Flucht nach Mattingley Hall. Nicola Vollkommer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicola Vollkommer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783775175159
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Kamin in den Raum. Ein alter Mann beugte sich hinunter, um frische Kohle auf das Feuer zu legen. Er richtete sich mit einiger Mühe wieder auf, als Mabel die Küche betrat.

      »Und an diese Hexe soll ein Dienstmädchen sich gewöhnen? So ein Unsinn. Ihr Raum ist ein offenes Grab. Eine Leiche liegt darin, nur dass es keine herkömmliche Leiche ist, weil sie lebt, redet, schreit und um sich schlägt! Ohne dich wäre ich schon längst im Irrenhaus gelandet, Jason.«

      Jason wandte sich vom Kamin ab, strich ein paar graue Haarsträhnen aus seiner roten, von Schweiß bedeckten Stirn und schob ein paar weitere hinter die Ohren. Die auflodernden Flammen beleuchteten ein verwittertes Gesicht, dessen Furchen sich zusammenzogen und sich vertieften, als Mabel redete. Er seufzte.

      »So aufgebracht heute, Mabel? Du bist nicht das erste Dienstmädchen, das hier in den Irrsinn getrieben wird. Ich fürchte, auch nicht das letzte. Wenn dein Herz keine stählerne Hülle anlegen kann, dann geh weg, lieber früher als später. Auch wenn es mir sehr leidtun würde. Hatte gehofft, dass junges Blut etwas Leben ins Haus bringt.«

      Als Antwort lachte Mabel verbittert auf, sank in einen Stuhl und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

      »Ach Jason«, stöhnte sie. »Wir halten ein Wesen am Leben, das schon längst unter die Erde gehört.«

      Jason legte voller Mitleid eine Hand auf ihre Schulter.

      »Komm, Mabel, so schlimm ist es nicht!«

      »Doch, es ist sogar noch schlimmer! Hast du gewusst, dass der Penninen Chronicle alle zwei Wochen einen neuen Nachruf für Lady Mattingley druckreif macht? Nur das Datum ändern sie, hat Mrs Womble gemeint. Ich musste sie heute schon wieder überzeugen, dass die alte Dame wirklich noch am Leben ist.«

      »Ach, es steckt mehr Leben in ihr, als man denkt, Mabel. Hier, ein Becher warme Milch für deine Nerven.«

      Er nahm einen Topf vom Feuer, füllte einen Becher und reichte ihn Mabel. Warme Milch war Jasons Antwort auf jede Art von Lebenskummer. Er hatte es von seiner Mutter gelernt, so erzählte er immer.

      »Zum Glück ist Mathilde noch nicht erschienen. Sie war gestern so schlecht bei Laune, dass ich sie schon früh auf ihr Zimmer geschickt habe. Hoffentlich schläft sie heute lange.«

      Mabel wärmte ihre Hände an dem Becher, bevor sie an der Milch nippte.

      »Schon gestern war Lady Harriet geplagter als sonst. Hat um die Wette getadelt, weil ich ihr die hellgrüne und nicht die blaue Bluse gebracht habe. Dann hat sie darüber geklagt, dass niemand glaubt, wie arm sie ist, dann wollte sie unbedingt Nicholas sehen.«

      Jason schmunzelte, als Mabel die kreischende Stimme der alten Herrin verblüffend genau nachahmte.

      »Und mein Sohn. Flüche auf den bösen Kerl. Lies mir etwas vor, Mabel, lies mir etwas vor. Ach, wie konnte ich vergessen, dass Dienstmädchen dämliche Gören sind, die den Unterschied zwischen a und b nicht wissen? Zofen und Butler sollte man haben. Aber die Männer, diese bösen Männer, sie haben mein Leben ruiniert. Warum kommt Nicholas nicht? Mabel, wann war er das letzte Mal da? Das ist sicher Wochen her? Er kommt bald wieder? Du lügst, Mädchen! Raus mit dir, raus mir dir!«

      Jason bückte sich vor Lachen, nahm sich wieder zusammen und wischte seine Augen ab.

      »Am besten entschuldige ich mich gleich für meine Existenz, sobald ich ihren Raum betrete.«

      »Du entschuldigst dich zu viel, Mabel«, sagte Jason, fegte die Überbleibsel des Kohlestaubs vor dem Kamin in eine Schaufel und warf sie auf das Feuer.

      »Hier, lass mich deine Tasse nachfüllen.«

      »Aber ich bin doch ein kluges Mädchen!«, jammerte Mabel beim Schlürfen ihrer Milch. »Ich kann zählen, ich habe von meinem Bruder die Buchstaben gelernt. Meine Mutter meint, ich könnte für eine feine Lady sogar Zofe oder Begleiterin sein, so klug bin ich. Aber Lady Harriet …«

      Sie fing an zu weinen.

      Jason setzte sich ihr gegenüber, reichte ihr ein Taschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte, und schaute sie mit ernstem Blick an.

      »Mabel, ich habe guten Grund hierzubleiben. Ich bin alt, habe nichts mehr zu verlieren. Und ich habe noch Bilder im Kopf, wie Lady Harriet früher war. Eine wunderschöne Frau. Die Sonne ging auf, sobald sie einen Raum betrat. Aber du glaubst es nicht, keine Spur von Eitelkeit hatte die Frau. Sie war einfach schön, weil es ihr nicht wichtig war, schön zu sein. Es sprühte aus ihrem Inneren. Sie spielte Theater im Covent Garden. Jeden Abend.«

      Er schaute mit abwesendem Blick zum Fenster, während er sprach. Plötzlich stand er auf und lief zum Speiseschrank.

      »Aber du hast nichts, was dich hier halten muss, Mabel, außer dass du der einzige vernünftige Mensch bist, der in diesen dunklen Gemächern ein und aus geht, und das weiß ich sehr zu schätzen.« Er holte einen Korb voll Kartoffeln von einem Regal im Schrank. »Wenn ich die Treppe so flink hochrennen könnte wie du, dann würde ich dir die Arbeit abnehmen. Ich kenne sie gut genug, um keine Angst mehr vor ihr zu haben.«

      Mabel trank noch einen Schluck Milch und wischte sich mit einem Taschentuch die Reste vom Mund.

      »Irgendetwas quält die alte Dame. Ich denke, ihr Tod wäre eine Erlösung, findest du nicht?«

      »Sie traut sich nicht zu sterben, Mabel.«

      Das Dienstmädchen schaute Jason mit großen Augen an.

      »Was heißt, sie traut sich nicht?«

      »Es gibt Dinge in ihrem Leben, die sie noch nicht erledigt hat.«

      »Ist es möglich, dass man sich nicht traut zu sterben?«

      »Bei ihr schon.«

      Jason seufzte.

      »Die Frau hat schlimme Schicksalsschläge erlitten. Mattingley Hall war ihre letzte Zuflucht. Deshalb zählt sie die vielen Bediensteten immer auf. Das erinnert sie an den Glanz der Ballsäle Londons.«

      Er nahm ein Tuch und wischte mit abwesendem Blick über die Arbeitsfläche neben dem Herd, bevor er sich noch einmal zu Mabel hin umdrehte.

      »Du bist erst ein paar Wochen hier, Kind. Falls du es hier länger als deine Vorgängerinnen aushältst, dann entdeckst du selber so manches. Lady Mattingley hat ja auch klare Momente, die hin und wieder unverhofft kommen. Vielleicht stößt du auf Geheimnisse, von denen nicht einmal ich etwas weiß.«

      »Eins kenne ich schon. Nicholas. Gibt es ihn wirklich?«

      Jason lachte laut.

      »Lady Harriet hat eine üppige Vorstellungskraft, liebe Mabel, aber Nicholas hat sie nicht erfunden. Irgendwann taucht er auf!«

      »Na, dafür würde es sich lohnen zu bleiben!«

      Jason stand schon in der Tür.

      »Er ist ihr Neffe. Aber jetzt schleppe ich meine müden Füße die Treppe hoch und schaue, ob meine verehrte Herrin sich inzwischen beruhigt hat. Du darfst hier weitermachen.«

      Er drückte Mabel den Putzlappen in die Hand und humpelte zur Treppe.

Ornament

      »Die Pferde wechseln wir erst in Nottingham«, sagte Jasmin. »Sie sind frisch genug, um einen Nachtritt durchzuhalten.«

      Adam schüttelte den Kopf. Er hatte angehalten, um Jasmin nach ihren Wünschen für die weitere Reise zu fragen. Es war sinnlos, Widerstand zu leisten, wenn sie in diesem Befehlston sprach. Außerdem war es ja auch ihm recht, so schnell wie möglich zu reisen. Die Straßen nach Norden waren Durchfahrtsrouten, die durch Ortschaften und Dörfer führten: sicher genug, auch bei Nacht. Es regnete ununterbrochen, seit sie London verlassen hatten. Mit viel Gegenverkehr rechnete Adam nicht. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, als er die Flanken der Pferde abrieb und ihre Hufe nach Kieselsteinen überprüfte. Danach zündete er die Laternen an beiden