig antworten, aber diesmal verstummte die Frau, und ihr Kommilitone sagte: »Bei Leberschädigungen wird der Blutfluß behindert, und eine der Alternativrouten, die das Blut einschlagen kann, geht durch die Gefäße, die außen an der Speiseröhre liegen. Diese Gefäße werden ausgedehnt und überlastet, was zu Brüchen führt, an denen man verbluten kann.«

      Seine Kommilitonen kicherten über seinen Ernst, seine Wortfülle, aber Hayakawa nickte. Er verbreitete sich nun über die verschiedenen Methoden, die Speiseröhre herauszunehmen, wenn man die Gefäße untersuchen wollte. Während er sprach, holte er Göstas Organe aus dem Leichnam, als ob sie lose in der Bauchhöhle gelegen und nur darauf gewartet hätten, herausgenommen zu werden. In zwei Minuten war Hayakawa weiter gekommen, als Bo das normalerweise in einer halben Stunde schaffte. Bisher hatte er noch keine unnötige Bewegung gemacht, er hatte sich in keinem Fall in der Anatomie verirrt, und immer wieder beschrieb er, welche Alternativen er hatte und weshalb er sich für diese hier entschied. Bo ließ sich widerwillig